Otto Nagel wurde als 5. Sohn des Tischlers und Sozialdemokraten Friedrich Carl Nagel (1845–1915) und seiner Ehefrau Emma, geb. Barschin (1855–1929) geboren.[1][2] Nach der Volksschule begann er in einer Mosaik- und Glasmalereiwerkstatt eine Lehre zum Glasmaler, die er nicht abschloss, und arbeitete später als Transportarbeiter. Nagel engagierte sich früh in der Arbeiterjugend und trat 1912 in die SPD ein. Er leistete im Ersten Weltkrieg zunächst Kriegsdienst, kam dann aber wegen Kriegsdienstverweigerung in das Straflager Wahn bei Köln. 1917 wurde er Mitglied der USPD.
Im Jahr 1919 malte Otto Nagel seine ersten Ölbilder und Pastelle unter dem Einfluss von August Macke. Zur Gründung, 1918, wurde er Mitglied der KPD.[3] Im Jahr 1922 initiierte er mit Erwin Piscator die Künstlerhilfe in der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und war für Käthe Kollwitz die Kontaktperson zu Willi Münzenberg. 1924 trat Nagel der Roten Gruppe Berlin bei und organisierte die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung 1924/1925 in Moskau, Saratow und Leningrad.[4]
Im Jahr 1926 stellte Otto Nagel im Sängerheim, einem Bierlokal in Wedding, seine aktuellen Bilder aus. Der Wedding war inzwischen zu einem roten Arbeiterbezirk geworden, so dass es zum Ausstellungsort in der Weltbühne hieß: „Ein ungewöhnliches Milieu für Kunst. […] Das Publikum, Männer und Frauen vom Wedding, ernst, schweigsam, langsam die Bilder betrachtend. Sie sehen sich selbst an den Wänden, von einem der ihren gemalt: den Briefträger, die alte Frau im Spital, die Nutte vom Karree Nettelbeckplatz, den Idioten ‚Vater‘ von der Wach- und Schließgesellschaft, den Budiker von der Ecke. Ich stelle mir die Menschen, die im Sängerheim diese Bilder betrachten, in der Nationalgalerie vor. Sie gehen fremd, verwundert, ratlos von Bild zu Bild und gehen verdattert zur Tür hinaus. Sie dürfen ja hingehen, aber sie fühlen sehr schnell, dass sie nur geduldet sind“.[5] Seit 1927 war Nagel für die „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland“ aktiv.
Otto Nagel war eng mit Heinrich Zille und Käthe Kollwitz befreundet, deren Nachlass er ordnete. Nagel gab zahlreiche Schriften über ihr Werk heraus. Von 1928 bis 1931 stellte er in der Novembergruppe aus und war von 1928 bis 1932 Herausgeber und Redaktionsleiter der Satirezeitschrift Eulenspiegel. 1932 betreute er die Käthe-Kollwitz-Ausstellung in Moskau und Leningrad, bei der 160 Arbeiten der Künstlerin gezeigt wurden.
Von 1928 bis 1932 schrieb er das Manuskript zu seinem Roman Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck, welches bis zu seiner ersten Veröffentlichung als Buch 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig mehrmals verschwunden war. Die fast unglaubliche Geschichte dieses Buches hat die Witwe des Malers, Walli Nagel, in ihrem Vorwort beschrieben.[6]
1933 wurde Otto Nagel zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der Bildenden Künstler Deutschlands gewählt. Die Wahl wurde einen Tag später von den Nazis annulliert, weil sich Nagel zu stark politisch gegen sie engagiert hatte. Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen (unter anderem im KZ Sachsenhausen 1936/1937, Häftlingsnummer 1287, Block 8[7]) folgten. 1937 kam Nagel auf Initiative seiner Frau wieder frei, durfte aber in seinem Atelier weiterhin nicht arbeiten. So avancierte er zum Straßenmaler mit Stadtlandschaften des damals noch nicht zerstörten Berlin.[8][5] 1937 wurde in der Aktion „Entartete Kunst“ drei Gemälde Nagels aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und vernichtet.[9]
Nach Kriegsende lebte und arbeitete Otto Nagel zuerst in Bergholz-Rehbrücke bei Potsdam, wo eine Grundschule später seinen Namen erhielt, ab 1952 in Biesdorf. Dort gibt es eine nach ihm benannte Straße, sowie ein nach ihm benanntes Gymnasium, das Otto-Nagel-Gymnasium (ONG). Nagel verband eine Freundschaft mit der Malerin Ursula Wendorff-Weidt. Ein Meisterschüler Nagels war Harald Metzkes, der die Berliner Malschule begründete.
