Bereits Theodor von Mopsuestia, ein christlicher Bibelkommentator des 5. Jahrhunderts, ordnete Psalm 69 dem makkabäischen Zeitraum zu. So schrieb er in seinem Psalmenkommentar:[1]
„Dieses Lied wurde zur Zeit der Makkabäer in prophetischem Geist verfaßt, und das Gebet paßt zu den Personen und Vorgängen eben dieser Zeit. (…) Das Unrecht gegen dein Haus, heißt es, konnte ich nicht mehr ertragen, in dem das Bild des Jupiter stand und die Juden Opfer darbrachten. Diese Aussage paßt in besonderer Weise zu Mattatias.“
Ferdinand Hitzig vermutete 1853: Dieser historische Hintergrund ist die Entheiligung des Tempels verbunden mit der Zerstörung Jerusalems und dem Anrichten eines Blutbades. Außerdem weise der Psalm Verwandtschaft mit anderen Psalmen aus dieser Zeit auf.[2]
Heute stehen sich in der Exegese zwei Modelle gegenüber:
Der Beter gehörte zu der Gruppe, die sich gegen Widerstände in der Bevölkerung nach dem Exil für den Wiederaufbau des Tempels einsetzte. So vermutete Hans-Joachim Kraus: „Vielleicht ist er einer von den ‚starr Konservativen‘, die noch immer ‚um das Haus Jahwes willen‘ sich kasteien (Sach 7,3) … Man spottet über den einsamen Eiferer und ver. höhnt im rausch den Frommen.“[3]
Nach Erich Zenger und anderen ist der Psalm jünger und spiegelt Konflikte zwischen „hierokratisch-heilspräsentischen“ und „prophetisch-eschatologischen“ Gruppen.[4]
Vers 31–32: Gelöbnis, Danklied bei Erhörung anzustimmen
Vers 33–37: Anstimmen des Dankliedes im Voraus
Thematische Schwerpunkte
Die Feinde bilden einen wichtigen thematischen Schwerpunkt (V. 5, 13, 15, 19–29). Typische Feindesbegriffe insgesamt sind
אֹיֵב (Feind)
צֹרֵר (Bedränger)
שֹׂנֵא (Hasser)
רֹדֵף (Verfolger)
רְשָׁעִים (Frevler)
…
In Ps 69 geht es anfangs zunächst um das Motivfeld des Versinkens. Dann kommen rasch die Feinde ins Spiel. Wassermassen/Schlamm und Feinde sind einander ergänzende Bilder für die Not, in der sich das betende Ich befindet (Vgl. V. 2–5). In den weiteren Abschnitten geht es stärker um die Verknüpfung von Scham/Entehrung und Feinden. Scham/Schande/Spott ist ein klassisches Thema von Klageliedern, besonders des Einzelnen, aber auch des Volks. Die eigene Erniedrigung schlägt in den Wunsch um, dass auch die Feinde beschämt werden (vgl. V. 20ff). Scham entwickelt sich vor allem gegenüber „bedeutenden anderen“ (significant others), also gegenüber anderen, die einem selbst viel bedeuten (vgl. V. 9+13).[6] In V. 10 fallen die Beschämungen Gottes und die des betenden Ich zusammen – Gott und Ich bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft.[7] Verhöhnung ist eine derart tiefgehende Beschämung, dass sie als quasi tödliche Krankheit bezeichnet wird (V. 20f, vgl. auch Ps 42,11), was das Phänomen eines sozialen Todes einfängt. Ähnliche Bewertungen finden sich in der rabbinischen Literatur:[8]
„Jeder, der das Gesicht eines Gefährten vor den Vielen erbleichen lässt, ist, als ob er Blut vergießt […] ich habe es nämlich gesehen, wie die Röte geht und die Blässe kommt“
– Bawa mezia 58,b
Die Verspottung von Menschen trifft letztlich Gott selbst und wird dadurch umso schwerwiegender.
„Wer öffentlich einen Mitmenschen beschimpft, begibt sich des ewigen Lebens: eine öffentliche Beleidigung ist die Entheiligung der Ebenbildlichkeit Gottes, nach der ein jeglicher Mensch geschaffen ist […] Darum ist die Kränkung eines einzelnen Menschen eine Herabwürdigung der ganzen Menschheit.“
Die „Ehre“ (כָבוֹד) als Gegenbegriff zur Scham wird aber im alttestamentlichen nicht kompetitiv erkämpft, sondern ist dem Menschen als Menschen voraussetzungslos in seinem Geschöpf-Sein gegeben (vgl. Ps 8,6) und wäre wohl in diesen Zusammenhängen besser mit „Würde“ wiederzugeben.[10]
Adele Berlin: Psalms and the literature of exile. Psalm 137, 44, 69, and 78. In: Peter W. Flint (Hrsg.): The Book of Psalms: Composition and Reception (= Vetus Testamentum, Supplements. Band 99). Brill, Leiden u. a. 2005, S. 65–86.
Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. In: Evangelische Theologie 72/3 (2012), S. 174–193. (abgerufen über De Gruyter Online)
Alphonso Groenewald: Post-exilic conflict as “possible” historical background to Psalm 69:10ab. In: HTS Teologiese Studies / Theological Studies 61 (2005) S. 131–141; hts.org.za (PDF).
↑Übersetzung siehe: Christina Metzdorf: Die Tempelaktion Jesu: patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich. Mohr Siebeck, Tübingen 2003, S. 91.
↑Ferdinand Hitzig: Die Psalmen historisch-kritisch untersucht. 1853, S. 132 f.
↑Hans-Joachim Kraus: Psalmen. Band 2: Psalmen 60–150 (= Biblischer Kommentar Altes Testament). 5. Auflage. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1978, S. 644.
↑Hier referiert nach: Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 183.
↑Hermann Gunkel: Die Psalmen. 6. Auflage. 1986, S. 295.
↑Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 183.
↑Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 187.
↑Hier referiert nach: Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 189.
↑Hier referiert nach: Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 190, Anm. 85.
↑Alexandra Grund: »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69. 2012, S. 192.