Wirtschaftliche BetrachtungsweiseDie wirtschaftliche Betrachtungsweise (englisch substance over form) ist ein Grundsatz des Bilanz-, Handels- und Steuerrechts, wonach bilanzielle Sachverhalte im Zweifel nach dem wirtschaftlichen Ergebnis und weniger nach ihrer Form zu beurteilen sind. AllgemeinesWirtschaftliche Sachverhalte beinhalten meist wirtschaftliche und rechtliche Aspekte, deren Ergebnis oft nicht übereinstimmt. Auch bei der Bilanzierung und Besteuerung können Geschäftsvorfälle nach rechtlichen oder wirtschaftlichen Kriterien beurteilt werden. Das trifft vor allem dort zu, wo Eigentum und Besitz an derselben Sache auseinanderfallen. Dann stellt sich bei steuer- und bilanzierungspflichtigen Unternehmen die Rechtsfrage, ob der Eigentümer oder Besitzer einen Vermögensgegenstand zu bilanzieren hat. Diese Vorrangfrage beantwortet das Handels- und Steuerrecht. Eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ist dabei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.[1] Im Rahmen der Interpretation handelsrechtlicher Normen stellt die wirtschaftliche Betrachtungsweise eine teleologische Auslegung von Gesetzesvorschriften dar[2] und dient der Beurteilung von Sachverhalten. Geschäfte sind deshalb nach ihrem tatsächlichen wirtschaftlichen Gehalt (englisch actual substance) und nicht nach formal-rechtlichen Kriterien (englisch legal form) zu beurteilen und darzustellen. Handels- und SteuerrechtSeit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz vom Mai 2009 regelt § 246 Abs. 1 Satz 2 HGB, dass Vermögensgegenstände in der Bilanz des Eigentümers aufzunehmen sind. Ist jedoch ein Vermögensgegenstand nicht dem Eigentümer, sondern einem anderen wirtschaftlich zuzurechnen, hat dieser ihn in seiner Bilanz auszuweisen. Diese Regelung findet sich konform im Steuerrecht, wonach gemäß § 39 AO zwar Wirtschaftsgüter dem Eigentümer zuzurechnen sind; wenn aber ein anderer Besitzer den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann, dann ist diesem Besitzer das Eigentum zuzurechnen. Rechtswidrige und sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind zwar rechtlich nichtig, müssen jedoch trotzdem der Besteuerung unterworfen werden, als wären sie rechtswirksam. Deshalb regeln § 40 AO und § 41 AO die steuerliche Wirksamkeit der an sich nichtigen Rechtsgeschäfte. ArtenDie wirtschaftliche Betrachtungsweise betrifft insbesondere Eigentumsvorbehalt, Sicherungsübereignung, Finanzierungsleasing oder Scheingeschäfte.
Auch in Fällen des Nießbrauchs können der bürgerlich-rechtliche Eigentümer eines Grundstücks oder grundstücksgleichen Rechts und der wirtschaftliche Eigentümer verschieden sein. GestaltungsmissbrauchEine weitere Facette der wirtschaftlichen Betrachtungsweise liegt im sogenannten Gestaltungsmissbrauch. Dieser liegt vor, wenn die vertragliche Gestaltung nur gewählt wurde, um Steuern zu sparen. Die Besteuerung wird deshalb nicht an der missbräuchlich gewählten vertraglichen Gestaltung ausgerichtet, sondern danach, wie es bei einer den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessenen Gestaltung der Fall gewesen wäre (§ 42 AO). InternationalIn der Schweiz wird die wirtschaftliche Betrachtungsweise aus Art. 958 Abs. 1 OR abgeleitet, wonach die Rechnungslegung die wirtschaftliche Lage des Unternehmens so darstellen soll, dass sich Dritte ein zuverlässiges Urteil bilden können. Im österreichischen Abgabenrecht ist das Prinzip der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in § 21 Bundesabgabenordnung (BAO)[7] geregelt. Gemäß IAS 1.20b ist vom Management sicherzustellen, dass die Rechnungslegung verlässliche Informationen enthält, die die Substanz der Geschäftsvorfälle wiedergibt und nicht deren rechtliche Form (englisch substance over form).[8] Beim Eigentumsvorbehalt (englisch retention of title) wird deshalb die Ware nicht vom Lieferanten, sondern vom Käufer bilanziert. Die dem Sicherungseigentum entsprechende englische „Mobiliarhypothek“ (englisch chattel mortgage) (sec. 9 Bill of Sale Act)[9] wird weiterhin beim Sicherungsgeber und nicht von Kreditinstituten bilanziert, auch wenn sie – anders als die Sicherungsübereignung – akzessorisch ist. Beim Finanzierungsleasing wird ein Kauf unterstellt, wenn alle Rechte und Pflichten auf den Leasingnehmer übergegangen sind oder eine Kaufoption mit einem über dem Restbuchwert liegenden Kaufpreis vorliegt. Das operative Leasing wird wie Miete beurteilt, so dass der Leasinggeber die Gegenstände zu aktivieren hat (IAS 17). SonstigesNach § 2 Abs. 1 der Zinsinformationsverordnung gilt als „wirtschaftlicher Eigentümer“ jede natürliche Person, die eine Zinszahlung vereinnahmt oder zu deren Gunsten eine Zinszahlung erfolgt, es sei denn, sie weist nach, dass sie die Zahlung nicht für sich selbst vereinnahmt hat oder sie nicht zu ihren Gunsten erfolgt ist. Einzelnachweise
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