Der Gang aufs Land. An Landauer![]() ![]() Der Gang aufs Land. An Landauer ist eine Elegie von Friedrich Hölderlin. Obwohl unvollendet,[1] ist sie berühmt geworden, schon wegen ihres die Sehnsucht vieler Menschen spiegelnden Eingangs-Anrufs: „Komm! ins Offene, Freund!“ Eine „herrliche Land-Elegie“, ein „vollendetes Elegie-Fragment“ schrieb ein dem „Landleben“ gewidmetes Feuilleton im Jahr 2014.[2] Entstehung und ÜberlieferungNach dem Ende seiner Tätigkeit als Hauslehrer bei Jakob Friedrich Gontard-Borkenstein (1764–1843) in Frankfurt am Main im September 1798 hielt sich Hölderlin zunächst im nahen Homburg auf. Mitte Juni 1800 wanderte er über Nürtingen, wo die Mutter und die Schwester lebten, nach Stuttgart. Dort wohnte er bei dem gebildeten, liberalen Tuchhändler Christian Landauer (1769–1845). Ihm widmete er – zu dessen Geburtstag am 11. Dezember 1800 – auch das gereimte Lied An Landauer: „Sei froh! Du hast das gute Loos erkoren, / Denn tief und treu ward eine Seele dir; / Der Freunde Freund zu seyn, bist du geboren, / Diß zeugen dir am Feste wir.“[3] Im Januar 1801 trat Hölderlin eine weitere Hauslehrerstelle bei dem Leinenfabrikanten Anton von Gonzenbach (1748–1819) in Hauptwil in der Schweiz an. An Landauer schrieb er im Februar:[4]
Schon Anfang April 1801 kehrte er nach Nürtingen zurück. In der relativ glücklichen Stuttgarter Episode 1800 oder – nach Dietrich Sattler[5] und anderen[6] – bei einem weiteren Aufenthalt in Stuttgart im April oder Mai 1801 ist Der Gang aufs Land entstanden. Die Überlieferung besteht aus mehreren Handschriften, darunter, hier abgebildet:
Die Überschrift Der Gang aufs Land. An Landauer steht, getrennt von den Entwürfen, aber ihnen zuzuordnen, auf einem Entwurf der Elegie Brod und Wein.[7] Gedruckt wurde das Fragment zuerst 1826 in der von Ludwig Uhland und Gustav Schwab veranstalteten Sammelausgabe der „Gedichte“. Hölderlin wird hier, wenn nicht anders angegeben, nach der von Friedrich Beissner, Adolf Beck und Ute Oelmann (* 1949) besorgten historisch-kritischen Stuttgarter Ausgabe seiner Werke zitiert. Der Textteil in Band 2, 1 enthält dort nur die „vollendeten“ Verse 1 bis 40, die zusätzlichen Stichwörter und Verse werden im Kommentarteil Band 2, 2 gedruckt. Ebenso verfährt Jochen Schmidts „Leseausgabe“, die die Orthographie „modernisiert“. Der „konstituierte Text“ der historisch-kritischen Frankfurter Ausgabe von Dietrich Sattler und der Textteil der „Leseausgabe“ von Michael Knaupp hängen dagegen die Stichwörter und zusätzlichen Verse den „vollendeten“ Versen 1 bis 40 unmittelbar an. Knaupp überschreibt das Gedicht statt „Der Gang aufs Land. An Landauer“ mit „Das Gasthaus. An Landauer“, einem Titel, der aus Spuren an der Abrissstelle der Reinschrift(1) rekonstruiert ist. Text und InterpretationIn Hölderlins Elegien bilden seit der – mit Der Gang aufs Land. An Landauer ungefähr gleichzeitigen – zweiten Fassung von Der Wanderer jeweils drei Distichen eine Einheit, „Triade“, und jeweils drei Triaden, also 18 Verse, eine Strophe. Der Gang aufs Land wäre, so vermutet man, vier- oder sechsstrophig geworden. Die zweite Strophe zählt nur 16 Verse; Hölderlin hat anscheinend ein auf Vers 22 folgendes Distichon in die Reinschrift(1),(2) zu übertragen vergessen.[8] Von der dritten Strophe sind nur drei Distichen fertiggestellt (bis Vers 40). ![]() ![]()