Nagel war von 1950 bis 1952 Erster Vorsitzender und 1955/1956 Präsident des Verbands Bildender Künstler der DDR (VBK) und 1956 bis 1962 Präsident der Akademie der Künste der DDR. Er hatte in der DDR eine große Zahl von Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, u. a. von 1949 bis 1968 auf der 2. bis VI. Deutschen Kunstausstellung in Dresden.
Der Bezirksverband Berlin des VBK stiftete und vergab an bildende Künstler die Otto-Nagel-Medaille.
Nagels 1916 geschlossene Ehe mit Frieda Kaminski wurde bereits 1920 geschieden.[10] In zweiter Ehe war er mit der russischen Schauspielerin Walentina („Walli“) Nikitina (1904–1983) verheiratet, der er 1925 bei der oben genannten Deutschen Kunstausstellung in Leningrad begegnete.[11] 1943 kam ihre Tochter Sibylle zur Welt (gest. 2015). Die 1916 geborene Tochter Lotte war 1930 an dem sie umgebenden Milieu gescheitert und hatte den Freitod gewählt.[12] Otto Nagel wurde in der Künstlerabteilung des Berliner Zentralfriedhofs Friedrichsfelde beigesetzt, sein von Gerhard Thieme geschaffenes Grabmal steht unter Denkmalschutz.[13] Sein Grab ist Ehrengrab des Landes Berlin. Auf Initiative von Walentina Nagel eröffnete am 12. Juli 1973 das Otto-Nagel-Haus am Märkischen Ufer in Berlin-Ost. Bis 1978 leiteten die Tochter von Otto Nagel Sibylle Schallenberg-Nagel (Kunstwissenschaftlerin) und ihr Mann Götz Schallenberg (Direktor) das Museum.[14] 1995 wurde die Ausstellung geschlossen. Seit Juli 2019 arbeitet die Journalistin und Enkelin Salka Schallenberg an einem Forschungsprojekt zum Thema „Kulturpolitik in der DDR“. Insbesondere steht dabei Otto Nagel und der Umgang des Staatsapparates mit seinem künstlerischen Erbe im Fokus.[14]
Horst Bosetzky: Bücherwahn – Kappes 10. Fall. Kriminalroman. Es geschah in Berlin 1928. Berlin 2010, S. 130–131.
William T. Vollmann: Europe Central. Berlin 2014, S. 67–77, S. 85.
Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. München 2019. S. 328–330.
Rezeption
„Otto Nagels Persönlichkeit ist unter den deutschen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts eine ungewöhnliche Erscheinung. In ihr verbinden sich Geist und Tat nicht nur zu einem besonderen künstlerischen Werk, sondern auch zu einer heute bereits historisch gewordenen kulturpolitischen Leistung.“
2015 tauchten auf dem Kunstmarkt etwa 200, zwischen 1927 und 1930 datierte, mit „O. Nagel“ signierte, abstrakte Kompositionen auf Papier auf. Die Legende dazu lautete, dass die Arbeiten aus einem Kauf auf einem Flohmarkt, kurz nach der Wende, stammten und es gab eine fiktive Künstler-Biografie dazu. Der Einlieferer gab zwar schließlich zu, dass er den fiktiven Otto Nagel erfunden habe. Inzwischen war die Verwechslung aber so nachhaltig, dass weiterhin Werke des fiktiven Otto Nagel als Werke des echten angeboten wurden. Das unterstützten Online-Nachschlagewerke, die die Signatur des fiktiven Otto Nagel als die des echten präsentierten. Dies wurde durch eine Aktion des Instituts für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg bereinigt.[25]
Werke
1937 als „entartet“ aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmte und vernichtete Werke
Meine Mutter (Tafelbild; Stadtbesitz von Berlin)
Arbeitsnachweis (Tafelbild; Stadtbesitz von Berlin)
Arbeiterbrautpaar (Tafelbild; Museum für Kunst und Kunstgewerbe Stettin)
Der alte Maler / Selbstbildnis (Öl auf Leinwand, 100 × 80 cm, 1963; Gemäldegalerie Alte Meister Dresden)[33]
Druckgrafik (Auswahl)
Hunger (Lithografie, Blattmaß 49,6 × 33,5 cm; 1924; Blatt 5 der gleichnamigen Mappe der Internationalen Arbeiterhilfe; u. a. in der Berlinischen Galerie)[34]
Moskauer Sonntag (45 × 60 cm, 1960; Galerie Neue Meister Dresden)[36]
Abschied vom Fischerkietz I (47 × 57 cm, 1965)[37]
Ausstellungen
Im Jahr 1950/51 wurden in der Kollektiv-Ausstellung von der Akademie der Künste „Otto Nagel – Werke aus drei Jahrzehnten“ gezeigt.
