Eine Nationalallegorie ist eine allegorische Figur, die eine Nation und die ihr zugesprochenen Eigenarten verkörpert. So sie in menschlicher Gestalt erscheint, spricht man von einer nationalen Personifikation. Diese Allegorien können unterschiedliche Formen annehmen.
Der Glaube an einen Genius loci als örtlichen Schutzgeist entstammt antiker Tradition; entsprechend verehrten bereits Griechen und Römer lokale Schutzgottheiten neben dem maßgeblichen Pantheon. Weibliche Allegorien als Bildnis für einen Volksstamm beziehungsweise eine Nation sind damit bereits von den Römern überliefert: Auf römischen Münzen, die anlässlich militärischer Erfolge geprägt wurden, erschienen weibliche Personifikationen von Africa, Gallia, Judäa oder Germania in herabwürdigenden Trauerposen, entsprechend beschriftet mit IUDAEA CAPTA oder GERMANIA CAPTA. Die Schutzgöttin der Stadt Rom, Roma, wurde unter Augustus zu einer Identifikationsfigur erhoben. Während der Friedenszeit unter Kaiser Hadrian entstanden hingegen Münzmotive mit den „Schutzgottheiten“ der Reichsprovinzen als Einigkeitssymbolik.
In der mittelalterlichen Kunst gab es vereinzelt Allegorien, die mit regionalen Attributen versehen waren, ähnlich wie dies bei den meisten Heiligendarstellungen der Fall war. In der Renaissance-Kunst kamen weibliche, personifizierte Allegorien wieder verstärkt in Mode, standen nun jedoch nicht mehr im religiösen Sinne für Gottheiten, sondern stellten menschliche oder auch nationale Eigenschaften figürlich dar. Die Darstellungen von Fürstentümern und Reichen als Frauenfiguren dienten in dieser Zeit hauptsächlich als Motiv der Kunst oder zur Herausstellung nationaler Unterschiede.
Ein Nationalgedanke hinter den Schöpfungen wurde jedoch bereits in der Einigkeit stiftenden Figur einer Helvetia in der konfessionell uneinigen Schweiz verfolgt. Im Zuge der Französischen Revolution und der darauf folgenden Koalitionskriege fand der aufkeimende Nationalgedanke in Europa Fuß und Allegorien der Heimat repräsentierten romantisch-patriotische Motive des Vaterlandes. Überall in Europa kamen ab dem Jahr 1800 nationale Personifikationen nach antikisierendem Vorbild auf, um die jeweiligen Landeskinder unter einer visuell fassbaren Identifikationsfigur zu einen; dies auch in Ländern, die nicht in römischer Tradition standen. Im damals nicht geeinten Deutschland entstanden sowohl Personifikationen der deutschen Nation, wie auch Personifikationen der einzelnen Fürstentümer. Auch später und außerhalb von Europa entstanden noch nationale Personifikationen meist als Ausdruck von Patriotismus. Die weiblichen Personifikationen waren in ihrer Ausgestaltung und Ikonographie flexibel, stellten aber häufig eine wehrhafte Jungfrau oder eine Mutter der Nation dar.[1] Ihnen war bei der Erschaffung gemeinsam, dass sie sich nicht auf historische Vorbilder einer Frau als Herrscherin oder Kriegerin bezogen, sondern die zugehörige Nation mit Insignien von dessen Macht ausstaffiert darstellten. Das in Europa verbreitete, bürgerliche Frauenideal um 1800 sah im Gegenteil keine kämpferischen Frauengestalten vor.[2]
Aufgrund des Bilderverbots im Islam ist in der islamischen Welt die allegorische Personifikation der Nation nicht weit verbreitet. Dennoch kam es kurzlebig in der unmittelbaren postkolonialen Phase auch dort zur Übernahme der weiblichen Nationalallegorie aus der „europäischen Ikonographie“, etwa im Falle Algeriens und Ägyptens. Der Versuch einer Verschleierung machte diese Allegorien zu abstrakt und unpersönlich, weshalb diese Idee fallengelassen wurde.[3]
Personifikationen von Eigenschaften der Nation (Freiheit, Fortschritt, Vaterland), dargestellt mit Statuen und Münzen. Vergleichbar mit der brasilianischen Allegorie
Symbol der dänischen Nation, vor allem in der Nationalromantik verwendet, teilweise Bezug zu der Figur der beiden Sønderjyske piger (Südjütländische Mädchen) als Allegorien des südlichen Jütlands
Monumentaldenkmal der Hauptstadt Tiflis; nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurde die Figur angepasst. Zudem ist St. Georg der Schutzheilige des Landes.
