Die Carl Friedrich von Siemens Stiftung dient dem Ziel der Förderung der Wissenschaften. Die Stiftung wurde 1958 auf Initiative des Unternehmers Ernst von Siemens gegründet. Geschäftsführer war bis März 2022 der Philosoph Heinrich Meier.[1] Zum Sommersemester 2022 übernahm der Literaturwissenschaftler Marcel Lepper die Geschäftsführung[2]. Ab dem 22. Februar 2023 wurde die Stiftung kommissarisch von Carola Schütt, der kaufmännischen Leitung, geführt. Seit Oktober 2023 hat die Stiftung mit Isabel Pfeiffer-Poensgen eine neue Geschäftsführerin.[3] Durch den langjährigen Vorsitz der Stiftung durch Armin Mohler von 1964 bis 1985, der den Begriff der Konservativen Revolution popularisierte, gilt die Stiftung als zentraler Ort der „Neuen Rechten“ dieser Zeit.[4][5][6]
Die Strukturen der Stiftung gerieten im Jahr 2023 in die Kritik. Diese Kritik betrifft die problematischen Finanzstrukturen vor 2022, von der die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit berichteten, ebenso Governance-Mängel.[8] Die Gremien der Stiftung sind seit ihrer Gründung bis zum heutigen Tag rein männlich besetzt.[9] Über die Zusammensetzung und Amtsdauer der Gremien informieren bisher die Jahresberichte, die sich seit 2022 digitalisiert auf der Stiftungshomepage befinden.[10][11]
In einem Offenen Brief haben über 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Stiftungsstrukturen problematisiert und Aufklärung gefordert. Der Brief formuliert drei Forderungen:
Wiederaufnahme des unterbrochenen Modernisierungsprozesses,
Öffnung und Zugänglichkeit des Stiftungsarchivs und
Transparente Offenlegung von Grundlagen, Strukturen und Entscheidungsprozessen der Stiftung sowie die Überprüfung der stiftungs- und steuerrechtlichen Fragen.[12][13]
Die Süddeutsche Zeitung wie Die Zeit berichteten, dass die Gremienmitglieder sich selbst mit Zuwendungen bedacht haben. Dazu gehören Geschenke, private Feiern, persönliche Projekte und wissenschaftliche Symposien in der Stiftung.[8][14] Die Forschungsförderung von Gremienmitgliedern widerspreche nicht dem Stiftungszweck, teilte die Stiftung der Süddeutsche Zeitung mit.[13] Im Jahresbericht werden die Geburtstagssymposien aus dem Stiftungsumfeld als besondere Highlights unter den Gastveranstaltungen angeführt, darunter die Symposien für Walter Neupert, für Horst Dreier und Peter M. Huber.[15] Die Medizinische Klinik und Poliklinik IV der LMU unter der Leitung von Martin Reincke, der zugleich stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Stiftung ist, bewirbt auf ihrer Homepage ein Symposium in der Stiftung.[16]
Aus den Jahresberichten geht auch hervor, dass mehrere Gremienmitglieder Fellowships der Carl Friedrich von Siemens Stiftung erhalten und in der Stiftung hochdotierte Vorträge gehalten haben, bevor sie in die Gremien aufgenommen wurden. Dazu zählen die Fellowships von Horst Dreier (2011/2012) und Ernst Osterkamp (2003/2004), hochdotierte Vorträge von Jörg Hacker (2007), Bert Hölldobler (2006) und Ernst Osterkamp (2002; 2010).[17]
Geschichte
Ernst von Siemens, von 1956 bis 1971 Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG, errichtete die Stiftung aus seinem Privatvermögen und vermachte ihr neben der Ernst von Siemens Musikstiftung und der Ernst von Siemens Kunststiftung seinen Nachlass. Sie trägt den Namen seines Vaters Carl Friedrich von Siemens, der zwischen 1919 und 1941 Aufsichtsratsvorsitzender des heutigen Siemens-Konzerns war.
Geschäftsführer der Stiftung war ab 1964 der Publizist Armin Mohler, 1985 wurde Heinrich Meier Nachfolger Mohlers. Von 1984 bis zu seinem Tode 2008 war Heinz Gumin Vorstandsvorsitzender der Stiftung. 2022–2023 hat der Literaturwissenschaftler Marcel Lepper die Geschäftsführung übernommen. 2023 übernahm Carola Schütt kommissarisch die Geschäftsführung. Seit Oktober 2023 hat die Stiftung mit Isabel Pfeiffer-Poensgen wieder eine reguläre Geschäftsführerin.
