Tauwetter ist ein Selbsthilfeprojekt von Männern und für Männer, die als Junge sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Träger der Anlaufstelle des Projekts ist ein als gemeinnützig anerkannter eingetragener Verein mit Sitz im Mehringhof in Berlin. Durch Vernetzung mit anderen Projekten, Mitarbeit in verschiedenen Bundesgremien, Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildungen, Telefonberatung und einen Internet-Auftritt mit Adressen- und Literaturliste ist der Verein auch außerhalb Berlins wirksam.
Aus einer Selbsthilfegruppe heraus entstand Anfang 1995 im Mehringhof in Berlin-Kreuzberg die Anlaufstelle Tauwetter.[1][2] Der Verein Tauwetter, vereint gegen sexualisierte Gewalt e.V. wurde im April 1999 gegründet.[3] Von Anfang an wird konsequent am Prinzip der Hilfe durch Betroffene für Betroffene festgehalten; gemeinsam mit anderen Projekten wurde der betroffenenkontrollierte Ansatz entwickelt.[4][5][6] Tauwetter versteht sich als parteilich zugunsten der Opfer sexualisierter Gewalt; Täterarbeit wird bewusst nicht angeboten.[7]
Tauwetter gehörte zu den wenigen Anlaufstellen, die schon Mitte der 90er Jahre Unterstützung für betroffene Männer angeboten haben, und ist auch heute noch eines von wenigen Angeboten für Männer, die in ihrer Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt waren.[8][1]
Seit Anfang 2013 wird die Arbeit der Anlaufstelle vom Berliner Senat getragen.[9] Der notwendige Eigenanteil wird durch zusätzliche Angebote (s. u.) sichergestellt.[10]
In der Anlaufstelle gibt es einen Beratungs- und einen Selbsthilfebereich, deren Träger der gemeinnützige Verein Tauwetter ist.
Im Beratungsbereich wird für betroffene Menschen (der Verein adressiert „Männer*“, wobei der Stern für die Selbstbezeichnung weiterer Geschlechter steht, vgl. Intersexualität)[13][14] und auch für unterstützende Personen,[15] Paare[16] und beruflich mit dem Thema Konfrontierte[17] Beratung in persönlicher, telefonischer oder schriftlicher Form angeboten.[18]
Im Selbsthilfebereich werden insbesondere – in ihrer Anfangsphase von in der Selbsthilfe erfahrenen Männern begleitete – Gruppen angeboten.[19]
Außerdem bietet Tauwetter Fallsupervisionen, Fortbildungen, Vorträge, Workshops, Medienberatung und verschiedene Beiträge zur Prävention sexualisierter Gewalt an.[20] Mit Fortbildungen, Vorträgen und Workshops ist Tauwetter bundesweit aktiv.[21][22]
Durch eine umfangreiche Auflistung weiterer Hilfsangebote auf seiner Homepage nimmt Tauwetter eine bundesweite Vernetzungsfunktion für hilfesuchende Männer ein.[23]
Ziele
Ziel von Tauwetter ist es, in ihrer Kindheit oder Jugend von sexualisierter Gewalt betroffene „Männer*“ auf ihrem Weg zu einem selbstbestimmteren Leben zu unterstützen.
Weitere Ziele sind die Prävention von sexualisierter Gewalt und das Voranbringen des Themas sexualisierte Gewalt in der Öffentlichkeit.
