JudensauDie Tiermetapher „Judensau“ bezeichnet ein im Hochmittelalter entstandenes häufiges Bildmotiv der antijudaistischen christlichen Kunst. Es sollte Christen vor angeblich teuflischen Gebräuchen der Juden warnen, diese ausgrenzen, demütigen und verhöhnen und das Judentum verleumden: Dort gilt das Schwein als unrein (hebräisch tame) und unterliegt einem religiösen Nahrungstabu. 48 Reliefs, Skulpturen, Plastiken oder Wandbilder mit diesem Motiv sind seit 1230 vor allem im deutschsprachigen Raum belegt, 43 davon sind noch erhalten. Seit dem 15. Jahrhundert erschien das Motiv auch als aggressive Typenkarikatur in Druckwerken, seit dem 19. Jahrhundert auch als antisemitische Karikatur. Die deutschsprachigen Schimpfworte „Judensau“, „Judenschwein“ und „Saujude“ tauchen seit etwa 1819 auf. Die nationalsozialistische Propaganda griff diese Hetze und Verleumdung auf und bereitete auch damit den Holocaust vor. Öffentlicher Gebrauch solcher Ausdrücke gegen Menschen ist in Deutschland als Beleidigung (§ 185 des Strafgesetzbuchs), in schweren Fällen auch als Volksverhetzung (§ 130) strafbar. Ähnliche Straftatbestände gelten in Österreich mit § 115 StGB und in der Schweiz mit der Rassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB). VorgeschichteBibelDie Hebräische Bibel begründet das Verhältnis von Mensch und Tier mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen: Indem JHWH Adam und Eva nach Gen 1,26 EU zu seinem Ebenbild beruft, ordnet er sie den Mitgeschöpfen über. Tiere und Pflanzen sollen den Menschen zugutekommen. Sie sollen alles Leben bewahren (Gen 2,15 EU), aber nichts Geschaffenes mit Gott verwechseln (Ex 20,4 f. EU). Die Tora verbietet sexuellen Verkehr mit Tieren (Zoophilie) mehrfach strikt und bedroht ihn mit der Todesstrafe (Ex 22,18 EU; Lev 18,23 EU; 20,15f. EU; Dtn 27,21 EU).[1] Sie unterscheidet reine (wiederkäuende) und unreine (nicht wiederkäuende) Tierarten und verbietet das Opfern und den Verzehr der letzteren, darunter des Schweins (Lev 11,7 EU; Dtn 14,8 EU).[2] Ab der frühen Eisenzeit (~850 v. Chr.) ist das Schwein als Nahrungsmittel archäologisch nur im Küstengebiet der Philister, nicht im Siedlungsgebiet der Israeliten belegt. Spätestens nach dem babylonischen Exil (ab 539 v. Chr.) wurde das Toraverbot, Schweine zu opfern und zu verzehren, in Israel durchgesetzt und seine Übertretung scharf verurteilt, etwa in Jes 65,4 EU und Jes 66,3.17 EU. Damit grenzte sich das Judentum von im Hellenismus üblichen Schweineopfern ab.[3] So wurde das Schwein im jüdischen Priestertum zum Symbol unerlaubter Opfer.[4] Das biblische Schweinefleischverbot war Nichtjuden früh bekannt und bot ihnen häufig Anlass zum Spott.[5] Der Seleukidenherrscher Antiochos IV. (175–164 v. Chr.) benutzte es zur Verfolgung der jüdischen Religion: Er befahl den Juden in seinem Herrschaftsbereich, Schweine zu opfern (1 Makk 1,47 EU), und versuchte sie auch zum Essen von Schweinefleisch zu zwingen (2 Makk 6,18–31 EU). Seitdem gehörte der völlige Verzicht auf Schweinefleisch zum unbedingten Bekenntnis eines gläubigen Juden.[6] Darauf beruhen die im Talmud ausgeführten jüdischen Speisegesetze, wonach Schweinefleisch und Schweinemilch zur nicht koscheren Nahrung gehören.[7] Im Urchristentum blieb das Schwein ein Differenzmerkmal von Nichtjuden gegenüber Juden. Jesus von Nazaret lässt nach Mk 5,1–20 EU einen vielköpfigen Dämon namens Legion, der einen Menschen im nichtjüdischen Ort Gerasa beherrscht, in eine Schweineherde fahren, worauf diese sich ins Meer stürzt und ertrinkt. Der Name spielt auf die römische Fremdherrschaft an, weil eine in Gerasa stationierte römische Legion das Schwein als Legionszeichen trug und viele Juden sich damals wünschten, die Römer ins Meer zu treiben.[8] In Mt 7,6 EU warnt Jesus seine Jünger: „Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.“ Gemeint war wohl, die kostbaren Worte der Tora und der Botschaft vom Reich Gottes nicht an nichtjüdische Verfolger von Juden und Urchristen zu verschwenden.[9] In 2 Petr 2,22 EU heißt es: „Auf sie trifft das wahre Sprichwort zu: Der Hund kehrt zurück zu dem, was er erbrochen hat, und: Die gewaschene Sau wälzt sich wieder im Dreck.“ Das Sprichwort paraphrasiert Spr 26,11 EU, greift die im Judentum vorgeformte Paarung von Hunden und Schweinen auf und stellt den Abfall von Judenchristen zu einem habsüchtigen, gesetzlosen Lebensstil der Umwelt als unreines, verderbliches Verhalten dar. Vorausgesetzt ist Jesu Toraauslegung (Mt 5-7) als „Weg der Gerechtigkeit“ (2 Petr 2,20).[10] Auch damalige Rabbiner benutzten das Schwein als kodierten Ausdruck für das gewalttätige Römische Reich, das Juden wie Urchristen gemeinsam verfolgte.[11] Nach der als glaubwürdig eingestuften Chronik des Hieronymus ließ Roms Kaiser Hadrian nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands (132–136) ein Schwein in ein Stadttor Jerusalems meißeln, um den geschlagenen Juden Roms Macht vorzuführen und sie zu Roms Untertanen zu erklären; eventuell auch, um sie am Wiederbetreten der Stadt zu hindern. Der Eber war ein Symbol der Legio X Fretensis, die Jerusalem erobert hatte.[12] Christlicher AntijudaismusSchon einige Kirchenväter beschimpften Juden und Häretiker als solche als „Schweine“. Johannes Chrysostomos übertrug diese Herabsetzung im Jahr 388 in acht Hetzpredigten auf den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge.[13] Er beschrieb Juden als Menschen, „die ihrem Bauch leben, gaffen nach dem, was sie gerade vor Augen haben, nicht besser als Schweine und Ziegenböcke, das Verderben und die Krankheit der ganzen Erde.“[14] Zudem verglich er sie wegen ihrer angeblichen schamlosen Bräuche mit lüsternen Zuchthengsten, Hunden, Hyänen und wilden Raubtieren, die nur töten könnten und die als sanfte Schafe kontrastierten Christen bedrohten. Dabei hielt er fest, dass Juden Menschen geblieben seien, wenn auch der übelsten Art. Andere christliche Autoren verglichen Juden mit Katzen, Eulen und Skorpionen. Dabei ordneten sie den Christen die nach biblischer Kategorie „reinen“, den Juden die „unreinen“ Tierarten zu. Sie lobten ihre Allegorien als der wörtlichen jüdischen Bibelexegese überlegene, da mehrfache („wiederkäuende“) Auslegung.[15] Diese verband Unreinheit mit moralischer und spiritueller Gefahr. Tiervergleiche machten diese Gefahr und die angeblichen moralischen wie intellektuellen Defizite der Juden anschaulich und ließen sich leicht in bildende Kunst übertragen.[16] Die seit dem 2. Jahrhundert üblichen christlichen Bestiarien schrieben Juden in moralisierenden Begleittexten Blindheit, Bilderverehrung und den Christusmord zu. Obwohl das Schwein und Ferkel oft darin vorkamen, wurden diese Tiervergleiche noch nicht auf Juden bezogen.[17] Mit der Übernahme hellenistischer Tugend- und Lasterkataloge bildete die christliche Theologie seit dem 5. Jahrhundert die Reihe der „Sieben Todsünden“ heraus: Die letzten beiden, Völlerei (lateinisch gula) und Wollust (luxuria), wurden oft als Schwein dargestellt, das die Unreinen und die Sünder symbolisiert. Ebenso verkörperten Mönche und Affen die inconstantia (Untreue, Unbeständigkeit).[18] Der Schweinevergleich stand ebenso für eine sündhafte Religionsausübung wie für einen unsauberen, gefräßigen, von Promiskuität geprägten Lebensstil oder unlautere Geschäftspraktiken und sollte einfache Christen mit drastischen Bildern vor analogen Lastern warnen.