Die Stiftung unter Armin Mohler 1964–1985
Mohler war von 1949 bis 1953 Privatsekretär von Ernst Jünger und danach Journalist in Paris. 1961 kam er auf Empfehlung des ehemaligen SS-ObersturmbannführersFranz Riedweg, den er 1942 kennengelernt hatte, als Sekretär zur Stiftung.[5][18] Er galt als ein „Strippenzieher im rechtsextremen Milieu, der sich zum Faschismus bekannte“[19] , Artikel für die extrem rechte Nationalzeitung des Münchner Verlegers Gerhard Frey und die Junge Freiheit schrieb[18] und die Stiftung für politische Veranstaltungen nutzte. Ein Beispiel dafür ist der von ihm im Juni/Juli 1978 organisierte Zyklus über Carl Schmitt, dessen Vorträge unter dem Titel Der Ernstfall als zweiter Band der Schriftenreihe der Stiftung im Propyläen-Verlag erschienen. Schmitt war wegen seines Engagements für das Dritte Reich akademisch und publizistisch isoliert. Referenten waren Horst Albach, Rüdiger Altmann, Knut Borchardt, Paul Carell, Hellmut Diwald, Robert Hepp, Josef Isensee, Christian Meier, Wilhelm E. Mühlmann und Heinz-Dietrich Ortlieb. Die Reihe wurde als Hommage an Schmitt verstanden.[20]
Auch weitere Veröffentlichungen der Stiftungen haben Personen oder Themen der Neuen Rechten zum Inhalt. Der 1980 bei Ullstein erschienene Band 3 der Schriftenreihe, „Die Deutsche Neurose. Über die beschädigte Identität der Deutschen“, herausgegeben von Anton Peisl und Mohler, enthält u. a. Beiträge von Johannes Gross, Peter R. Hofstätter, Hellmut Diwald, Hans-Joachim Arndt und Dieter Blumenwitz. In die gleiche Richtung führt auch der 1986 erschienene Band 11 mit dem Titel „Wirklichkeit als Tabu: Anmerkungen zur Lage“ und den Autoren Josef Isensee (Die Verfassung als Vaterland), Helmut Quaritsch (Das Grundrecht auf Asyl und die neuen Wirklichkeiten), Horst Ehmann (Legitimitatsverlust des Arbeitskampfes?), Dieter Blumenwitz (Die Verrechtlichung der Aussenpolitik), Reinhart Maurer (Wie wirklich ist die ökologische Krise?), Martin Gosebruch („Alles ist Kunst“), Gerhard Adler (Woran glauben die Leute eigentlich?), Robert Hepp (Der Aufstieg in die Dekadenz) und Hans-Joachim Arndt (Volk ohne Zukunft?).[21] 1980 hielt der Historiker Ernst Nolte vor der Carl Friedrich von Siemens Stiftung den Vortrag Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus, den die FAZ am 24. Juli 1980 gekürzt abdruckte, wodurch der Historikerstreit ausgelöst wurde.
Die Stiftung unter Heinrich Meier 1985–2022
Unter der Geschäftsführung von Heinrich Meier, der zuletzt ein Monatsgehalt von 24.000 Euro bezog,[18] trat die politische Arbeit in den Hintergrund. Stattdessen öffnete sich die Stiftungsarbeit für die internationale Spitzenforschung. Unter der Leitung von Meier galt die Stiftung aufgrund ihres anspruchsvollen wissenschaftlichen Programms als „Oxford in München“.[22] Über die Vorträge wurde vielfach im Feuilleton berichtet.[23]
Die Stiftung hatte folgende Schwerpunkte:
Veranstaltung wissenschaftlicher Vortragsreihen mit Vorträgen einzelner Referenten, interdisziplinäre Vortragsreihen sowie deren Publikation (seit 1958). Referenten, die in der Siemens-Stiftung Vorträge hielten, waren unter anderem
Ein Teil der Vorträge wird in der Reihe Themen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung herausgegeben (seit 1985 waren es mehr als 40 Bände).