altrömisch saturnia tellus; seit dem 16. Jahrhundert in der Kunst dargestellt. Ähnliche Allegorien derselben Epoche stehen romantisierend für damals eigenständige Fürstentümer: Venetia.
historische weibliche Allegorie; weitgehend durch Uncle Sam abgelöst
Stammvater
Neben dem genius loci etablierten sich in verschiedenen Nationen weitere teils legendäre, teils historische Identifikationsfiguren. Dabei wird eine konkrete Figur als Stammvater des Volkes im Sinne einer Herkunftssage verklärt. Anders als bei der weiblichen Nationalallegorie wird eine persönliche Verbindung der Stammes- oder Volksangehörigen zu dem Ahnherren angenommen, in der Regel ein Abstammungsverhältnis. Ferner baut der romantisierende Typus des Stammvaters auf zuvor existierenden Legenden auf und lässt aufgrund spezifischer Symbolik weniger Deutungsspielraum zu. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren etwa die zwei am stärksten verbreiteten Identifikationsahnen des Deutschen Reichs „Barbarossa“ und „Arminius“, letzterer wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend entmystifiziert. Hinzu kamen weitere regionale „Heiligenfiguren“.[1] Diese Figuren sind in der Regel eher als Nationalsymbole oder Nationalhelden zu verstehen (vergleiche auch diese Artikel).
legendenhafter patriarchalischer Urvater der Nation
Typenkarikatur als Allegorie
Allegorische Personifikationen sind nicht nur identitätsstiftend, sondern erlauben auch die bildhafte Darstellung von Handlungen oder Dialogen. Schlafende, kämpfende oder gestikulierende Allegorien finden sich in Zeitungskarikaturen seit dem 18. Jahrhundert. So waren um 1790 folgende Typenkarikaturen in der englischsprachigen Presse populär: John Bull für England (als literarische Figur erschaffen bereits 1712, als Karikatur erst ab etwa 1757 populär), Brother Jonathan für die USA (diffuse Entstehungsgeschichte; populär erst ab etwa 1780), Jacobin für das revolutionäre Frankreich (populär praktisch nur während der Revolutionsjahre), Jack Tar (als Typenkarikatur der Britischen Royal Navy). Diese Figuren waren von ihrem Typ her meist durch frühere, meist anekdotische Erwähnungen, Stereotype oder Volkssagen bekannt, von denen sie auch unvorteilhafte Züge erben konnten, ohne dadurch die Nation herabzuwürdigen – ein großer Gegensatz zu den idealisierten Frauengestalten, welche sie ablösten. Brother Jonathan und John Bull wurden in der zeitgenössischen Presse des 19. Jahrhunderts häufig als gleichrangige Rivalen porträtiert, wobei sie als Stereotype sowohl stellvertretend für ihre jeweilige Nation standen, wie auch für deren Einwohner.[4] Das Stereotypenbild des deutschen Michels wurde innerhalb Deutschlands als Allegorie auf die Deutschen verstanden, nicht jedoch der Regierungen und Fürstentümer, was zu Vergleichen mit John Bull als der Allegorie der Engländer einlud.[5] Die Allegorien entwickelten sich später unterschiedlich weiter: Brother Jonathan wurde im Punch während des amerikanischen Bürgerkriegs populär verschmolzen mit Uncle Sam sowie einem über-idealisierten Abraham Lincoln, was später von immer mehr Karikaturisten übernommen wurde und Jonathan verdrängte. Während Uncle Sam und John Bull etwa aufgrund ihres Auftretens auf Rekrutierungsplakaten in Richtung der personifizierten Regierung rückten, blieb die Figur des deutschen Michels eine Allegorie auf Einwohnerschaft oder Bürgertum und repräsentiert in der Regel nicht die Nation als solche. So wird er bis heute in der politischen Karikatur verwendet.
