HostienfrevelAls Hostienfrevel oder Hostienschändung bezeichnete die römisch-katholische Kirche zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert den angeblichen Missbrauch von konsekrierten Hostien. Den Beschuldigten, meist Juden, manchmal auch der Hexerei bezichtigte Personen, wurde unterstellt, sich geweihte Hostien beschafft und diese zerschnitten oder anderweitig geschändet zu haben, um die Marter der Kreuzigung Jesu zum Hohn nachzuvollziehen. Entsprechend stereotyp formulierte Vorwürfe führten zu Prozessen mit vorbestimmtem Ausgang. Die Beschuldigten wurden nach einem durch peinliche Befragung erpressten Geständnis meist zur Hinrichtung verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Infolge derartiger Hostienschänderprozesse wurden oft alle ansässigen Juden enteignet und aus Städten und ganzen Regionen vertrieben. Hinter dem Vorwurf eines solchen Hostienfrevels stand Antijudaismus. Die Legenden eines im Judentum angelegten, zwanghaften und antichristlichen jüdischen Hostienfrevels standen wie die zuvor aufgekommenen Ritualmordlegenden im Zusammenhang mit dem antijudaistischen Gottesmordvorwurf, der sich seit dem 2. Jahrhundert im Christentum verbreitet hatte. Nach der 1215 dogmatisierten Lehre von der Transsubstantiation wandeln sich bei der Heiligen Messe die eucharistischen Gestalten von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi. Daher gilt die Verunehrung oder das Wegwerfen der eucharistischen Gestalten nach kirchlichem Recht als Sakrileg. Das kanonische Recht spricht nicht von Hostienfrevel und Hostienschändung. Es stellt jedoch ausdrücklich fest, dass jene Gläubigen, die die eucharistischen Gestalten wegwerfen oder in sakrilegischer Absicht entwenden oder behalten, sich die Tatstrafe der Exkommunikation zuziehen. Ein Kleriker kann zudem aus dem Klerus entlassen werden.[1] EntstehungDie von einigen Kirchenvätern ausformulierte Theorie vom Gottesmord lastete allen Juden an, Jesus Christus böswillig ermordet zu haben, so dass Gott ihre Nachkommen dafür für alle Zeiten verflucht habe. Dabei beriefen sie sich auf Aussagen des Neuen Testaments wie Mt 27,25 EU (siehe Antijudaismus im Neuen Testament). Seit dem 4. Jahrhundert behaupteten christliche Legenden, Juden versuchten, Christusbilder zu schmähen und zu verletzen. So beschrieb eine Athanasius von Alexandria († 373) zugeschriebene Predigt um 380, wie Juden in Berytos (Beirut) an einem Christusbild die Marterung und Kreuzigung Jesu nachvollzogen hätten. Das Bild habe zu bluten begonnen und Wunder gewirkt, was die jüdischen Augenzeugen zur Taufe bewogen habe. Dieser angebliche Bilderfrevel sollte anfangs weniger das Judentum herabsetzen als die Christen in ihrem Glauben an die Heilkraft christlicher Ikonen und anderer sakraler Gegenstände bestärken. Er wurde gelegentlich auch anderen als Glaubensfeinden definierten Personen, auch „schlechten“ Christen selber, nachgesagt. Die Rolle der schließlich bekehrten Juden bestand hier darin, die Macht des im Bild gegenwärtig wirkenden Christus zu veranschaulichen. Der Verdacht, dass sie christliche Bilder und Symbole misshandeln könnten, entstand nicht aus einer konkreten Kenntnis ihrer Religion, sondern aus dem Glauben an die Überlegenheit des Christentums, besonders nachdem dieses römische Staatsreligion geworden war. So verbot der römische Kaiser Theodosius II. den Juden – neben erheblichen Benachteiligungen ihrer Religionsausübung – 408, am Purimfest ein Kruzifix zu verbrennen. Dieser angebliche jüdische Brauch ist sonst nirgends bezeugt. Gregor von Tours († 594) erzählte von einem Juden, der in der Kirche ein Christusbild verletzt und dieses dann mit zu sich nachhause genommen habe. Die Wunde des abgebildeten Christus habe jedoch zu bluten