Vergabe der Carl Friedrich von Siemens Fellowships an hervorragende Wissenschaftler (seit 1993). Mit diesen Stipendien wird der Abschluss von Forschungen hervorragender Wissenschaftler gefördert.
Einrichtung einer Stiftungsprofessur an der TU Dresden.
Förderprogramm zur Ergänzung der dringend benötigten wissenschaftlichen Literatur. Diese umfasst die Versorgung von Universitätsbibliotheken in den neuen und alten Bundesländern.[24] Außerdem fördert die Stiftung Projekte wie die Fortführung der Sammlung des ehemaligen Sondersammelgebiets Philosophie an der Bayerischen Staatsbibliothek in München.[25] Gefördert wird jeweils der Erwerb von Printmonographien.
Gastveranstaltungen, vor allem wissenschaftliche Konferenzen und internationale Symposien, bei denen die Einrichtungen der Stiftung zur Verfügung gestellt werden. Die Themen sind fächerübergreifend und reichen von naturwissenschaftlichen Themen über Literatur- und Musikwissenschaft bis hin zu philosophischen und kulturhistorischen Aspekten. Besonders gefördert werden soll dabei der Kontakt zwischen deutschen und ausländischen Wissenschaftlern.
Zum Arbeitsprogramm seit 2022 gehörte die Stärkung der historischen und gesellschaftlichen Reflexion der Stiftung, darunter auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte.[26]
Im Sommersemester 2022 hat die Stiftung ein „Osteuropa-Programm“ eingerichtet.[27]
Über die in diesem Zeitraum neu gestaltete Homepage sind die interdisziplinären Vortragsreihen seit 2022 live erreichbar.[28]
Seit 2022 sind die Publikationen der Themen-Reihe im Open Access verfügbar.[29]
Unter Marcel Lepper öffnet die Stiftung ihre Programme verstärkt für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.[30]
Im Februar 2023 trennte sich die Stiftung überraschend von Marcel Lepper sowie von zwei weiteren Mitarbeiterinnen.[31][32] Auf der Stiftungsseite werden gegenwärtig (April 2023) noch vier Mitarbeiter geführt, darunter die kommissarische Geschäftsführerin Carola Schütt sowie Hannes Kerber, der von dem ehemaligen Geschäftsführer Heinrich Meier promoviert wurde.[33][34]
Gegenüber der Presse hat die Stiftung die Mitarbeiterführung als Grund für die Kündigung angegeben.[35] Die Kündigung wurde im April 2023 von Gerichten für „gegenstandslos“ erklärt.[36][37] Damit verbunden ist eine sechsstellige Abfindungszahlung der Stiftung an Marcel Lepper.[37] Die Schweigepflichten im Rahmen der Einigung wurden zurückgenommen.[5]
Seitdem wird im Feuilleton, aber auch in den sozialen Netzwerken über Strukturen und Netzwerke der Stiftung diskutiert.[31] Von der Zeit und der Süddeutschen Zeitung wurde auch das Finanzverhalten der gemeinnützigen Stiftung vor 2022 kritisch erörtert.[8] Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die von Lepper begonnene Aufarbeitung der Stiftungsgeschichte.[19] Lepper sagte dem Bayerischen Rundfunk, dass die Stiftung ihr Archiv seit Jahrzehnten für die Forschung unzugänglich gehalten und zahlreiche wissenschaftliche Anfragen abgewiesen habe. Das Archiv dokumentierte u. a. die Verstrickung der Stiftung in rechte Netzwerke.[5] Lepper berichtete, er habe die Digitalisierung des Archivs konzipiert und das Gespräch mit Zeithistorikern eröffnet. Bei der Durchführung sei er in der Stiftung und bei den Anhängern seines Vorgängers Heinrich Meier auf schwere Blockaden gestoßen.[5][37]
Publikationen
Die Stiftung veröffentlicht seit 1961 regelmäßig Dokumentationen der Vorträge in der Stiftung in ihrer Reihe „Themen“. Seit 1961 sind über 100 Bände erschienen.[38]
Lepper wirft der Stiftung vor, dass sie das in ihrem Besitz befindliche Archiv u. a. über die rechten Netzwerke der Stiftung über Jahrzehnte für die Forschung „nicht nur gesperrt und nicht zugänglich gemacht“ habe, sondern die Stiftung auch „geleugnet [habe], dass es solche Überlieferungen in der Stiftung überhaupt“ gebe.[5]
Die Vorwürfe Leppers richten sich auch gegen die Alters- und Geschlechtsstruktur der Stiftung. Sie lade insbesondere seit der Übernahme der Geschäftsführung durch Heinrich Meier (1985) „fast ausschließlich männliche Wissenschaftler“ ein und weise „misogyne Strukturen“ auf.[5] Die Gremien der Stiftung ferner seien überaltert und rein männlich besetzt.[5]
Peter Kratz: Siemens zum Beispiel ... Seite 33–82, in In bester Gesellschaft. Antifa-Recherche zwischen Konservativismus und Neo-Faschismus. Herausgegeben von Raimund Hethey und Peter Kratz, Verlag die Werkstatt Mai 1991
↑ abcRudolf Stumberger: Geldwerte Geheimnisse. In: junge welt. 27. Mai 2023, abgerufen am 27. Mai 2023.