[19] Hrabanus Maurus bezog das Schwein in seiner bebilderten Enzyklopädie De universo (847) auf Juden und behauptete, sie „vererbten“ ihre gottlose, sündhafte Unmäßigkeit und Unkeuschheit in gleicher Weise. Dazu übersetzte er den Psalmvers Ps 17,14 EU falsch, so dass sich die Aussage ergab: „Du füllst ihren Leib mit deinen verborgenen Gütern, sie sind gesättigt mit Schweinefleisch [statt: ‚auch ihre Söhne werden satt‘] und hinterlassen das, was übrig ist, ihren Kindern.“ Die Juden, so kommentierte Maurus, seien voll unreiner Dinge, die Gott verborgen (verboten) habe, und hinterließen ihre Sünden mit dem Ruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ in Mt 27,25 EU ihren Nachkommen. Auf diese Verknüpfung des Schweins mit Juden, des verbotenen Schweinefleischverzehrs mit einer erblichen Schuld am Tod Jesu kann das spätere „Judensau“-Motiv zurückgehen.[20] De universo war bis 1500 besonders unter Klerikern verbreitet und regte handschriftliche Tierfabeln ebenso wie Skulpturen an.[21] Zwei Reliefs einer Sau mit Ferkeln aus dem 12. Jahrhundert, eins an einem Tor in Remagen und eins an einem Kapitell, vermutlich aus St. Severin (Köln), wurden wohl von Bestiarien angeregt und symbolisieren gula und luxuria, jedoch ohne Bezug auf Juden.[22] Im Hochmittelalter stieg der Katholizismus zur herrschenden Weltanschauung Europas auf. Skulpturen an Kirchengebäuden stellten die siegreiche Ecclesia der unterlegenen Synagoge gegenüber (Ecclesia und Synagoge). Beide Figuren waren meist hoheitsvoll und wohlgestaltet. Während der Kreuzzüge (ab 1096) erhielt die Synagogenfigur auch vulgäre und pornografische Züge, etwa indem sie auf einer Sau gegen die Kirchenfigur reitet, die hoch zu Ross sitzt, oder sich mit der nackten Eva als Symbol von Unzucht, Erbsünde und Tod verbündet.[23] Ab dem 12. Jahrhundert neigten manche christliche Theologen zur Gleichsetzung von Juden mit Tieren. Odo von Tournai erwog nach einer erfolglosen Disputation, ob sein jüdischer Gegner wegen seiner sturen Abwehr des Christentums nicht eher unverständiges Tier als Mensch sei. Petrus Venerabilis bestätigte dies.[24] Im 13. Jahrhundert wurde die frühkirchliche Substitutionstheologie sozialpolitisch zementiert. Das 4. Laterankonzil von 1215 ordnete eine diskriminierende Kleiderordnung für Juden und ihren Ausschluss aus weltlichen Ämtern an. Das markierte sie als „Ungläubige“ und leitete ihre spätere europaweite Ghettoisierung ein. Im selben Zeitraum wurden Juden immer häufiger angeklagt, Ritualmorde und Hostienfrevel zu verüben. Neben solche Anklagen trat ab 1230 das bildhafte „Judensau“-Motiv in und an Kirchengebäuden.[25] Es kam ohne Begleittext aus, beleidigte und verhöhnte Juden direkt, indem es sie mit dem am meisten verachteten Tier, mit Schmutz, Völlerei und Wollust identifizierte.[17] Es trat fast nur in deutschsprachigen Orten im oder benachbart zum damaligen Heiligen Römischen Reich auf.[26] Seit etwa 1380 bezeichneten Christen zwangsgetaufte Juden in Spanien als Marranos („Schweine“), die innerlich Juden geblieben seien. Sie unterstellten ihnen eine unveränderliche Wesensart und schlossen sie mit dem frührassistischen Kriterium der Blutsreinheit (limpieza de sangre) vom gesellschaftlichen Aufstieg aus. Später wurden die spanischen Juden und Judenchristen vertrieben, viele bei Pogromen ermordet.[27] Dabei gelangte das Schimpfwort Marranos auch nach Italien. Es gilt als Äquivalent zum deutschen Wort „Judensau“,[28] das solche Skulpturen vielleicht mit anregte.[29] Jedoch wurden zwangskonvertierte Juden in Europa nicht zum Schweinefleischverzehr genötigt, und kirchliche Quellen werteten das kultische Schweinefleischverbot für Juden nicht ab. Was genau das Judensaumotiv literarisch angeregt hat, ist daher ungeklärt.[30] Die bildhafte Assoziation von Juden mit Schweinen und der „Judeneid“ können sich gegenseitig beeinflusst haben: Laut dem Sachsenspiegel (ab 1220) und dem Schwabenspiegel (ab 1380) mussten Juden, die im Rechtsstreit mit Christen einen Eid leisten wollten, dabei barfuß auf der Schwarte einer Sau stehen. Der Sachsenspiegel verlangte zudem, dass die Sau zwei Wochen zuvor Ferkel geboren hatte.[31] Reliefs, Skulpturen und Wandbilder ab 1230Mittelalterliche Plastiken oder Wandbilder einer „Judensau“ stellen Menschen und Schweine in intimem Kontakt dar. Die menschlichen Figuren zeigen die typischen Kennzeichen der vom Laterankonzil 1215 verordneten Judentracht, etwa einen „Judenhut“. Oft saugen sie wie Ferkel an den Zitzen einer Sau, küssen, lecken oder umarmen Schweine.[32] In anderen Varianten reiten sie verkehrt herum auf einem Schwein, das Gesicht dem Anus zugewandt, aus dem Kot und Urin spritzt.[33] Diese Bilder gelten als früheste Form einer judenfeindlichen Karikatur, die drei sozialpsychologische Hauptzwecke erfüllte:
Das häufige Motiv des Saugens an Zitzen und After einer Sau stellt Juden als Heuchler dar, die ihr eigenes Toraverbot brechen und sich heimlich Milch und Exkremente des Schweins zuführen.[35] Das Bildschema würdigt sie mehrfach herab: Es bezichtigt sie des Brechens von Anstandsregeln und religiösen Tabus, des Begehens der Todsünden Völlerei und Wollust und der intimen Beziehung zu Tieren. Es entmenschlicht sie zu Wesen, die der Verdammnis geweiht seien und nicht respektiert werden könnten.[36] Die dargestellte Intimität zwischen Mensch und Tier wird häufig mit Ausscheidungs- und Verdauungsprozessen verknüpft.[37] Diese Obszönität sollte beim Betrachter Ekel, Schamgefühl, Hass und Verachtung hervorrufen und Juden möglichst wirksam diffamieren,[38] in besonders quälender Form öffentlich verunglimpfen, demütigen und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgrenzen. Die Motive suggerieren dem Betrachter, dass Juden besonders sündige, abstoßende, verkehrte und ausschweifende Dinge tun und mit Schweinen artverwandt seien. Das verneint ihre Menschenwürde, auf die es in der jüdischen Religion gerade ankommt. So untermauerte das Motiv die gesellschaftliche Distanz zur jüdischen Minderheit. Darum sehen Historiker darin einen Vorläufer des späteren Antisemitismus.[39] VorkommenDie genaue Zahl der bildhaften „Judensau“-Darstellungen an Gebäuden ist ungewiss. Mindestens 48 Beispiele in Mitteleuropa sind bekannt.[40] 43 Exemplare sind noch vorhanden, davon 37 an oder in Kirchen, drei an anderen Gebäuden, drei weitere in Museen. Einige sind stark verwittert oder beschädigt; fünf sind zerstört. Weitere sind nur in frühen Quellen erwähnt und nicht mehr auffindbar.[41]
Isaiah Shachar lokalisierte in seiner maßgeblichen Forschungsarbeit 37 „Judensau“-Skulpturen,[93] darunter mindestens fünf nicht oder nicht mehr vorhandene aus unbestätigten gedruckten Quellen:
Die von 1856 bis 1921 kolportierte Angabe einer „Judensau“ im Freisinger Dom wurde 1995 entkräftet.[96] Auch die von Shachar erwähnten Beispiele in Friedberg (Hessen)[97] und Heidingsfeld[98] sind fiktiv. BedeutungswandelAls älteste bekannte „Judensau“ gilt das um 1230 entstandene Relief an einem Säulenkapitell im Domkreuzgang von Brandenburg.[41] Es zeigt ein Mischwesen mit Schweinekörper und Menschenkopf, der laut Isaiah Shachar den 1215 verordneten Judenhut trägt. Diese Version sei später nicht mehr aufgegriffen worden.[99] Joachim Schlenk deutete das Relief dagegen 1987 als Fabelwesen und Sinnbild für christliche Demut. Der Spitzhut sei ein Ritterhelm, kein Judenhut.[51] In das 13. Jahrhundert datierte Shachar auch die Skulpturen in Bad Wimpfen, Eberswalde, Lemgo, Magdeburg und Xanten. Er deutete sie als „moralische Exempelfiguren für alle Sünder“, die noch nicht das Judentum als solches verhöhnen,[100] sondern Christen eindringlich vor dem angeblichen „sündhaften Treiben“ der Juden warnen sollten. Das Schwein symbolisierte im Mittelalter den Teufel.