Die Andere Bibliothek ist eine bibliophileBuchreihe, die von 1985 bis 2004 von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben und von Franz Greno gestaltet wurde. Von Oktober 2007 bis Ende 2010 waren Michael Naumann und Klaus Harpprecht als Herausgeber tätig. Ab 2011 ging die Programmleitung auf Christian Döring über, der die Reihe bereits seit Herbst 2009 als Lektor begleitet hatte.[1] Im Juli 2023 übernahmen Julia Franck und Rainer Wieland die Herausgeberschaft.[2] Ab Sommer 2024 wird Julia Franck, die sich wieder intensiver der eigenen schriftstellerischen Arbeit widmen möchte, die Herausgeberschaft an Nele Holdack übergeben.[3]
Das von Enzensberger zusammen mit Verleger und Buchkünstler Greno erdachte Konzept sah vor, allmonatlich ein inhaltlich wie formal hervorragendes Buch zu veröffentlichen, das von Enzensberger ausgewählt und von Greno mit höchster Qualität gestaltet und in dessen Druckerei und Verlag in Nördlingenhergestellt und vertrieben wurde. Die Bände der Anderen Bibliothek wurden bis Dezember 1996 nach alten Regeln der Buchdruckerkunst in Bleisatz gesetzt und mit Leder-Rückenschildern und Lesebändchen ausgestattet. Ab Oktober 1989 übernahm Vito von Eichborn die Andere Bibliothek von Greno in den Eichborn Verlag, Franz Greno blieb jedoch bis 2007 weiter als Buchkünstler für die Gestaltung der Bände verantwortlich. 1997 (ab Band 145) wurde das Druckverfahren von Greno auf Offsetdruck umgestellt, da mittlerweile der Computersatz den „Standard des besten Bleisatzes übertraf“.[4] Im November 2011 wurde bekanntgegeben, dass Die Andere Bibliothek nach der Insolvenz des Eichborn Verlags ab Januar 2012 als eigenständiger Verlag – „AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG“ – innerhalb der Aufbau-Gruppe weitergeführt werden soll.[5]
Für Bibliophile gab es in den Jahren 1985 bis 2007 von jeder Ausgabe eine auf 999 Exemplare limitierte und nummerierte Vorzugsausgabe. Die ersten 36 Bände verfügen über einen Einband aus Handbütten à Fleur mit echten eingeschöpften Blüten und Blättern aus der Auvergne, geschützt von einem Lederschuber aus indischem Ziegenleder. Ab Band 37 erschien die Vorzugsausgabe im Einband aus Ziegenleder. Alle Bände, die ein rotes, grünes, violettes oder schwarzes Titelschild mit Goldprägung haben, sind Originalausgaben. Nach jeweils 36 Bänden (drei Jahren) wurde eine andere Farbe für das Titelschild verwendet: von 1985 bis 1987 rot, ab 1988 grün, ab 1991 violett, ab 1994 schwarz und seit 1997 bis heute rot.
Seit dem Start der Reihe im Januar 1985 mit Lügengeschichten und Dialoge des Lukian von Samosata erschien in der Anderen Bibliothek ein buntes Spektrum von wiederentdeckten Klassikern, zu Unrecht in Vergessenheit geratenen literarischen Kostbarkeiten bis hin zu Originalausgaben und deutschen Erstausgaben von im deutschsprachigen Raum unbekannten Schriftstellern anderer Kulturen. Neben spektakulären Erfolgen wie Christoph RansmayrsDie letzte Welt mit einer Gesamtauflage von mehr als 150.000 Exemplaren, Irene Disches Erzählungen Fromme Lügen, Rolf Vollmanns „Roman(ver)führer“ Die Wunderbaren Falschmünzer und Raoul SchrottsErfindung der Poesie bewegte sich die Andere Bibliothek mit vielen Titeln abseits des Mainstreams. Michel de MontaignesEssais erschienen 1998 als Sonderband im abweichenden Quartformat. Übersetzer ist Hans Stilett.[6]
Im Laufe der Zeit erschienen von einigen Autoren mehrere Bände:
Vom 222. Band, Gustave FlaubertsBouvard und Pécuchet, kamen nur rund 2.000 Exemplare der ersten Auflage in der Originalfassung in den Handel. Bei den restlichen Exemplaren wurden aufgrund eines Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 9. Juli 2003, das der Übersetzer Hans-Horst Henschen gegen den Verlag erwirkt hatte, die Abbildungen im Kommentarteil auf den Seiten 419, 425, 426, 445, 448, 451 überklebt.[7] Dieser Band dürfte in Originalfassung die seltenste Ausgabe der Anderen Bibliothek sein.