Je nach politischer Lage und Nationalität des Künstlers können Karikaturen leicht auch unvorteilhaft dargestellt werden, ähnlich den besiegten Allegorien auf römischen Münzen. Künstler und Karikaturisten entscheiden sich häufig auch dazu, anstelle einer teils nur für Eingeweihte erkennbaren, benannten Allegorie zur Personifizierung einer Nation eine nationale Uniform oder Tracht zu wählen, oder aber der Figur bestimmte zusätzliche Attribute beizugeben. Dabei sind die Übergänge fließend. Dem Autor wie dem Leser helfen die erkennbaren Attribute und Stereotype zur Identifikation der personifizierten Nation. Aktuelle Formen der nationalen Personifikation lassen sich auch in Comicform finden, so beispielsweise bei dem Internetmem des Polandballs oder in der japanischen Serie Hetalia: Axis Powers, wo Länder als Personen auftreten.
Die Karikatur erlaubt ferner auch klar rassistische Darstellungen und sogenannte Ethnophaulismen-Figuren, die ausschließlich zur Herabwürdigung einer anderen Nation oder Gruppe dienen. Beispiele hierfür sind oder waren der Wenzel (gegen Tschechen), der Iwan (gegen Russen), aber auch le Boche (gegen Deutsche) oder the Sawney (gegen Schotten). Auch die zunächst nur negativ assoziierten Ethnophaulismen können nachträglich zur Nationalallegorie und/oder einem Identifikationssymbol der eigenen Nation oder eines Teils ihrer Bewohner umgemünzt werden. Der deutsche Michel entstammt einem pejorativen Bauernbild, ebenso wie der dominikanische Conchoprimo zunächst als Stereotyp für die ungeschlachte und ungebildete Landbevölkerung galt. Der südamerikanische Roto, in den Nachbarländern als marginalisierter, verarmter Stadtbewohner verpönt, wurde in Chile zum anonymen Kriegshelden.
Eine weitere Form der Verdichtung einer gesamten Bevölkerung auf eine einzelne Person ist die des Durchschnittskonsumenten: Otto Normalverbraucher und Familie Mustermann sind Beispiele im deutschen Sprachraum, vergleichbar damit sind John Doe in den USA, Doña Juanita in Chile und auch Ola Nordmann in Norwegen.
In die folgende Liste aufgenommen wurden nur unter einem bestimmten Namen bekannte Allegorien auf Nationalitäten, die auch im Selbstbezug verwendet werden.
Anstelle von menschlichen Personifikationen sind auch Tiere als Identifikationsfiguren und -symbole möglich. Dabei handelt es sich sehr häufig um das Wappentier.
Die Weltmächte kämpfen um den toten Drachen China (US-amerikanisch, 1900)
Zentralasien in Gestalt Persiens wird buchstäblich von Russland besetzt (britisch, 1911)
Amerikanischer Adler mit Spannweite von 10.000 Meilen (US-amerikanisch, 1898)
Medaille, Erster Weltkrieg: Adler der Mittelmächte über Tierallegorien der Entente
Einzelnachweise
↑ abGerhard Brunn. Germania und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Zum Zusammenhang von Symbolen und Wir-Gefühl. In: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Symbole der Politik – Politik der Symbole. Opladen 1989. ISBN 3322971945. S. 103–110. Digitalisat
↑Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2015. ISBN 9783839412787. Digitalisat
↑Silja Behre: Israel für Deutsche. Vor 60 Jahren landete Ephraim Kishon seinen ersten Bestseller in der Bundesrepublik. In: Die Zeit vom 18. November 2021, S. 21.