[101] Die Bilder verkündeten dem Betrachter also, dass Juden als Ungläubige dem Teufel verfallen seien und außerhalb der christlichen, ja der menschlichen Gemeinschaft stünden.[102] Der Wasserspeier in Bad Wimpfen gehört zu den ältesten Beispielen und entstand wohl, noch bevor Juden sich vor Ort ansiedelten. Er zeigt eine riesige Sau, an deren rechtem Vorderbein eine Figur mit Judenhut und Vollbart kniet und an einer Zitze saugt. Die rechte Hand hält sie, die linke drängt ein Ferkel fort, das an einer anderen Zitze gegenüber saugt.[103] Das Relief an einem Säulenkapitell im Altarraum der Maria-Magdalenen-Kirche in Eberswalde zeigt eine Sau, die eine Figur mit Judenhut küsst. Es war zum benachbarten damaligen Judenviertel ausgerichtet. Nach dem Vorwurf eines Hostienfrevels kam es in Eberswalde zu einem Judenpogrom.[104] In das 14. Jahrhundert datiert Shachar die Figuren in Colmar, Gnesen, Heiligenstadt, Köln, Metz, Nordhausen, Regensburg und Uppsala. Er bestritt ihre Herkunft aus dem Motiv der Kapitolinischen Wölfin, die Romulus und Remus säugt.[105] Dagegen deutete der Historiker Rudolf Reiser die Regensburger Skulptur 2013 wegen ihres langen Schwanzes als säugende Wölfin.[106] Das Fries im Magdeburger Dom zeigt drei männliche Figuren mit Spitzhüten. Eine kniet neben zwei Ferkeln unter einer Sau und saugt an einer Zitze; die zweite ist dem Hinterteil der Sau zugewandt, das ihre abgebrochene rechte Hand wohl berührte; die dritte hält eine Schriftrolle. Eine der Sau zugewandte Frau hält eine Schüssel mit Eicheln.[107] Zwischen den Beinen der Sau tummeln sich zwei Hunde. Diese Verbindung zweier verachteter Tierarten sollte die Erniedrigung der Juden noch steigern.[108] Die Schnitzerei im Kölner Dom zeigt drei als Juden markierte Figuren: Einer umarmt eine Sau, der zweite saugt kniend an ihren Zitzen, der dritte füttert sie. Eine weitere Holzwange zeigt zwei Judenfiguren, aus deren Trog ein Schwein und mehrere Ferkel herausfallen. Eine führt einen christlichen Knaben an der Hand. Ein „W“ und „Mart“ darüber identifiziert diesen als den angeblich von Juden ermordeten Märtyrer Werner von Oberwesel. Diese seit 1287 bekannte Ritualmordlegende führte im Rheinland oft zu Pogromen an Juden.[109] Das Relief in St. Sebald (Nürnberg) zeigt vier männliche Figuren. Zwei hängen an den Zitzen einer Sau; eine davon trägt den Judenhut. Eine füttert links die Sau, eine fängt ihre Exkremente in einem Topf auf.[110] Die Konsole sollte ursprünglich eine Heiligenfigur tragen.[111] Zwei Reliefs in Böhmen ahmen die etablierten deutschen Versionen nach. In Kolín sieht man drei männliche Figuren mit Judenhut unter einer Sau; einer saugt ihre Zitze, einer hält ihren Schwanz, der dritte füttert sie. Dies symbolisiert die Todsünde der Völlerei. In der zum Bistum Magdeburg gehörigen Stadt wohnten anfangs meist deutschsprachige Christen, keine Juden.[74] Die Figur in Lipnice ist von dämonischen Köpfen an weiteren Säulen umgeben, darunter einem Teufelskopf mit Grimasse, Stoßzähnen und herausgestreckter Zunge. Sie war jedoch hinter dem Altar platziert.[76] Das Relief in Bützow zeigt fünf als Juden markierte Figuren bei einer Muttersau. Eine auf einem Thronstuhl sitzende Figur liest in einem Buch und unterweist die übrigen offenbar im Umgang mit der Sau. Dies diffamiert Tora und Talmud des Judentums. Ein weiteres Relief an der Säule gegenüber zeigt zwei sitzende Affen mit Judenhüten, die einen Spiegel halten und mit der freien Hand auf ihre Köpfe zeigen. Die Komposition ist einmalig.[54] Der südliche Wasserspeier am Münster Colmar zeigt eine riesige Sau mit weit geöffnetem Maul und vier Figuren mit Judenhüten, langem Haar, Bärten und Mänteln, davon zwei, die an den Zitzen der Sau saugen.[112] Das Relief im Erfurter Dom stellt den religiösen Gegensatz als Turnier dar: Die Kirchenfigur reitet auf einem Pferd, die Synagogenfigur auf einem Schwein. Auf dem Relief in Aarschot reitet ein Jude rückwärts auf einem Ziegenbock, der auch ein Teufelssymbol war. Das Bild dämonisierte über bloßen satirischen Spott hinaus das Judentum insgesamt.[44] Das Konsolenrelief in Evora zeigt zwei Figuren mit dem typischen Judenhut. Eine ist als Hund, die andere als Mensch mit Schweinekopf dargestellt, identifiziert also Jude und Schwein. Dieses einzige südeuropäische Beispiel wird vereinzelt mit den mitteleuropäischen Figuren verglichen.[113] Ein im Kloster Heiligenberg bei Bruchhausen-Vilsen gefundenes Stempelsiegel aus dem 13. Jahrhundert zeigt einen Juden mit Spitzhut, der am Hinterteil einer Sau kniet, ein Hinterbein hält und seinen Mund ihrem After zuwendet. Die zugehörige lateinische Umschrift wurde verschieden gedeutet.[114] Wer der Siegelführer war und wozu das diffamierende Siegelbild gewählt wurde, sind ungeklärte Forschungsfragen.[70] Das Wandgemälde in Spalt zeigt einen Juden mit Spitzhut, der unter einer Sau liegt und an einer ihrer Zitzen saugt, während er mit einem Arm ein Vorderbein der Sau hochdrückt. Es war ursprünglich an der Bibliothek des Spalter Chorherrenstifts angebracht. Es wurde bei einer Hausrenovierung 1969 verputzt, konnte aber wieder freigelegt werden.[115] Die Skulptur an St. Nikolai in Zerbst entstand im Kontext einer lokalen Pest-Epidemie von 1448 und Pestpogromen an Judengemeinden.[116] Das „Judensau“-Relief an der Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg entstand um 1290 noch während des Kirchenbaus.[117] Es gehörte wohl zu einem Bildzyklus zur Abwehr von Dämonen und Sünden an der Nordfassade, wurde aber 1570 bei einem Umbau an die Südostecke des Chors versetzt.[118] Dabei wurde die Überschrift Rabini Schem HaMphoras ergänzt, die mit Bezug auf Martin Luthers Schmähschrift Vom Schem Hamphoras (1543) den hebräischen Gottesnamen und das rabbinische Judentum als Schweinerei diffamiert.[119] Das verschärfte den religiösen Gegensatz von Kirche und Synagoge in der frühen Neuzeit zur totalen Verachtung des Judentums.[120] Ab dem 15. Jahrhundert erschienen solche Bilder öfter auch an nichtkirchlichen Bauten. Somit erweiterte sich der Adressatenkreis in das Bürgertum.[121] Als frühestes Beispiel dafür gilt das Relief am Burgtor von Cadolzburg (gebaut ab 1420) unter den Wappen der Hohenzollern.[55] Es zeigt drei Figuren, die eine Sau umgeben: Eine mit Judenhut beugt sich zum Hinterteil der Sau, eine kniet und saugt an einer der Zitzen, die dritte mit Bart steht hinter dem Kopf der Sau und umarmt ihren Hals. Weitere Judenfiguren tanzen um ein Goldenes Kalb.[102] Besonders provokant war das Wandbild am Frankfurter Brückenturm (um 1475): Es zeigte einen Rabbiner, der verkehrt herum auf einer Sau reitet, einen jungen Juden unter dem Bauch an den Zitzen, einen weiteren am After oder der Vulva saugend; hinter der Sau stehend den Teufel und eine auf einem Ziegenbock reitende Jüdin. Darüber war der verstümmelte und gefolterte Simon von Trient als angebliches Opfer eines jüdischen Ritualmords zu sehen. Unter dem Bild stand: „Saug du die Milch, friß du den Dreck, Das ist doch euer best Geschleck.“[122] Die Verknüpfung des „Judensau“-Motivs mit einer Ritualmordlegende sollte eine Pogromstimmung schüren.[64] Beim Fettmilch-Aufstand (1614) wurde dieses Wandbild auch als Glasfenstergemälde an einem Bürgerhaus dargestellt.[123] In den 1690er Jahren ließ der Stadtrat das Wandbild trotz Protesten der Frankfurter Juden erneuern.[124] Es befand sich direkt gegenüber der Frankfurter Judengasse und blieb bis zum Abriss des Brückenturms 1801 eine touristische Attraktion der Stadt.