begonnen, die Blutspur habe den Täter verraten, so dass dieser sein Verbrechen mit dem Leben habe bezahlen müssen. Hier wurde die frühere Zielaussage der Bekehrung bereits in die Bestrafung des „Frevlers“ gewandelt. Im Frühmittelalter entstanden erste Legenden über Hostienmissbrauch von Juden: Paschasius Radbertus († um 860) erzählte von einem Juden, der am Messopfer des Heiligen Syrus teilgenommen und die geweihte Hostie empfangen habe. Seine sofort einsetzenden entsetzlichen Schmerzen habe nur der Heilige beenden können, worauf der Jude sich habe taufen lassen. Diese Geschichte wandelte Gezo von Tortona gegen Ende des 10. Jahrhunderts ab: Syrus habe den Leib des Herrn im Munde des Juden ergriffen und so seine Heilung bewirkt. Ähnliche Legenden tauchten vermehrt im Zusammenhang mit dem Abendmahlsstreit im 11. Jahrhundert auf. Auch dabei spielten Juden jedoch nicht immer die Hauptrolle: Sie dienten meist nur dazu, das Wunder der Realpräsenz Jesu im Altarsakrament zu bekräftigen. Entfaltung im HochmittelalterDie dem Athanasios zugeschriebene Legende fand im Hochmittelalter weite Verbreitung und wurde nun vielfach ausgeschmückt. Die Weltchronik des Sigebert von Gembloux († 1112) verlegte sie in das Jahr 765. Nach einem Lanzenstich (vgl. Joh 19,34 EU) sei Blut aus dem Bild geflossen, das die Juden aufgefangen und in die Synagoge getragen hätten. Dort habe es seine Heilkraft bewiesen, worauf die Übeltäter sich hätten taufen lassen. – Hier erschienen Juden als Gruppe, und die Darstellung bezog ihren Gottesdienst ein. Der älteste „Fall“ eines angeblichen Hostienfrevels, den viele damalige Chroniken verzeichneten, wurde 1290 aus Paris berichtet. Johannes von Tilrode († 1298) z. B. schrieb in seinem Chronicon, ein Pariser Jude habe von einer christlichen Magd für 10 Pfund Silber eine geweihte Hostie gekauft. Die versammelte Judengemeinde habe diese dann mit Messern, Stiletten und Nägeln traktiert, aber nicht zerstören können. Erst das größte Messer habe die Hostie in drei Stücke zu teilen vermocht. Dabei sei Blut ausgeflossen. Zuletzt habe man die Stücke in siedendes Wasser geworfen, worauf dieses sich in Blut und die Hostienstücke in ein ganzes Stück Fleisch verwandelt hätten. Dieses Wunder habe viele der Augenzeugen zum christlichen Glauben gebracht, so auch den Verfasser des Berichts. Diese Legende wurde nicht in Frankreich, aber im deutschen Sprachraum rasch weit verbreitet und vielfach abgewandelt. Nach einer Version entschwebte die Hostie zuletzt unzerteilt, wobei das Abbild des Gekreuzigten erschien. In anderen Berichten sollte sie verbrannt werden, wobei Engel oder das Jesuskind erschienen seien. Alle späteren Varianten ähnelten jedoch strukturell ihrem Vorbild: Sie beschuldigten fast nur Juden, dass sie eine heimlich gestohlene oder gekaufte Hostie kollektiv gemartert und zu zerstören versucht hätten. Dies sollte zunächst den nachlassenden Glauben an die Segens- und Heilkraft der Hostie bei Christen stärken, indem auf angebliche Bekehrungen von Juden verwiesen wurde. Zugleich nahmen die Christen an, dass Juden einen angeborenen Hang zum „Gottesmord“ hätten: Die zum Foltern der Hostie benutzten Werkzeuge bildeten die sogenannten Leidenswerkzeuge nach. Auch der Zerteilungsversuch stellte den jüdischen Angriff auf die christliche Trinitätslehre dar. Das griff den längst etablierten Christusmordvorwurf auf und unterstellte der gesamten gegenwärtigen Generation der Juden, Christi Passion fortsetzen und seine Ermordung wiederholen zu wollen. Alle Juden galten nun als potentielle religiöse Kriminelle; die einzige Lösung sahen die Tradenten in ihrer Konversion zum Christentum. Historiker deuten dieses damals neu erfundene religiöse Vergehen deshalb als enge Variante und Folgerung aus der antijudaistischen Ritualmordlegende:[2]