Im Jahr 1954 veranstaltete die Deutsche Akademie der Künste anlässlich des 60. Geburtstags von Otto Nagel die Ausstellung „Berliner Bilder“
Im Jahr 2012 gab es die Ausstellung Otto Nagel (1894–1967). Orte – Menschen im Schloss Biesdorf in Berlin in Kooperation mit der Akademie der Künste.[38]
Im Jahr 2008 organisierte das Mitte-Museum in Berlin eine Otto-Nagel-Ausstellung.[39]
21. Oktober 2022 bis 2. April 2023 Ausstellung „Otto Nagel – Menschensucher und Sozialist“, Museum Eberswalde[40]
Literatur
Otto Nagel. Verlag Eduard Stichnote, Potsdam 1947 (Reihe Kunst der Gegenwart, VII).
Wolfgang Hütt: Welt der Kunst – Otto Nagel. Henschelverlag. Kunst und Gesellschaft, Berlin 1984.
Heinz Lüdecke: Künstler der Gegenwart 1 – Otto Nagel. VEB Verlag der Kunst, Dresden 1959.
Walli Nagel: Das darfst du nicht! Von Sankt Petersburg nach Berlin-Wedding. Erinnerungen. Wedding-Bücher/Verlag Walter Frey, Berlin 2018 (gekürzt).
Gerhard Pommeranz-Liedtke: Otto Nagel und Berlin. VEB Verlag der Kunst, Dresden 1964.
Brunhilde Wehinger: Nachwort. In: Otto Nagel: Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck. Wedding-Bücher/Verlag Walter Frey, Berlin 2017 (ohne Abbildungen des Künstlers).
Walli Nagel: Das darfst du nicht! Erinnerungen. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1981 (Originalausgabe).
Otto Nagel: Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck. Roman mit Illustrationen des Verfassers. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1978 (Originalausgabe).
Otto Nagel. Die Gemälde und Pastelle. Bearbeitet von Sibylle Schallenberg-Nagel und Götz Schallenberg, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1974.
Werner Haftmann: Verfemte Kunst. Malerei der inneren und äußeren Emigration. DuMont Verlag, Köln 1986
Rainer Zimmermann: Die Kunst der verschollenen Generation: deutsche Malerei des expressiven Realismus von 1925–1975. Econ, Düsseldorf/Wien 1980.
Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945. Ein biografisches Lexikon. Band 5. L-O. 2. ergänzte u. bearbeitete Auflage. trafo Verlagsgruppe, Berlin 2019.
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Wedding und Gesundbrunnen (= Reihe Berlin Widerstand 1933–1945). Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2003, S. 280–283.
Rolf Jessewitsch, Gerhard Schneider (Hg.): Entdeckte Moderne: Werke aus der Sammlung Gerhard Schneider. DruckVerlag Kettler, Bönen 2008.
Jost Hermand: Auf andere Art so große Hoffnung. Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalin-Allee (1953). In: Jost Hermand (Hg.): Politische Denkbilder. Von Casper David Friedrich bis Neo Rauch. Köln 2011, S. 221–232.
Sergey Fofanov: Der rote Kurator – Otto Nagel als Ausstellungsmacher in der Sowjetunion. In: Eckart Gillen (Hg.) im Auftrag der Stadt Eberswalde: Otto Nagel. Menschensucher und Sozialist. Pastelle und Gemälde 1922 bis 1965. 2022, S. 18–45.
↑Sergey Fofanov: Der rote Kurator - Otto Nagel als Ausstellungsmacher in der Sowjetunion. In: Eckart Gillen im Auftrag der Stadt Eberswalde (Hrsg.): Katalog Otto Nagel. Menschensucher und Sozialist. Pastelle und Gemälde 1922 bis 1965. Eberswalde 2022, ISBN 978-3-9822404-5-9, S.18–45.
↑ abCarl-Peter Steinmann: Sonntagsspaziergänge 2. Transit-Buchverlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-88747-286-3, S.28–29.
↑Auskunft Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen Auszug Datenbank 10.03.2021 '
↑Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Wedding und Gesundbrunnen. In: Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Hrsg.): Reihe Berlin Widerstand 1933 –1945. Berlin 2003, S.280–283.
↑Datenbank zum Beschlagnahmeinventar der Aktion „Entartete Kunst“, Forschungsstelle „Entartete Kunst“, FU Berlin
↑Heiratsregister Standesamt Berlin 13b, Nr. 270/1916
↑Otto Nagel. In: Nagel. VEB Verlag der Kunst, Dresden, 1972, S. 1
↑Henry Keazor: Aus dem Falschen das Richtige lernen. 12 Fälle der Kunstfälschung. Begleitbroschüre zur Ausstellung „Kunst und Fälschung“ im Kurpfälzischen Museum Heidelberg vom 29. Februar bis 30. Juni 2024. 2. Auflage, Heidelberg April 2024. Ohne ISBN, S. 38–41.