Engagement als Betroffene für Betroffene
In Kooperation mit Wildwasser wurde im September 2010 der erste bundesweite Kongress Betroffener sexualisierter Gewalt unter dem Titel "Aus unserer Sicht" organisiert. Über 100 Betroffene aus dem gesamten Bundesgebiet haben einen Forderungskatalog erarbeitet.[24] Dieser wurde auf einer Pressekonferenz den Medien und von einer Vertreterin von Wildwasser und einem Vertreter von Tauwetter am Runden Tisch vorgestellt.[25][26]
Im Jahr 2011 hat Tauwetter zusammen mit Wildwasser einen "Block der Gesichtslosen" von Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Demonstration anlässlich des Papstbesuches in Berlin organisiert.[27] 500 Teilnehmende, viele von ihnen mit weißen Masken vorm Gesicht, riefen dem Papst entgegen "Non absolvimus vos" – wir vergeben euch nicht.[28][29]
Mitarbeit am Runden Tisch und beim UBSKM
Seit 2010 ist Tauwetter auf bundespolitischer Ebene aktiv und bringt „ihre Analyse, ihre Veröffentlichungen, ihre kritischen und konstruktiven Zwischenrufe und ihre kreativen Ansätze“ auch in Bundesgremien ein.[30]
Tauwetter war 2010 am Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch in der Unterarbeitsgruppe „Beratungsnetzwerk, in dem Betroffene sexualisierter Gewalt und deren Angehörige kompetente Beratung, Unterstützung und Begleitung erfahren“ tätig und hat sich mit inhaltlichen Beträgen und Stellungnahmen an der Arbeitsgruppe I „Prävention – Intervention – Information“ unter Leitung von Ministerin Kristina Schröder beteiligt.[31][32]
Zur selben Zeit hat Tauwetter im wissenschaftlichen Beirat der Telefonischen Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten Christine Bergmann mitgearbeitet.[33]
Tauwetter ist Mitglied der Bund-Länder-AG zum Monitoring des Aktionsplans 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung.[35]
Publikationen
Stefan Sack und die Gruppe Tauwetter: Selbsthilfegruppen für Männer, ihre Bedeutung für den Heilungsprozeß nach sexuellem Missbrauch. In: Gitti Hentschel (Hrsg.): Skandal und Alltag : sexueller Missbrauch und Gegenstrategien. Orlanda Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-929823-38-1, S.135ff.
Autorengruppe Tauwetter: Tauwetter: Ein Selbsthilfe-Handbuch für Männer, die als Junge sexuell mißbraucht wurden. 1. Auflage. DONNA VITA Marion Mebes OHG, Ruhnmark 1998, ISBN 3-927796-57-3, S.93/96 (neue ISBN 978-3-927796-57-7).
Thomas Schlingmann und andere Mitarbeiter von Tauwetter: Selbsthilfe – Ein taugliches Konzept für Männer, die als Junge Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind? Erfahrungen der Anlaufstelle Tauwetter. In: Hans-Joachim Lenz (Hrsg.): Männliche Opfererfahrungen : Problemlagen und Hilfeansätze in der Männerberatung. Juventa-Verlag, Weinheim / München 2010, ISBN 978-3-7799-1364-1 (tauwetter.de).
Thomas Schlingmann: Männlichkeit, sexuelle Gewalterfahrung und Drogenkonsum. In: Silke-Birgitta Gahleitner, Connie Lee Gunderson (Hrsg.): Gender, Trauma, Sucht : Neues aus Forschung, Diagnostik und Praxis. Geleitw. von Michaela Huber. Asanger, Kröning 2009, ISBN 978-3-89334-542-7.
Thomas Schlingmann: Die gesellschaftliche Bedeutung sexueller Gewalt und ihre Auswirkung für männliche Opfer. In: Beratungsstelle kibs (Hrsg.): Es kann sein, was nicht sein darf: Jungen als Opfer sexualisierter Gewalt. Dokumentation der Fachtagung am 19./20.11. 2009 in München / kibs, Kinderschutz e.V. Books on Demand, Norderstedt 2009, ISBN 978-3-8423-4644-4.
Thomas Schlingmann: Beratung von Männern, die als Junge sexuelle Gewalt erleben mussten. In: Kind im Zentrum (Hrsg.): Perspektive des Kindes : Beratung und Therapie bei sexuellem Missbrauch. Zsgest. von Udo Wölkerling. 1. Auflage. EJF, Berlin 2010, DNB1042333645.