[125] Eine Steingravur an einem Privathaus in Kelheim von 1519 zeigte eine Sau, die als Juden markierte Figuren zum Lesen einer Gebotstafel mit hebräischen Buchstaben bringen. Das verhöhnte den jüdischen Tora-Glauben. Die Inschrift darunter bezog sich auf die damalige Vertreibung der Regensburger Juden. Das Bild wurde vor 1850 auf Klagen von Juden abgenommen, aber 1895 an die Fassade der Stadtapotheke verlegt. Als einziges öffentliches „Judensau“-Bild wurde es 1945 zerstört, auf Befehl eines Offiziers der US Army.[126] Es ist nur noch auf Fotografien dokumentiert.[127] In Posen malte ein Maler im Auftrag des Stadtrats 1618 judenfeindliche Gemälde auf die Rathauswand, darunter einen auf einem Schwein reitenden Juden. Um die Bilder entfernen zu lassen, mussten protestierende Juden den Maler bezahlen. Im Verlauf schlugen und verletzten der Malergehilfe und ein Stadtrufer örtliche Juden, beschädigten ihre Synagoge und plünderten ihre Häuser. Der Vorgang zeigt, wie städtische Autoritäten das inzwischen säkularisierte „Judensau“-Motiv benutzten.[128] Druckerzeugnisse ab 1440GrafikenSeit der Erfindung der Druckpresse (um 1440) findet sich das Motiv vermehrt auf Druckgrafiken und gelangte so mit anderen antijüdischen Stereotypen in die populäre Kunst. Ein zwischen 1450 und 1500 hergestellter und als Einblattdruck vervielfältigter Holzschnitt aus Breisach am Rhein gilt als erste profane Judenkarikatur.[129] Sie zeigt eine riesige Sau, die vier Juden säugt und von drei weiteren umhegt wird. Zwei jüdische Zeugen im Begleittext legen nahe, es gehe dabei um sexuellen Verkehr, nicht um den Verzehr der Sau. Dies unterstellte Juden wie die textlosen älteren Skulpturen einen heimlichen Trieb zum Bruch der Toraverbote. Dagegen deuteten Juden das Schwein dieser Bilder weiterhin als Symbol der gewaltsam herrschenden Macht Roms.[130] Ein Kupferstich von 1475–1480 zeigt abstoßende, mit dem Gelben Ring als Juden markierte Figuren. Der Innenkreis des Rings ist mit einer Sau ausgefüllt. Sie schneiden ein nacktes Kind mit Messern und fangen sein Blut auf. Der italienische Untertitel verweist auf Simon von Trient. Das Bild verband das „Judensau“-Motiv erstmals mit der Ritualmordlegende und beeinflusste das etwas später entstandene Frankfurter Wandbild.[131] Der Prager Künstler Matouš illustrierte von 1490 bis 1495 ein Graduale und ein Hymnenbuch für Utraquisten in Kutná Hora mit farbigen Kalligrafien, die „Judensau“-Motive aufgreifen: Ein Mann mit blauem Hut reitet rückwärts auf einer Sau und hält ihren Schwanz fest in der linken Hand. Ein Mann mit Hut reitet im Turnierkampf eine Ziege, sein Gegner einen Eber oder eine Sau. Zwei Männer, einer mit blauem Hut, küsst das Hinterteil einer Ziege, der andere den After eines Schweins. Schon eine Bible moralisée von 1220 enthielt ein Bild eines Juden, der den Hintern einer Ziege küsst. Diese Motive beeinflussten auch deutsche Schandbilder: So zeigte die Anklageschrift gegen Dietrich von Klitzing (1550) eine Figur, die rückwärts auf einem Schwein reitet und den Mund auf dessen Anus presst.[132] Das Motiv des „Sauritts“ ist mit der „Judensau“ verwandt und taucht vermehrt in Schelt- und Schmähbriefen der frühen Neuzeit auf. Deren Schandbilder zeigen Adressaten, die rückwärts auf einer Sau oder einem Esel reiten und ihr Siegel auf deren Hinterteil drücken. So prangerten sie etwa säumige Schuldner als ehrlos und vertragsbrüchig an und entwerteten ihre Insignien.[133] Bei mehreren abgebildeten Figuren machen sich einige oft am Hintern der Sau zu schaffen, schieben Geld in ihren After oder verehren ihre Exkremente.[134] Ein bis 1517 illustriertes Graduale für Utraquisten in Litoměřice zeigt im Folio zu Pfingsten biblische Szenen vom Toraempfang des Mose und Opfer des Elija. Das Rahmenwerk stellt blonde nackte Babys eines Menschenpaars einer Sau mit vielen dunkelbraunen Ferkeln gegenüber. Unter ihnen streckt ein Baby seine Hände zum Bauch der Sau und saugt an ihren Zitzen. Dies kontrastiert Christen als fruchtbare Erben des Alten Testaments mit Juden, die sich vom Schwein nähren würden und zu Ferkeln geworden seien. Das Bild spiegelte und verstärkte lokale Konflikte zwischen Utraquisten und der jüdischen Gemeinde. Diese wurde 1541 bei einem Pogrom vernichtet; 1546 wurde Juden die erneute Niederlassung am Ort verboten.[135] Eins der 30 Holzreliefs, die Zacharias von Neuhaus von 1550 bis 1561 für den Goldenen Saal im Schloss Telč schnitzen ließ, zeigt einen bärtigen Mann im schwarzen Mantel mit dem gelben Ring. Er reitet eine fliegende Sau, hält ihren Schwanz fest in der linken, einen zerbrochenen Krug in der rechten Hand. Die deutsche Inschrift dazu („Veitl, ein Jude, ein Prüfer von Edelsteinen. Hier reitet er auf einer Sau. Er ist 60 Jahre alt.“) meint eine konkrete Person, eventuell den jüdischen Händler Feytl in Telč. Der zerbrochene Krug stellt ihn als Betrüger dar. Nach Feytls Tod 1561 mussten seine Söhne das Vaterhaus an den Schlossherrn verkaufen. Ob das Relief einen Privatkonflikt oder Judenhass ausdrückt, ist unklar.[84] Viele frühe Holzschnitte griffen das Frankfurter Wandbild auf und verschärften es. So zeigte ein Flugblatt von 1563 unter dem Titel „Der Juden Messias“ eine von zwei Teufeln begleitete Prozession von 14 Personen mit dem Gelben Ring, die die „Judensau“ zur Hölle tragen. 13 der Figuren sind mit Namen und verunglimpfenden Reimen markiert.[136] Ab dem 16. Jahrhundert übertrugen Grafiken die assoziative Verbindung von Juden, Sau und Teufel auch auf Körpermerkmale und statteten die menschlichen Figuren etwa mit Schweinsohren, Bocksfüßen und Hörnern aus. Ein antijüdisches Pamphlet von 1571 etwa zeigt auf dem Deckblatt Judenfiguren mit dem Gelben Fleck, Teufelskrallen, Klauen- und Krähenfüßen und Schweinsgesichtern mit Hörnern und Geweihen. Eine davon, ein Gaukler mit Dudelsack, reitet auf einer Sau, die ihre Exkremente frisst.[137] Auch auf „Judenspottmedaillen“ taucht das Motiv ab der Reformationszeit öfter auf.[138] LiteraturDas Fastnachtsspiel von Hans Folz Ein spil von dem herzogen von Burgland (Werktitel: Der Juden Messias) aus dem 15. Jahrhundert zeigt die Aufnahme des Motivs in der deutschsprachigen Literatur. In diesem Bühnenstück wird der jüdische Messias szenisch als Antichrist entlarvt und am Schluss als Strafe für die Juden vorgeschlagen:
Die Szene bildet den dramatischen Höhepunkt des Spiels und gilt wegen ihrer Tabubrüche und Drastik als „eine der weitestgehenden antijüdischen Darstellungen in der volkssprachlichen Literatur des deutschen Mittelalters überhaupt“. Im Bild der „Judensau“ fasste Folz die dämonisch inspirierte „Verstocktheit“ der Juden, die aus damaliger christlicher Sicht die neue Heilsnahrung verweigern und stattdessen Exkremente und Erbrochenes, also im historischen und endzeitlichen Sinn Verdautes verzehren. Folz kannte die theologischen Stereotypen über Juden gut und transportierte sie in eine für sein Laienpublikum verständliche derb-komische, fäkal-obszöne Sprache. Diese bahnte das spätere antisemitische Schimpfwort „Saujude“ an.[140] Besonders wirksam war Luthers Schmähschrift Vom Schem Hamphoras von 1543. Darin benutzte er das Wittenberger Relief, um den Talmud, die Bibelauslegung der Rabbiner und den jüdischen Glauben insgesamt als schmutzige Lächerlichkeit zu verhöhnen.[141] Luthers Deutung regte zahlreiche Traktate über die „Judensau“-Skulpturen an.[142] Ab 1700 wurden die besonders populären „Judensau“-Darstellungen von Wittenberg und Frankfurt oft für antijüdische Zwecke in Büchern abgebildet und beschrieben. Dabei hat der Teufel meist eine als jüdisch angesehene Gestalt und trägt auch den Gelben Ring. Johann Jacob Schudt beschrieb das Frankfurter Bild 1714 in einem seiner antisemitischen Pamphlete: „…unter diesem Schwein liegt ein junger Jud / der die Zitzen saugt / hinter der Sau liegt ein alter Jud auf den Knien / und läst die Sau den Urin und anders aus dem Affter ihm ins Maul laufen.