Ab 1298 dienten solche Legenden nur noch zur Rechtfertigung von Judenpogromen. Damals behauptete der verarmte Ritter Rintfleisch eine Hostienschändung im fränkischen Röttingen, was gleichlautende Vorwürfe u. a. in Iphofen, Lauda, Weikersheim, Möckmühl und Würzburg auslöste. Rintfleisch sah sich durch eine persönliche Botschaft vom Himmel zum Vernichter aller Juden ernannt und zog ein halbes Jahr lang mit einer Bande von Totschlägern durch über 140 fränkische und schwäbische Ortschaften. Sie vergewaltigten, folterten und verbrannten bis zu 5000 Juden und Jüdinnen und töteten deren Kinder. Nur die Bürger von Augsburg und Regensburg schützten ihre jüdischen Einwohner. Auch konnte ein Anteil der Verfolgten nach Polen-Litauen fliehen. Eine weitere Verfolgungswelle erfolgte zwischen 1336 und 1338. Damals fanden sich verarmte Bauern und umherziehende Räuberbanden unter der Führung des Raubritters „König Armleder“ zur „Armledererhebung“ zusammen. Sie nannten sich „Judenschläger“ und rotteten etwa 60 jüdische Gemeinden im Elsass, in Schwaben, Hessen, an der Mosel, Böhmen und Niederösterreich aus. Das Beispiel Deggendorf1337 wurde auch die jüdische Gemeinde von Deggendorf in Niederbayern vernichtet. Dort sollten Juden angeblich gemarterte Hostien in einen Brunnen geworfen haben. Dazu schrieb ein anonymer Mönch 1390:
Der tatsächliche Grund war möglicherweise die Beseitigung von Schuldbriefen.[3] Der Ort wurde daraufhin Ziel einer Wallfahrt, der Deggendorfer Gnad. Die 1360 geweihte Grabkirche von Deggendorf trägt die Bauinschrift: Do bart Gotes Laichenam funden. Die Legende vom Deggendorfer Hostienfrevel wurde jahrhundertelang weiter tradiert: Der 1390 erhobene Hostienfrevelvorwurf wurde in zahlreichen populären Traktaten immer wieder erneuert. Altarbilder von 1725 zeigen, was ihre Unterschriften aussagen. Das 1776 in Deggendorf erschienene Gebets- und Andachtsbuch trug den Titel: „Das obsiegende Glaubens-Wunder des ganz christlichen Chur-Landes Bayern. Will sagen: Unlaugbarer Bericht der … Gegenwart des angemenschten göttlichen Sohnes … in 10 kleinen … Hostien, welche im Jahre … 1337 in der Stadt Deggendorf, von den … Juden … mißhandelt … “. Holzschnitte von 1776 zeigten den vermeintlichen Hostienfrevel in allen Details. Bühnenstücke führten ihn auf, so 1800 in Regen im Bayerischen Wald. Die Deggendorfer Grabkirche blieb bis 1992 Wallfahrtsziel.
VerbreitungAlle späteren Legenden eines Hostienraubs folgten dem Muster der Deggendorfer Legende. In ihren Detailschilderungen spiegeln sich die Foltermethoden der kirchlichen und weltlichen Behörden, so der Inquisition. Wo vom versuchten Verbrennen der Hostie die Rede war, wurde der Scheiterhaufen für die Juden auf diese selbst projiziert. Die durchweg fingierten Vorwürfe sollten oft eine Enteignung örtlicher Judengemeinden und einen Hostienkult begründen, um dem Ort zu Einnahmen durch Wallfahrer zu verhelfen. Dazu baute man an den Plätzen der vermeintlichen Freveltaten Kapellen oder Kirchengebäude, oft direkt über zuvor niedergebrannten Synagogen. Darin wurden „Bluthostien“ ausgestellt. In Klosterneuburg hatte ein Priester schon 1298 – im Jahr der Pariser Erstlegende – eine „blutende“ Hostie als Beweisstück eines angeblichen Hostienfrevels von Juden selbst hergestellt. Dies wies ihm eine vom Papst entsandte bischöfliche Untersuchungskommission nach. Auch in Pulkau sollte 1338 nach Deggendorfer Vorbild eine „Bluthostie“ ausgestellt werden. Vor deren Verehrung warnte Papst Benedikt XII. den König Albrecht von Österreich. Von einer weiteren gefälschten Anschuldigung berichtet sogar die sonst sehr unkritische, um 1345 verfasste Chronik des Johannes von Winterthur: Eine Christin aus