↑ abJürgen Kaube: "Eklat bei der Siemens Stiftung: Maximales Fiasko". In: FAZ.NET. 27. Februar 2023, ISSN0174-4909 (faz.net [abgerufen am 28. Februar 2023]).
↑Carl Schmitt, Armin Mohler, Irmgard Huhn, Piet Tommissen: Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler. Akademie Verlag, 1995, S. 422, Fußnote 518
↑Renate Schostack: Ein Oxford in München. Siemens-Stiftung: Vorträge für ein erlesenes Publikum. In: FAZ. 4. April 1989.
↑Gustav Seibt über Salvatore Settis, FAZ, 20. Mai 1992; Klaus Bennert über Jean Starobinski, SZ, 7. Dezember 1992; Clemens Pornschlegel über François Furet, SZ,3./4. Februar 1996; Renate Schostack über John M. Coetzee, FAZ, 19. März 2001; Ijoma Mangold über Hans Ulrich Gumbrecht, SZ, 5. Juni 2003; Jürgen Kaube über Michael Theunissen, FAZ, 26. Mai 2004; Uwe Justus Wenzel über Ernst-Wolfgang Böckenförde, NZZ, 30. Oktober 2006; Patrick Bahners über Robert Pippin, FAZ, 27. Januar 2010; Patrick Bahners über Brendan Simms, FAZ, 30. März 2011; Johan Schloemann über Giorgio Agamben, SZ, 16. Mai 2012; Patrick Bahners über David Wellbery, FAZ, 17. Januar 2017.
↑Wolfgang Purtscheller, Heribert Schiedel: Theorien der »Neue Rechten«. In: Wolfgang Purtscheller (Hrsg.): Die Ordnung, die sie meinen. »Neue Rechte« in Österreich. Picus Verlag, Wien 1994, S. 19.
↑Peter Glotz: Die deutsche Rechte. Eine Streitschrift. 1989, S. 137.
↑Thomas Assheuer, Hans Sarkowicz: Rechtsradikale in Deutschland. Die alte und die neue Rechte. Beck Verlag 1990, S. 139.
↑Astrid Lange: Was die Rechten lesen. Fünfzig rechtsextreme Zeitschriften – Ziele, Inhalte, Taktik. Beck’sche Reihe 1014, Verlag Chr. Beck München 1993, ISBN 3-406-37404-2, S. 61.
↑Claus Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende. Berlin 1987.
↑Margret Feit: Die „Neue Rechte“, in: Oswalt, Walter (Hrsg.): Die Rückkehr der Führer: Rechtsradikalismus in Westeuropa. Wien 1989, S. 31–42.
↑Susanne Mantino: Die ‘Neue Rechte’ in der ‘Grauzone’ zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus. Eine systematische Analyse des Phänomens ‘Neue Rechte’. Frankfurt/M. u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 31, Politikwissenschaft; Bd. 199)
↑Patrick Bahners: Warum hat die Siemens-Stiftung Marcel Lepper gekündigt? In: FAZ.NET. 22. Juni 2023, ISSN0174-4909 (faz.net [abgerufen am 23. Juni 2023]).
↑Heinz Sarkowski: Rudolf Kochs Deutschlandkarte als Politikum. In: Philobiblon. Band43, Nr.1, 1999, ISSN0031-7969, S.27–34.