Das Gedicht lässt sich als Wiedergabe von konkret Erlebtem (genauer als Fiktion von konkret Erlebtem) wie als Vision der Menschheitsgeschichte lesen. Konkretes ErlebenDas Konkrete ist bescheiden genug. „Trüb ists“ im Stuttgarter Talkessel. Tiefhängende Wolken verhüllen Berge und Wälder. „Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes / Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft,“ schreibt Hölderlin statt „Weder die Berge noch des Waldes Gipfel sind nach Wunsch aufgegangen und die Luft ruht leer von Gesange“ – ein Beispiel seines Stils der „harten Fügung“.[9] Ins Offene aufzubrechen, ruft der Dichter seinen Freund auf. Er nennt ihn wie auch „Stutgard“ und den „Nekar“ mit Namen. Justinus Kerner hat in einem Vermerk am Kopf der ersten Seite der Reinschrift(1) solche „spezialitæten […] z. B. der Name Stuttgart“ getadelt.[10][11] Beissner entgegnet, das Eigentümliche und besonders Hölderlinsche dieser Sprache mit ihrer vertraulichen Hinwendung zum Freund liege „darin beschlossen, daß sie nicht in einen geschwätzigen Plauderton hinabgleitet, sondern deutsam und bedeutsam in sich selbst bleibt und an ‚Unendliches‘ rührt, ohne das ‚Beschränkte‘, das Endliche und Vordergründige, […] verdrängen zu müssen.“[12] Der Enge und Bedrücktheit der ersten Triade setzt die zweite ihr „Dennoch“ entgegen. Allerdings meldet der Optativ „der Lust bleibe geweihet der Tag“ einen Zweifel an, ob die Öffnung gelingt. Aus jedem Distichon klingen Zuversicht und Skepsis. Mit der dritten Triade ändert sich der Rhythmus. Bildet bis zum Ende der zweiten Triade jedes Distichon „nach lateinischer Weise“ einen eigenen, mit einem Punkt geschlossenen Satz, so spannt im dritten – „und das ist eigentlich griechische Form“ – ein einziger Satz seinen Bogen über alle sechs Verse.[13] „Ein einziger Satz, durch ein vierfach steigerndes ‚und‘ verbunden, schwillt über sechs Verse an zu der Schlussklimax, in der die ‚Öffnung‘ des Anfangs wiedererscheint – nun doppelt genannt, um die entscheidende Konstellation zu verdeutlichen. Die Öffnung des Himmels ereignet sich nur für den ‚offenen Blick‘.“[14] Nach der Begeisterung des Schlusses der ersten Strophe lenkt die zweite zum schlichteren Ton des Anfangs zurück. „Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es / Was wir wollen, und scheint schiklich und freudig zugleich.“ Nichts Mächtiges ist ja das Konkret-Biographische, das Schickliche, der gesellige Alltag, aber es gehört zum Leben. Das Kernstück der zweiten Strophe spricht erstmals das Vorhaben, „Was wir wollen“, aus, nämlich die Bodenweihe, vielleicht Grundsteinlegung, für ein Gasthaus auf einem Weinberg bei Stuttgart. Landauer mag, muss aber nicht der Bauherr sein. Wieder bilden drei Distichen einen einzigen Satz (Vers 23–28), in dem „der Gewinn“ (Vers 12) „der Schritte und der Mühe“ (Vers 11) besungen wird: Künftig sollen hier die Gäste bei Mahl, Tanz und Gesang gesellig „das Schönste, die Fülle des Landes“ schauen. Im kommenden Mai wird dann beim Richtfest das Sonnenlicht dem fertigen Gasthaus einen Segen sprechen, auch ohne Worte, „von selbst“ den Gästen verständlich; oder der Zimmermann wird nach alter „Sitte“ (Vers 31) den Zimmermannsspruch tun. Darauf werden die Götter lächelnd und Anteil nehmend herab schauen. In den Versen, die vielleicht die erste Triade der dritten Strophe werden sollten, weitet sich der Blick ins frühlingshafte Neckartal. Was beim trüben Beginn noch nicht „aufgegangen“ war (Vers 3), ist jetzt „aufgegangen“ (Vers 36), Tal, Weiden, der Wald, die grünenden oder weiß blühenden Bäume. Die Harmonie der Landschaft entspricht der sozialen Harmonie des ländlichen Festes, und beiden entspricht die dichterische Form:
„Polysyndeton, Alliterationen, Assonanzen und Rhythmisierung stellen die Harmonie der sozialen und landschaftlichen Situation, von der der Text spricht, ästhetisch erfahrbar her.“ Die poetische Vollkommenheit der Verse 35 bis 40 lässt Wolfgang Braungart zweifeln, ob die Elegie wirklich Fragment sei. Er nennt die Verse „das große Schlußbild der Elegie“.[15] VisionIst die Elegie Ausdruck oder Fiktion von individuell konkret Erlebtem, durchweg sinnlich anschaulich, so hat sie doch auch, wie Hölderlins Werk überhaupt, eine religiöse und menschheitsgeschichtliche Dimension. Diese Sphäre wird aufgerufen durch die dreimalige Nennung des „Himmels“ in der ersten Strophe, einmal in jeder der drei Distichentriaden. Sie wird aufgerufen durch Hölderlins unbestimmte „numinose Neutra“: „ins Offene“, „ein Weniges“, „das Ergözliche“, „das Gewünschte“, „ein Besseres“ (Vers 29).[16] Das Wort „Rechtglaubige“ (Vers 7) spricht einen Bezug zur Religion unverhüllt aus. Macht der graue Himmel – Ebene des konkreten Erlebens – den Beginn des Spaziergangs eng und trüb, so ist er zugleich – Ebene der Vision – Symbol von Hölderlins Geschichtsepoche, der er die Diagnose der „bleiernen Zeit“ stellt. Dieser Ausdruck, schon im 17. Jahrhundert für eine Zeit der Bosheit und Bedrückung in Gebrauch,[17] greift die mythischen Weltalter der Antike und die Weltalter des Propheten Daniel (Dan 2,31-45 EU) auf. Er ist Titel eines Films, Die bleierne Zeit, und geflügeltes Wort geworden.[18] Für Hölderlin ist die bleierne Zeit eine Zeit der Auseinanderfalls von göttlich gesehener Natur und menschengeschaffener Kultur, die in der Antike einmal eine liebende Einheit bildeten. Diese Pathologie seiner Zeit hat Hölderlin im „ängstigen Traum“ des etwa gleichzeitigen Hexameterhymnus Der Archipelagus geschildert:[19]
Das „Offene“ des ersten Verses bedeutet biographisch besseres Wetter beim Spaziergang. Das fanfarenhafte „Komm! ins Offene!“ ruft aber wie den Freund Landauer auch den Leser auf. „Offen“ ist ein Lieblingswort Hölderlins,[20] ähnlich gebraucht in der Elegie Brod und Wein: „So komm, daß wir das Offene schauen.“[21] Es evoziert die Vorstellung des offenen Himmels: „Ihr werdet den Himmel offen sehen“ (Joh 1,51 EU). Der Leser soll offen sein für eine Wiederkehr der Harmonie von Natur und Menschenwelt. Hölderlins Heilserwartung schließt sich im Archipelagus der Pathologie der Gegenwart unmittelbar an:
Dann wird, mit Versen 17 und 18 von Der Gang aufs Land. An Landauer:
Folgt man der Spätdatierung des Gangs auf Land ins Jahr 1801, dann stimmte der am 9. Februar geschlossene Friede von Lunéville zur Zeit der Entstehung Hölderlin besonders hoffnungsvoll. An seine Schwester schrieb er am 23. Februar aus der Schweiz:[22]
Das „Offene“ des Gedichts bedeutet eine „(neue) Offenheit aller Lebensbezüge“, eine „(neue) Anwesenheit des Göttlichen in der Welt nach zwischenzeitlicher Götterferne“,[23] „ein umfassendes Offen-Werden der Natur und des Himmels“,[24] eine Verwandlung der Welt zum Guten. Hölderlin überlässt es dem Leser, die Vision politisch, theologisch oder philosophisch zu konkretisieren. „Beim individuellen Lesen kann man sich eben vieles denken.“[25] Er will den Leser nur aufnahmebereit machen für eine Wiederkehr der Götter. Götter im Gasthaus?![]()
Von seinen Fortsetzungsnotizen hat Hölderlin nur die vorstehenden zu Versen ausformuliert.[26] „Aber fraget mich eins, was sollen Götter im Gasthaus?“ klingt für den Unbefangenen fast komisch. Bezweifelt Hölderlin, dass er seine Vision der Kosmos- und Menschheitsgeschichte, für die er sonst auf die griechische Antike zurückgriff, im Bild eines Spaziergangs adäquat gestalten kann? Wird ihm die Projektion einer antiken Götterfeier auf eine Bodenweihe und ein Richtfest in seinem modernen Vaterland fragwürdig? Vielleicht liegt in diesem Zweifel der Grund dafür, dass das Gedicht unvollendet blieb. Quer an den linken Rand der Seite mit der Fortsetzung(3) hat Hölderlin geschrieben:[27]
Das Distichon spricht Resignation aus. Doch die letzten Verse (10 und 11 des Fortsetzungsentwurfs) bekräftigen Hölderlins heilsgeschichtlichen Optimismus, wenn sie tröstend verkünden: „auch Götter bindet ein Schiksaal / Denn die Lebenden all bindet des Lebens Gesez.“ Literatur
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