“ Achim von Arnim beschrieb dasselbe Bild in seiner Tischrede über die Kennzeichen des Judenthums (1811) so: „Auf einem Mutterschwein, das einen jungen Juden säugt, sitzt rücklings ein Rabbiner… ein anderer Jude horcht darunter hinein nach Prophezeiung, während die Jüdin sich an den Hörnern des Sündenbocks hält und von ihm zum Teufel geführt wird“. Arnim behauptete, die besten Maler Frankfurts hätten das Bild „durch zwey Jahrhunderte… immer neu aufgefrischt“, weil es „so allgemeynen Beifall“ gefunden habe. Er schlug vor, das Bild zur „Belustigung der Zwischenakte“ auf die Vorhänge des Berliner Schauspielhauses zu übertragen, um so jüdische Käufer der besten Logen dort zu demütigen. Johann Wolfgang von Goethe erwähnte jenes „große Spott- und Schandgemälde“ in seiner Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1808–1838).[143] Antisemitische Rezeption1800 bis 1933Die medial breit ausgefächerte antijüdische Propaganda im 19. Jahrhundert setzte eine etablierte, durch die älteren Bildzeugnisse verfestigte Assoziation von Juden mit Schweinen voraus. Das Schimpfwort „Judensau“ wurde in Volksliedern und Kinderreimen weitergetragen. Das Schimpfwort „Saujude“ wurde mit dem Hetzruf „Hep Hep“ durch die Hep-Hep-Krawalle von 1819 populär und auch mit Flugblättern und Spielkarten verbreitet.[145] Es erschien ab 1861 mit vielen anderen antisemitischen Ausdrücken in der Wiener Kirchenzeitung. Prominente christliche Theologen bezichtigten Juden mit diesem Vokabular der revolutionären Erhebungen 1848 und forderten eine endgültige Lösung der „Judenfrage“.[146] Das Schimpfwort wurde in Druckwerken der Folgezeit auch für Pogromaufrufe benutzt.[147] 1852 veröffentlichte Alexander Schöppner in seinem „Sagenbuch der bayerischen Lande“ eine satirische Erzählung: Nachdem der Stadtrat von Heidingsfeld den örtlichen Juden das Anbringen des Stadtwappens an ihrer Synagoge verboten habe, hätten sie sich beim Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim darüber beklagt. Darauf habe er ihnen befohlen, sein Wappen, das zwei Säue enthielt, an ihrer Synagoge anzubringen. Der Rabbiner habe das befohlene Wappen für koscher erklären müssen; seither äßen die Heidingsfelder Juden gern Schweinefleisch.[98] Die fiktive Erzählung verdeutlicht die regionale Verachtung der Juden.[148] Während der gesetzlichen Judenemanzipation (1870–1890) im Deutschen Kaiserreich nahm die Tradition antisemitischer Karikaturen einen Aufschwung.[149] Damalige politische Karikaturen verspotteten die Herrschenden, um über Machtverhältnisse aufzuklären und eine subversive Distanz in der Bevölkerung zu fördern. Dagegen richteten sich antisemitische Karikaturen gegen eine unterlegene Minderheit, die dem Betrachter als verabscheuungswürdig ausgeliefert und als Sündenbock angeboten wurde, etwa für die Wirtschaftskrise 1877.[150] Damit wurden aktuelle Ereignisse aufgegriffen und in Form einer „personalen Typenkarikatur“ auf eine angeblich typische, dauerhafte Charaktereigenschaft aller Juden zugespitzt, die auf Ursachen in der jüdischen Kultur, Religion und einer angeblichen „Rasse“ verweisen sollte.[151] Ab 1880 entstanden vielfältige antisemitische Alltagsobjekte, die unter anderem das etablierte „Judensau“-Motiv abwandelten: etwa eine Postkarte, die drei als stereotype „Kaftan-Juden“ gekleidete Schweine mit Schläfenlocken im Gespräch auf einer Parkbank zeigt; eine Keramikspardose in Form eines „jüdischen Kapitalistenschweins“; eine Messing- oder Bronzeschale mit dem Relief eines Schweins, das sich einen Juden einverleibt, dessen Kopf ihm aus dem Hintern schaut; eine Porzellanfigur eines jüdischen Hausierers, der hinter einem Schwein sitzt und sich an dessen Ohren festhält; eine Tuschezeichnung eines Juden, der ein Trüffelschwein an der Leine führt und Schriftstücke von Verteidigern des Alfred Dreyfus in der Dreyfusaffäre (1894–1899) in der Manteltasche trägt.[152] Im und nach dem Ersten Weltkrieg zeigten antisemitische Postkarten mit dem Titel „Levys Werdegang“ einen Juden, der auf einem Schwein reitend einem anderen Juden einen prall gefüllten Geldbeutel übergibt.[41] Das typisierte Juden als angebliche „Kriegsgewinnler“, Profiteure des Krieges und der Kriegsniederlage.[153] Seit der Gründung der Weimarer Republik 1919 infolge der Novemberrevolution von 1918 beschimpften deutsche Rechtsradikale demokratische Politiker öffentlich als „Novemberverbrecher“ und als „Judensau“. So hetzte ein deutschnationales Stammtischlied von etwa 1920 gegen den damaligen Außenminister:
1922 wurde Rathenau gemäß diesem Aufruf auf offener Straße erschossen.[155] NationalsozialismusSeit 1919 aktivierten die Nationalsozialisten die mittelalterlichen antijudaistischen Stereotype, die das „Judensau“-Motiv mit Ritualmordlegenden, Motiven von Juden als „Blutsaugern“ und dem „Satan“ verbunden hatten, gezielt für ihre Propaganda. Damit bedrohten sie deutsche Juden schon in der Weimarer Zeit. So beschimpften und schlugen NS-Angehörige den Kaufmann Siegmund Fraenkel im Juni 1923 in einer Münchner Straßenbahn mit den Worten „Du Ostjude, du Saujude“ und verletzten ihn dabei so schwer, dass er zwei Jahre später an den Folgen starb.[156] Das 1923 gegründete NSDAP-Hetzblatt Der Stürmer übernahm und steigerte die Tradition antisemitischer Karikaturen zu Zerrbildern von Juden mit schiefen Zähnen, Tierklauen, triefenden Mundwinkeln und gierigem Blick, die Scharen junger blonder Mädchen verführten und „vergifteten“: Das verband religiöse mit pornografischen und rassistischen Motiven und bezog sie auf die „Rassenschande“ und das „Aussaugen“ der „arischen Rasse“.[157] Oft verwendete der Stürmer in Titeln und Karikaturen das Bild vom „Judensaustall“, den es auszumisten gelte.[158] In einer Stürmer-Karikatur vom April 1934 symbolisiert das Motiv die angebliche Medienmacht der Juden: Die mit einer Mistgabel durchbohrte Sau trägt die Aufschrift „Juden-Literatur-Verlage“, die Bildunterzeile lautet: „Wenn die Sau tot ist müssen auch die Ferkel verderben.“ Als am Tropf der Verlage hängende „Ferkel“ sind Albert Einstein, Magnus Hirschfeld, Alfred Kerr, Thomas Mann, Erich Maria Remarque und andere dargestellt.[159] Diese Hetzpropaganda bereitete die Judenverfolgung der NS-Zeit vor, die mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 einsetzte und vom „Judenboykott“ (1. April 1933) an ständig gesteigert wurde.[160] In Cadolzburg etwa führten Lehrer ihre Schulklassen ab 1933 oft zur dortigen „Judensau“. 1934 veröffentlichte ein NSDAP-Ratsherr ein antisemitisches Spottgedicht über das Relief, und der Gemeinderat ließ eine höhnische Texttafel am Bahnhof aufstellen: „Den Besuchern Cadolzburgs, insbesondere Israeliten wird empfohlen, das Steinbild am äußeren Schloßeingang (sogen. Judensau) zu besichtigen. Es sollen sich deshalb Juden in Cadolzburg von jeher nicht aufgehalten haben.“[102] Die „Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes“ von 1935 verboten Ehen und Sexualkontakte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen streng. Der „Rassenschande“ beschuldigte jüdische Männer wurden öffentlich gedemütigt, indem man ihnen Schilder umhängte, auf denen etwa stand: „Ich nehme, ich Judensau [,] immer nur deutsche Mädchen mit aufs Zimmer.“ Nichtjüdische Frauen wurden als „Judenhure“ gedemütigt und mussten Schilder mit der Aufschrift tragen: „Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein.“[161][160] SA-Männer misshandelten und quälten den Nichtjuden Carl von Ossietzky 1936 im KZ Sonnenburg wochenlang unter Rufen wie „Jude“, „Judensau“ und „Sau“. Er starb 1938 auch an den Folgen dieser Folter.