Am 27. November 1999 gründete sich auf Initiative des Eichborn Verlags die „Lesegesellschaft Andere Bibliothek e. V.“ auf Schloss Vollrads im Rheingau. Diese literarische Gesellschaft soll für Freunde bibliophiler Werke die Möglichkeit zum literarischen Austausch bieten. Halbjährlich werden anspruchsvolle Reisen veranstaltet,[8] bei denen auch Lesungen von Autoren aus der Anderen Bibliothek stattfinden.[9]
Die Herausgabe einer Alexander-von-Humboldt-Edition im September 2004[10] mit einer Veranstaltungsreihe in Berlin[11] wurde ein medial vielbeachteter Höhepunkt der 20-jährigen Editionsgeschichte mit Enzensberger und Greno.[12] Kurz vor Weihnachten 2004 teilte Enzensberger per E-Mail an Autoren, Mitarbeiter und den Verlag seinen Abschied vom Projekt mit.[13] Zwar strebte er eine Weiterführung der Anderen Bibliothek unter Beteiligung des Verlages der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an,[14] doch nach einem anderthalb Jahre währenden Rechtsstreit verblieben die Rechte beim Eichborn Verlag.[15] In einer Übergangsphase von Band 254 bis 273 gaben nun die Autoren unter der Redaktion von Wolfgang Hörner die Bände selbst heraus. Mit dem Sonderband von Georg Forsters „Reise um die Welt“, der im Oktober 2007 erschien, übernahmen die Publizisten Michael Naumann und Klaus Harpprecht die Herausgeberschaft; nach über 20 Jahren buchkünstlerischer Gestaltung durch Franz Greno stammten Typographie und Ausstattung der Bände nun von Christian Ide, Professor für Verlagsherstellung an der HTWK Leipzig, und der freien Buchgestalterin Lisa Neuhalfen. Ab Oktober 2008 wurden die Ausstattung und grafische Gestaltung der Reihe von Cosima Schneider und Susanne Reeh aus der Herstellungs- und Grafikabteilung des Eichborn Verlags betreut.
Ende 2010 zog die Andere Bibliothek von Frankfurt nach Berlin, in das Aufbau Haus am Moritzplatz. Seit Juli 2012 wird jeder Band von einem anderen Buchkünstler gestaltet,[16] so zum Beispiel von Friedrich Forssman, Sabine Golde, Manja Hellpap, Victor Malsy oder Wim Westerveld. Katja Jaeger ist seit 2017 für die herstellerische Leitung zuständig.
Der Dezemberband 2012 von Vladimir Jabotinsky „Die Fünf“ gehört zu den bestverkauften Titeln der vergangenen Jahre.[17] Unter den Foliobänden der Anderen Bibliothek gehört Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt“ mit zu den erfolgreichsten Büchern; ebenso die vom Märchenforscher Heinz Rölleke und vom Künstler Albert Schindehütte vorgestellten Geschichten der Brüder Grimm („Es war einmal... Die Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte“).
Seit 2013 erscheinen neben den monatlichen „Originalausgaben“ und den Foliobänden im Großformat die „Extradrucke der Anderen Bibliothek“ (Eigenbezeichnung der Nachauflagen vergriffener Originalausgaben in veränderter Ausstattung) sowie seit 2015 die „Großen Bücher im kleinen Format“ mit Sammlungen kürzerer Werke und Texte von Klassikern außerhalb der Reihe der Monatsbände.
Die Originalausgaben wurden mit Band 331 (Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh) auf 4.444 Exemplare und seit Band 423 (Rolf Vollmann: Frauenkatalog 1200, in zehn Bildern) auf eine Auflage von 3.333 Exemplaren limitiert. Neben dem Vertrieb im Buchhandel besteht ein Abonnementmodell, das den Bezug der Monatsbände zu vergünstigten Konditionen erlaubt.
2016: Die Stiftung Buchkunst kürt den Band Nr. 371 »Kolokolamsk« von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, gestaltet von Drushba Pankow & Stefan Stefanescu, zu einem der „schönsten deutschen Bücher 2016“.
2020: Die Stiftung Buchkunst kürt den Band Nr. 418 »Die Pfingstrosenlaterne« von San’yutei Enchō, gestaltet von Franziska Neubert, zu einem der „schönsten deutschen Bücher 2020“.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. AB – Die Andere Bibliothek, Berlin 2014, ISBN 978-3-8477-3000-2.
Die Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München widmete der „Anderen Bibliothek“ eine Ausstellung vom 26. Mai bis 9. Oktober 2015 anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens unter dem Thema Die Andere Bibliothek – 30 Jahre: Das schöne Buch als Ereignis und Inszenierung.[18][19]
Wilhelm Haefs, Rainer Schmitz: Die Chronik der Anderen Bibliothek. Bände N° 1–400. Hrsg.: Christian Döring. AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin 2018, ISBN 978-3-8477-9990-0.
↑Michel de Montaigne: Essais – Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-8218-4472-8, Anmerkungen des Verlags, S. 575.
↑Luise Checchin: Blaue Blume, schöne Lettern. Zum dreißigsten Jubiläum würdigt eine Münchner Ausstellung „Die Andere Bibliothek“. In: Süddeutsche Zeitung. 2. Juni 2015, S. 12. (sueddeutsche.de)
↑Ausstellung: Das schöne Buch als Ereignis und Inszenierung. 30 Jahre Buchreihe „Die Andere Bibliothek“. In: Universitätsbibliothek der LMU München, 2015. (ub.uni-muenchen.de)