Peter Mosser, Thomas Schlingmann: Plastische Chirurgie an den Narben der Gewalt – Bemerkungen zur Medizinisierung des Traumabegriffs. In: Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis e.V (Hrsg.): Forum Gemeindepsychologie. 1 Jg. 18 (2013). Pabst Science Publishers, 2013, ISSN1430-094X, DNB98653997X (gemeindepsychologie.de [abgerufen am 18. März 2016]).
Thomas Schlingmann: Alles Trauma oder was? In: Wildwasser e.V. (Hrsg.): Vom Tabu zur Schlagzeile. 30 Jahre Arbeit gegen sexuelle Gewalt – viel erreicht?! Kongressdokumentation. Berlin September 2013 (wildwasser-berlin.de [PDF; 2,4MB; abgerufen am 22. März 2016]).
Thomas Schlingmann: Des Kaisers neue Kleider? - Eine Kritik an "kein Täter werden". In: DGfPI (Hrsg.): Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Nr.1/2015, 2015 (tauwetter.de [PDF; 673kB; abgerufen am 18. März 2016]).
Thomas Schlingmann: Für ein neues Verhältnis von Wissenschaft, Praxis und Betroffenen – Anmerkungen aus der Perspektive eines forschenden, betroffenen Praktikers. In: DGfS (Hrsg.): Zeitschrift für Sexualforschung. Nr.4/2015. Thieme, 2015, ISSN0932-8114, DNB013761587.
↑Wildwasser, Weglaufhaus "Villa Stöckle", Tauwetter: Betrifft Professionalität. Paritätischer Wohlfahrtsverband, Berlin 2004 (wildwasser-berlin.de [PDF; 200kB; abgerufen am 22. März 2016]).
↑Themenschwerpunkt Betroffenenkontrollierter Ansatz. In: Bundesverein zur Prävention von sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen e.V. (Hrsg.): Prävention. Nr.3/2006. Bundesverein zur Prävention von sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen e.V., April 2006, ISSN1436-0136 (dgfpi.de [PDF; 1,5MB; abgerufen am 22. März 2016]).
↑Christine Bergmann: Ein Tabu wird gebrochen. In: Tauwetter e.V. (Hrsg.): Der vorgezeichnete Weg? Wie wir wurden, was wir sind. Ein Rückblick auf die ersten 20 Jahre. Eigenverlag, Berlin 2014.
↑Thomas Schlingmann: Die gesellschaftliche Bedeutung sexueller Gewalt und ihre Auswirkung für männliche Opfer. In: Beratungsstelle kibs (Hrsg.): Es kann sein, was nicht sein darf: Jungen als Opfer sexualisierter Gewalt. Dokumentation der Fachtagung am 19./20.11. 2009 in München / kibs, Kinderschutz e.V. Books on Demand, Norderstedt 2009, ISBN 978-3-8423-4644-4.
↑Thomas Schlingmann: Das Schweigen der Männer. (PDF; 112 kB) Inputreferat zum ökumenischen Kirchentag in München 2010. Abgerufen am 22. März 2016.
↑Aus unserer Sicht - Kongress: Positionspapier und Forderungen des bundesweiten Kongress "Aus unserer Sicht" von Menschen, denen als Kindern oder Jugendlichen sexualisierte Gewalt angetan worden ist. (PDF; 503 kB) am 25. und 26. September 2010 in Berlin. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 22. März 2016.@1@2Vorlage:Toter Link/www.wildwasser-berlin.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
↑Wildwasser Berlin, Tauwetter: Gegen sexualisierte Gewalt! Non absolvimus vos! (PDF; 4,0 MB) Aufruf zum Block der Gesichtslosen auf der Demo gegen den Papstbesuch. 22. September 2011, abgerufen am 22. März 2016.
↑Tauwetter, Wildwasser Berlin: Block der Gesichtslosen gegen sexualisierte Gewalt. Ausschnitte aus den Redebeiträgen des Blocks. In: FRN Audioportal Freier Radios. Bundesverband Freier Radios, 25. September 2011, abgerufen am 24. März 2016.