Ehingen habe um 1330 konsekrierte Hostien gestohlen, um damit Zauberei zu treiben. Sofort wurden die Juden des Ortes dieses Diebstahls verdächtigt; 80 von ihnen seien unschuldig hingerichtet worden. Der päpstliche Gesandte Nikolaus von Kues bemühte sich 1450 auf seiner Legationsreise darum, diesen Hostienkult vollständig zu unterbinden. Doch gerade in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahmen die Anklagen wegen Hostienfrevels enorm zu: 1477 wurde in Passau dem Christen Christoph Eysengreißheimer vorgeworfen, er habe den jüdischen Feinden des Heilands acht gestohlene Hostien verkauft, die diese dann gemartert hätten. Die Angeklagten wurden inhaftiert, gefoltert und nach Geständnissen teils enthauptet, sofern sie sich vorher taufen ließen, teils mit glühenden Zangen zerfleischt und verbrannt. Aus dem Material der Synagoge ließ Fürstbischof Ulrich von Nußdorf die Sühnekirche St. Salvator erbauen. Der Versuch, einen Kult zu etablieren, fand hier jedoch weit weniger Anklang, da der benachbarte Deggendorfer Kult für die Pilger attraktiver blieb. Weitere Hostienfrevelvorwürfe gab es in:
Diese Pogrome gingen nicht von der Bevölkerung aus, sondern waren Ergebnis gezielter Intrigen, die bestimmte kirchliche und ständische Interessengruppen vor Ort initiierten. Zahlreiche Druckschriften dokumentierten die angeblichen „Hostienwunder“ weit über Mecklenburg und das damalige Bistum Brandenburg hinaus. Vorwürfe gegen sogenannte HexenAuch vermeintliche Hexen wurden okkulter oder satanischer Praktiken mit gestohlenen Hostien bezichtigt, etwa im Zusammenhang mit schwarzen Messen.[10] Dies hatte fast immer verheerende Folgen für die so Beschuldigten und führte auch zu ihrer Vertreibung und Ermordung. Hostienfrevel durch ChristenDer Hostienfrevel gilt irrtümlich als ein vornehmlich von Heiden und Randgruppen verübtes fiktives Verbrechen. Die jüngere Forschung weist darauf hin, dass Hostien real geschändet wurden, v. a. im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen, was besonders dann der Fall war, wenn es darum ging, den religiösen Kult des Feindes als Götzenwerk bloßzustellen, dessen Altäre und Kirchen man demonstrativ verwüstete. Da der Hostie innerhalb einer „Kultur der Gabe“ eine ganz besondere ideologische Bedeutung zukam, sollte der Gegner auf diese Weise nicht nur materiell, sondern auch ideell entehrt werden.[11] NeuzeitSeit der Reformation im 16. Jahrhundert traten auch in katholischen Ländern kaum noch Anklagen wegen Hostienfrevels auf: Das reformatorische Verständnis des Abendmahls wirkte hier mäßigend auf die christliche Volksfrömmigkeit ein. Dies galt jedoch nicht für die damals ebenso gängigen Ritualmord- und Hostienfrevellegenden: Diese antijudaistischen Stereotype unterstützte der Vatikan unter Papst Pius IX. und Leo XIII. noch im 19. Jahrhundert. Es blieb in einigen Regionen Europas bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aktuell. In Lauda und Iphofen zeigen Wallfahrtskirchen noch heute Bilder, die an die angeblichen Hostienfrevel der Juden zur Zeit der Rintfleisch-Pogrome erinnern sollen. Noch 1960 schrieb ein Benediktinerpater in seinen Geschichtlichen Nachrichten über die hl. Hostien in der Grabkirche zu Deggendorf:[12]
Erst aufgrund der von kirchlichen Kreisen veranlassten Doktorarbeit Manfred Eders wurde die Wallfahrt 1992 eingestellt. 1993 ließ Bischof Manfred Müller eine Tafel anbringen, deren Inschrift den Hostienfrevel ausdrücklich als Legende zur Rechtfertigung eines Verbrechens bezeichnet und die Juden um Vergebung für das ihnen zugefügte Unrecht bittet. Siehe auchLiteratur
WeblinksCommons: Hostienfrevel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einzelnachweise
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