[162] Im Verlauf der Novemberpogrome 1938 beschimpften und bedrohten nichtjüdische Deutsche ihre jüdischen Nachbarn und Mitbürger oft als „Judensau“ und beteiligten sich an Zerstörungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen durch die SA.[163] Nach Zeugnissen von Überlebenden verübten manche SS-Aufseher nationalsozialistischer Konzentrationslager sadistische Rituale: Sie zwangen jüdische Häftlinge etwa dazu, sich zu entkleiden und von einem Baum herab zu rufen: „Ich bin eine dreckige Judensau!“[164] In NS-Prozessen bezeugten Schoa-Überlebende, dass KZ-Aufseher sie monatelang Misshandlungen und Todesdrohungen ausgesetzt und dabei oft auf das Übelste als „Judensau“, „Judenhure“ oder „Drecksjud“ beschimpft hatten.[165] Laut Zeugenaussagen im Auschwitzprozess lieferte eine Täterin eine Jüdin dem Vernichtungslager Auschwitz mit den Worten aus: „Diese Judensau (oder Judenhure) hat lang genug Rassenschande getrieben, sie soll verrecken.“[166] Edgar Kupfer-Koberwitz, überlebender Häftling des KZ Dachau und Autor der Dachauer Tagebücher, beschrieb die sadistische und traumatisierende Folter der KZ-Aufseher, die einen Häftling beim Hofappell als „Saujud“ und „Judensau“ anbrüllten und stundenlang quälten, und die eigene Ohnmacht im hilflosen Versuch, dem Gequälten beizustehen, in seinem Gedicht „Erinnerung“.[167] FortwirkenBeschimpfungenKarena Niehoff, eine „Halbjüdin“, war 1950 Hauptzeugin im Prozess gegen Veit Harlan, den Regisseur des NS-Propagandafilms Jud Süß von 1940. Sie belastete ihn mit der Aussage, er habe den Drehbuchentwurf eigenhändig antisemitisch verschärft. Das Publikum beschimpfte und bedrohte sie daraufhin als „Judensau“, so dass sie Polizeischutz brauchte und der Prozess nichtöffentlich fortgesetzt werden musste. Dies und der Freispruch für Harlan wurden weltweit beachtet und vielfach als Zeichen mangelnder Vergangenheitsbewältigung in der Nachkriegszeit in Deutschland bewertet, so dass der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer den Vorfall öffentlich bedauerte.[168] Die Ausdrücke „Judensau“, „Saujude(n)“, „Judenschwein(e)“ oder „Schweinejude(n)“ gehören bis heute zum antisemitischen Vokabular, das auf die jahrhundertelange „Judensau“-Tradition zurückgeht.[169] Es sind nach deutschem Strafrecht eindeutig strafbare Beleidigungen.[170] Anders als Fremdenfeindlichkeit entmenschlichen und bedrohen sie Personen in antisemitischer Tradition gezielt als Angehörige eines Kollektivs. Sie sind fester Bestandteil der verbreiteten Schändung jüdischer Friedhöfe.[39] Seit 1989 nahmen solche Straftaten in Deutschland zu; einige wurden öffentlich stärker beachtet. So wurde das gemeinsame Grab von Bertolt Brecht und Helene Weigel, die jüdischer Herkunft war, kurz nach Öffnung der Berliner Mauer mit der Parole „Sau-Jude“ beschmiert. Am 20. April 1992, dem Jahrestag des „Führergeburtstags“, und am 20. Juli 1992 warfen Neonazis Schweineköpfe vor die Synagoge in Erfurt. Auf dem beim zweiten Mal beigefügten Zettel stand: „Dieses Schwein Galinski ist endlich tot. Noch mehr Juden müssen es sein.“ Heinz Galinski, der frühere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, war am Vortag gestorben.[171] Im Oktober 1993 wurde das Mahnmal zu deportierten Juden in Berlin-Grunewald mit Schweineköpfen geschändet.[172] Im Oktober 1998, als Martin Walser mit Ignatz Bubis um die angebliche „Moralkeule Auschwitz“ debattierte, trieben Neonazis ein Ferkel mit einem aufgemalten Davidstern und dem Namen von Ignatz Bubis über den Alexanderplatz in Berlin.[173] Am 22. November 1999 forderte Meir Mendelssohn, der das Grab von Bubis in Israel mit Farbe übergossen hatte, das Publikum bei einem Theaterabend der Volksbühne Berlin auf, „… das Wort Judensau zu sagen, ganz normal und ganz natürlich.“ Er wurde wegen Volksverhetzung angezeigt.[174] Rechtsradikale Fußballstadienbesucher beschimpfen und bedrohen als jüdisch angesehene Fußballer und Schiedsrichter in Deutschland seit Jahrzehnten mit solchen Ausdrücken.[175] 2006 beschloss der Verband Makkabi Deutschland, Spiele deutschjüdischer Vereine bei solchen Vorfällen künftig abzubrechen und vor Sport- und Strafgerichte zu bringen.[176] 2009 nahm der DFB „Beleidigungen (§ 185 StGB) aus rassistischen bzw. fremdenfeindlichen Motiven“ als Grund für unbefristete Stadionverbote in seine Richtlinien auf.[177] Die Beschimpfung „Judensau“ fällt unter die Diskriminierungsverbote des DFB, die Ausbilder, Schieds- und Strafrichter durchsetzen sollen.[178] Antisemitische Beschimpfungen in deutschen Stadien werden jedoch statistisch kaum erfasst und besonders auf Vereinsebene nur selten verfolgt.[179] Im Juni 2006 beschimpfte der Schweizer Neonazi Pascal Lüthard einen Restaurantgast, dessen jüdische Identität ihm bekannt war, als „Judensau“ und wurde dafür gemäß der Schweizer Rassismus-Strafnorm rechtsgültig bestraft.[180] Manche antisemitisch eingestellten Muslime beschimpfen Juden als „Affen und Schweine“. Sie berufen sich dazu auf drei Suren des Koran (2,65; 5,60; 7,166), nach denen Allah frevelnde Menschen, im Kontext Juden und Christen, in Affen und/oder Schweine verwandelt haben soll.[181] Die Suren werden ähnlich wie prophetische Bibelstellen als zeitbedingte Vorwürfe an die Mehrheit der Juden gedeutet, nicht gottesfürchtig zu sein. Die Akademie für islamische Untersuchungen der al-Azhar-Universität beschloss 2003, diese Stellen nicht mehr gegen heutige Juden zu verwenden.[182] Der Historiker Julius H. Schoeps zählt auch die antisemitische Demonstrationsparole „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf' allein“ zur Nachwirkung des christlichen „Judensau“-Motivs.[183] Ab November 2022 nahm antisemitische und rassistische Hetze, darunter das Schimpfwort „Judensau“, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter sprunghaft zu. Zuvor hatte der Milliardär Elon Musk das Unternehmen gekauft und viele Mitarbeiter entlassen, die für die Moderation der Tweets nach internen und externen Regeln verantwortlich waren.[184] GewalttatenImmer wieder verüben Neonazis zusammen mit dem verbalen Angriff „Judensau“ körperliche Gewalt gegen Menschen, mitunter tödliche: so 1993 in Marl gegen einen Obdachlosen.[185] 2010 beschimpfte eine Neonazigruppe in Laucha einen Israeli und Enkel eines Holocaustüberlebenden als „Judensau“ und verletzte ihn schwer.[186] 2007 beschimpfte ein 23-jähriger Muslim einen Rabbiner in Frankfurt am Main als „Scheißjuden“ und „Judensau“ und stach ihn dann nieder.[187] 2015 schrien „Adolf-Hitler-Hooligans“ (Selbstbezeichnung) den Inhaber des koscheren Schalom-Restaurants in Chemnitz an: „Hau ab aus Deutschland, du Judensau“. Dabei warfen sie Böller, Steine, Flaschen und ein Stahlrohr hinein.[188] Antisemitische SymbolikDer Rockmusiker Roger Waters ließ in jeder Bühnenshow seiner Tournee „The Wall“ (2010–2013) einen Ballon in Gestalt eines Schweins aufsteigen, bemalt unter anderem mit dem Davidstern. Auf Kritik erklärte er, das Schwein symbolisiere „das Böse“ und der Stern legitime Kritik am Staat Israel. Doch es wurde als Rückgriff auf die bekannte Symbolik der „Judensau“ und daher als antisemitisch eingestuft.[189] Bei der documenta fifteen 2022 in Kassel zeigte das indonesische Künstlerkollektiv „Taring Padi“ ein detailreiches Wandgemälde, darauf ein Soldat mit Schweinsgesicht und Davidstern, der einen Helm mit der Aufschrift „Mossad“ trägt, und einen orthodox gekleideten Juden mit Schläfenlocken, spitzen Zähnen und SS-Runen auf der Kopfbedeckung. Diese Symbole wurden als eindeutig antisemitisch kritisiert und mit der „Judensau“ verglichen.[190] Auch der Umgang mit dem Bild, es hängenzulassen und zu verhüllen, ohne über Judenhass aufzuklären, wurde mit dem Umgang mancher Kirchen mit der „Judensau“ verglichen.[191] Umgang mit den SkulpturenDer Umgang mit den historischen „Judensau“-Darstellungen ist in Deutschland seit den 1980er Jahren umstritten. 1990 empfahl die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ihren Gemeinden:
Ab 2002 stießen die Aktionskünstler Wolfram P. Kastner und Günter Wangerin mit Protestaktionen eine bundesweite Debatte zum Umgang mit den Skulpturen an. Sie forderten, sie analog zum Hakenkreuz aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, sonst würden sie Antisemitismus weiterverbreiten. Unerlässlich seien zumindest klare Distanzierungstexte. Diese fehlten bis dahin fast überall.[193] Denkmalpfleger, Historiker, Juristen und manche Kirchenvertreter wollen die Skulpturen als Zeitzeugnisse im damaligen architektonischen Kontext erhalten. Der Denkmalpfleger Achim Hubel lehnte auch Hinweistafeln dazu ab.[194] Der Kunsthistoriker Arnold Bartetzky bezeichnete Vorstöße zur Abnahme polemisch als „Tyrannei der Beleidigten.“[195] Für den Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann würde die Entfernung die Provokation zur ständigen Auseinandersetzung mit Antisemitismus beseitigen.[196] Der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert klare Distanzierungen. Sein Präsident Josef Schuster wollte Kirchengemeinden ab 2017 vor die Wahl stellen, die Skulpturen zu entfernen oder eindeutige Erklärtafeln anzubringen. Der Vizepräsident Salomon Korn plädierte für „Aufklärung vor Beseitigung“. Im Originalkontext an Kirchen könne man mehr über diesen historischen Antisemitismus lernen als im Museum. Man dürfe die Kirchen nicht aus ihrer Verantwortung für ihre Geschichte entlassen und den im Christentum angelegten Antijudaismus nicht unsichtbar machen.[197] Dieser Argumentation folgten auch Vertreter der EKD, so bis 2018 deren Kulturbeauftragter Johann Hinrich Claussen.[198] KölnIm Jahr 2002 stellte sich Wolfram Kastner mit einem Schild, auf dem „Judensau im Kölner Dom“ stand, vor das Gebäude und informierte Besucher über das Schnitzwerk am dortigen Chorgestühl. Die Melanchthon-Akademie Köln hatte ihn eingeladen. Ihr Leiter Marten Marquardt forderte, alle „Judensau“-Bilder in Deutschland mit einer Tafel oder schriftlichem Material zu erklären.[199] Die „Judensau“ sei ein „Modellfall für die Produktion von Gewaltbildern in unseren Köpfen“.[200] Die Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner lehnte eine distanzierende Hinweistafel und die Thematisierung des kirchlichen Judenhasses als „absurd“ ab, weil das Chorgestühl auch judenfreundliche Schnitzereien enthalte. Sie verwies auf eine benachbarte Steinplatte zum „Judenprivileg“ von 1266, das die Kölner Juden dem besonderen Schutz des Erzbischofs unterstellt hatte.[201] Darauf verweist auch ein vom Kunsthistoriker Marc Steinmann verfasster Text im Domkatalog.[202] Das Schutzprivileg mussten damalige Kölner Juden jedoch teuer erkaufen. Es schützte sie nicht vor Pogromen, etwa in der Pestepidemie 1348/49.[203] 2006 richtete die Dombauverwaltung eine Fachtagung zu den judenfeindlichen Kunstwerken im Kölner Dom aus und veröffentlichte 2008 die Beiträge dazu.[199] 2017 lehnte Dombaumeister Peter Füssenich Erklärtafeln zum Wasserspeier am Dom ab, bejahte aber Führungen und Texte im Domblatt dazu.[204] Das Domblatt von 2008 hatte die „Judensau“ behandelt; 2018 zum Jahrestag der Novemberpogrome 1938 veröffentlichte der Dombauverein eine Neuauflage davon.[205] Die 2017 gegründete Arbeitsgruppe „Der Dom und ‚die Juden‘“ veröffentlichte 2021 einen thematischen Rundgang zu jenen Kunstwerken, der seit 2023 auch im Internet abrufbar ist. Zudem bietet das Domforum Führungen dazu an.[199] Im August 2023 startete die Domverwaltung einen internationalen Wettbewerb für ein neues Kunstwerk zum heutigen christlich-jüdischen Verhältnis.[199] Es soll ein Gegenentwurf zu den judenfeindlichen Darstellungen im Dom sein. Im Dezember 2023 wurden 15 Künstler aus dem In- und Ausland dazu ausgewählt. Im Herbst 2024 soll der Siegerentwurf mit allen anderen Entwürfen öffentlich vorgestellt werden.[206] NürnbergAm 15. September 2005, dem 70. Jahrestag der Nürnberger Gesetze, beschloss der Kirchenvorstand von St. Sebald in Nürnberg eine Erklärung:
Die Erklärung wurde in einem Faltblatt für Kirchenbesucher abgedruckt, aber nicht als Tafel an der Außenmauer angebracht.[204] Das Faltblatt informiert über alle judenfeindlichen Bilder in und an dieser Kirche und deren historischen Kontext.[207] Den Mitautor des Faltblatts Axel Töllner beauftragte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern später für den dortigen christlich-jüdischen Dialog. Er verwies 2020 auf weitere judenfeindliche Darstellungen in und an Nürnberger Kirchen. Eine Entfernung der Sebalder „Judensau“ lehnte er ab, da diese zu mehr als 1500 Jahren Kirchengeschichte gehöre und vor Ort am ehesten Anlass dazu gebe, sich immer neu mit Antisemitismus auseinanderzusetzen.[208] 2024 betonte Töllner, der richtige Umgang mit den diffamierenden Skulpturen lasse sich nicht endgültig festlegen. Auch das Sebalder Faltblatt solle die Debatte nicht beenden. Die „über Jahrhunderte eingeübten antisemitischen Denk- und Sprechformen kann man nicht in wenigen Jahren völlig ablegen - das ist eine Jahrhundertaufgabe.“ Man müsse immer wieder neu erklären, „warum auch und gerade aus theologischer Sicht eine antijüdische Haltung für Christenmenschen nicht tragbar ist“.[209] RegensburgDas Bistum Regensburg lehnte eine Hinweistafel am Regensburger Dom zunächst ab. Im Mai 2004 hinderte Polizei die Aktionskünstler Wolfram Kastner und Günter Wangerin daran, mit Wasserfarbe „Judensau“ auf das Pflaster vor dem Dom zu schreiben. Danach verlangten auch die israelitischen Kultusgemeinden in Bayern ein Hinweisschild zum Relief am Dom.[210] Am 30. März 2005 stellte der Freistaat Bayern als Eigentümer des Regensburger Doms folgenden Tafeltext vor:
Historiker kritisierten diesen Text als die Geschichte glättend, verharmlosend und belanglos.[212] Am 11. Mai 2005 hängten Kastner und Wangerin einen Gegenentwurf an die Domwand, der die christliche Mitschuld benannte. Ihre Tafel wurde am selben Tag entfernt.[213] 2014 entfernten Unbekannte die umstrittene offizielle Texttafel.[214] Im Februar 2019, zum 500. Jahrestag der Vertreibung der Regensburger Juden, eröffnete das städtische Kulturreferat die Ausstellung Regensburg – Mittelalterliche Metropole der Juden. Für den gleichnamigen Katalog hatte die Historikerin Eva Haverkamp-Rott die „Judensau“-Skulptur eingeordnet:
Stattdessen stand in der Druckvorlage der Tafeltext von 2005. Die Historikerin protestierte: Kulturreferent Klemens Unger habe den Text gegen ihren Willen gestrichen, dadurch die Skulptur verharmlost und das ganze Kapitel zur mittelalterlichen Judenverfolgung verfälscht. Daraufhin erschien der Katalog im Juli 2019, sechs Wochen nach dem Ende der Ausstellung, ganz ohne die Passage zur „Judensau“. Dies kritisierten Katalogautoren und Medienberichte als unerlaubten und sinnverändernden Eingriff:
Im Januar 2022 einigte sich das Bistum Regensburg mit der jüdischen Gemeinde und dem Freistaat Bayern auf einen von Eva Haverkamp-Rott verfassten neuen Text für eine Hinweistafel, der auch Vorlage für andere Orte sein sollte:
Im Januar 2023 wurde der Text in deutscher und englischer Sprache außen am Regensburger Dom angebracht. Weitere Informationen sind über einen QR-Code auf der Tafel im Internet abrufbar.[218] WittenbergNach interner Diskussion ab 1983 ließ der Gemeinderat der Stadtkirche 1988 eine Gedenkplatte unter dem Relief in den Boden einlassen, die auf den Holocaust als Folge dieses christlichen Judenhasses verweist.[219] Neue Forderungen ab 2016, das Relief abzunehmen und in ein Museum oder an einen neuen Gedenkort bei der Stadtkirche zu bringen, lehnte der Gemeinderat mehrfach ab.[220] Nach zwei Gerichtsinstanzen wies im Juli 2022 auch der Bundesgerichtshof (BGH) eine Zivilklage von 2018 zur Abnahme zurück, weil die Gedenktexte das Schandmal in ein Mahnmal verwandelt hätten.[221] Im August 2024 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Annahme einer Verfassungsbeschwerde dagegen ab.[222] Der Prozess verstärkte die Debatte zum Umgang mit solchen Skulpturen. Im Verlauf mehrten sich die Stimmen in der EKD, die eine Abnahme des Wittenberger Exemplars befürworteten.[119][223] Bis April 2023 ergänzte der Gemeinderat die Gedenk- und Aufklärungstexte zum Relief und stellte eine Bitte um Vergebung an „Gott und das jüdische Volk“ ins Zentrum.[224] Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, forderte ab April 2023, der Stadtkirche wegen der beibehaltenen Skulptur den Titel des UNESCO-Welterbes zu entziehen.[225] ZerbstIn Zerbst wurde Anfang 2022 eine Erklärtafel unter der Skulptur aufgehängt.[226] Die Kirchengemeinde, ein Förderverein und die Evangelische Landeskirche Anhalts planten ein Gegendenkmal und erhielten dazu bis März 2022 zehn künstlerische Entwürfe.[116] Ausgewählt wurde eine als Lesepult wie in einer Synagoge gestaltete Stele des Bildhauers Hans-Joachim Prager.[227] Ihre Stirnseite zitiert oben Art. 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“), unten den Bibelvers Gen 1,27 EU („Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“). Alle vier Seiten führen die Namen der NS-Opfer unter Zerbster Jüdinnen und Juden auf.[228] Bei der Enthüllung des Gegendenkmals am 1. Juni 2023 benannte Landeskirchenpräsident Joachim Liebig den Antisemitismus als jahrhundertelange Schuld des Christentums und bat alle dessen Opfer um Vergebung, „wohlwissend, dass das Leid damit nicht geschmälert wird“. Für den Bildhauer soll die Stele einen Toleranz-Diskurs fördern.[229] AndereIn Bacharach erhielt der Wasserspeier der Wernerkapelle bis 2006 eine Informationstafel.[230] Nach Kritik von Wolfram Kastner ließ das zuständige Bistum Mainz 2013 eine Informationstafel an der Kirche in Bad Wimpfen aufstellen[48] und beschloss 2020 eine erweiterte Hinweistafel zum Wasserspeier.[231] In Basel übergab der Gemeindepfarrer des Münsters eine Replika des zerstörten Originals 1996 dem Jüdischen Museum der Schweiz.[232] In Bayreuth forderte Pfarrer Klaus Rettig seit 2000 die Entfernung der stark verwitterten „Judensau“-Skulptur. Der Kirchenvorstand der Stadtkirche lehnte ab und beschloss stattdessen im Oktober 2004 eine Gedenktafel. Eine Woche danach zerschlugen Unbekannte die Skulptur.[233] Die Tafel wurde 2005 angebracht. Ihr Text lautet:
Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle, Kirchen- und Staatsvertreter und der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern vereinbarten im Dezember 2020, die rund 12 antijüdischen Plastiken an Kirchen hängen zu lassen, sie aber „sichtbar und gut erkennbar“ vor Ort einzuordnen.[235] Im Brandenburger Dom bezeichnet eine Informationstafel die dortige „Judensau“ seit 2014 als „diffamierende Darstellung“. Ab November 2021 forderte der Politikwissenschaftler Michael Gray, Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Berlin, die Plastik eindeutig als Ausdruck des tradierten christlichen Judenhasses zu erklären und den Umgang damit kritisch zu erörtern. Der Domkurator Cord-Georg Hasselmann begrüßte den Vorstoß und räumte ein, dass die Erklärtafel unzureichend sei.[236] Im Frühjahr 2023 berief der Gemeinderat eine Expertengruppe zum Umgang mit der Plastik.[237] Gemäß deren Vorschlag beschloss der Rat am 14. Mai 2023, die Plastik hängen zu lassen, doch fortan zu verhüllen. Laut Bischof Christian Stäblein ließ sie sich wegen des Materials und der Säulenstatik nicht abnehmen.[238] Zudem sei sie Teil eines Bildprogramms, das die Abnahme zerreißen und unkenntlich machen würde. Der Kreuzgang, ursprünglich Teil der nichtöffentlichen Klosteranlage, sei heute Teil des Dommuseums. Die Verhüllung solle also nichts verdrängen, sondern Distanz und Aufklärung für Interessierte ermöglichen.[239] In Bützow gab die Gemeinde aus Anlass einer Kirchenrenovierung ein Faltblatt zu den dortigen Reliefs heraus, in dem es heißt:
Auf das „Judensau“-Relief in Cadolzburg machten Wolfram Kastner und Günter Wangerin im Juli 2003 mit einer Plakataktion aufmerksam und forderten eine klare Distanzierung der Stadt, die das Burgtor damals aufwändig renovieren ließ.[240] Im Januar 2004 ließ Bayerns damaliger Finanzminister Kurt Faltlhauser eine Informationstafel bei dem Relief anbringen.[241] In Calbe wurden 2019/2020 vierzehn historische Wasserspeier der St.-Stephani-Kirche mit Landesmitteln restauriert, darunter die „Judensau“. Der Gemeinderat wollte sie danach nicht wieder anbringen,[242] musste dies jedoch auf Anordnung der Denkmalbehörde in Calbe vom Juni 2020 tun. Daraufhin ließ er die Abnahme juristisch prüfen und die Skulptur vorläufig verhüllen.[243] Diese zeigt unter anderem das stereotypisierte Gesicht eines „Ostjuden“[56] und entstand daher wahrscheinlich erst um 1900.[244] 2007 verwies die Jüdische Gemeinde Berlin auf die „Judensau“ in Eberswalde.[245] 2010 entkräftete der Historiker Karl Grözinger Versuche, deren Entstehung aus der Hebräischen Bibel zu erklären.[246] Bis 2017 fehlte eine Hinweistafel beim Relief,[197] doch die Kirchengemeinde legte ein Informationsblatt dazu aus und klärte bei Führungen darüber auf.[104] Das Bistum Erfurt ließ im Mai 2024 die Holzstele „Ekklesia und Synagoge“ des Bildhauers Heiko Börner im Dom aufstellen. Das Kunstwerk stellt die enge Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum dar, auch im Kontrast zur „Judensau“ im Chorgestühl.[247] Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Heilsbronn erwähnt die dortige Skulptur als eine „für die klösterliche Tradition schändliche Eigentümlichkeit“ und fragt: „Wie konnten die Mönche so etwas zulassen, die im täglichen Gebet mindestens dreimal den Lobpreis von Gottes Volk Israel sangen?“[248] Eine Gemeindebroschüre deutet die Skulpturen als „Mahnmal gegen die Diffamierung jüdischer Religion durch die christliche Kirche“ und Aufforderung zum „Dialog zwischen den Menschen verschiedener Kulturen“.[249] 2022 zeigte das Münster Heilsbronn die Wanderausstellung des Jüdischen Museums Köln zu „1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland“ mit Bezug auf die „Judensau“.[250] Im Magdeburger Dom ordnet ein Gedenkweg die judenfeindlichen Skulpturen kritisch ein, etwa mit dem Bodenplattentext: „Verschmähte Schwester Synagoge, vergib unsere todbringende Blindheit, ohne Ende gilt Gottes Verheißung dir wie uns.“ Das für Besucher unzugängliche „Judensau“-Relief wird in Domführungen einbezogen und seit 2016 auf einer Tafel kommentiert.[108] In Spalt deutet seit 2010 eine Tafel das Relief mit Bezug auf den „Gottesmord“, ohne es zu datieren und die Deutung zu erläutern.[82] LiteraturZu mittelalterlichen Darstellungen
Zu antisemitischen Karikaturen
Zum aktuellen Umgang mit den Skulpturen
WeblinksCommons: Judensau – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Judensau – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Einzelbelege
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