Reichskanzler (Weimarer Republik)Reichskanzler war die Bezeichnung für den Regierungschef in der Weimarer Republik. Die Bezeichnung „Reichskanzler“ hatte es bereits zuvor im Kaiserreich für den einzigen verantwortlichen Minister gegeben. Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 nahm die Bezeichnung wieder auf; auch der Regierungschef des nationalsozialistischen Regimes (seit 1933) nannte sich Reichskanzler. In der Weimarer Republik war der Regierungschef Mitglied einer Kollegialregierung, der Reichsregierung. Allerdings hatte der Reichskanzler besondere Rechte, die ihn vor den Reichsministern heraushoben. Laut Weimarer Verfassung bestimmte der Reichskanzler die „Richtlinien der Politik“. Wie auch in anderen politischen Systemen war der Regierungschef der Weimarer Zeit in vielfältige institutionelle und politische Zwänge eingebunden. Der Reichskanzler musste die Wünsche seiner eigenen Partei berücksichtigen sowie die seiner Koalitionspartner. Eventuell war die Regierung eine Minderheitsregierung, die die Unterstützung weiterer Parteien im Parlament benötigte, dem Reichstag. Schließlich gab es außerhalb der Reichsregierung das Staatsoberhaupt, den Reichspräsidenten. Der Reichspräsident hatte wichtige Sonderrechte auf dem Gebiet des Militärs und der Außenpolitik und war überhaupt derjenige, der die Regierung ernannte und entließ. Als später das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entstand, wollte man ausdrücklich ein weniger mächtiges Staatsoberhaupt. Das führte in der Bundesrepublik zur Stärkung der Position des Bundeskanzlers. Entstehung des AmtesIn der deutschen Verfassungsgeschichte war es zunächst nicht üblich, dass die Verfassung einen der Minister als Chef der Minister vorsah. Ähnlich war es in ausländischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts. In der Praxis leitete aber tatsächlich einer der Minister die Sitzungen des Ministerrats und vertrat diesen auch sonst nach außen. Noch der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck musste jedoch um eine Sonderstellung kämpfen, dass zum Beispiel der Ministerpräsident bestimmte, welcher Minister außer ihm dem König vortragen durfte. Ein Ministerpräsident war damals übrigens einer der Fachminister, der zusätzlich die Leitung übernahm. Bei den Verfassungsberatungen im konstituierenden Reichstag (1867) wollten die Liberalen eine kollegiale Regierung, doch Bismarck setzte sich damit durch, dass die Exekutive nur aus einer Person bestand, dem Bundeskanzler. Dieser erhielt 1871 den verfassungsgemäßen Titel Reichskanzler. Das Stellvertretungsgesetz von 1878 wertete die Staatssekretäre auf: Seitdem durften auch diese die Handlungen des Monarchen gegenzeichnen. Die Staatssekretäre, also die Leiter der obersten Bundes- bzw. Reichsbehörden, blieben aber dem Reichskanzler untergeordnete Beamte. Nach der Novemberrevolution 1918 gab es zunächst keine verfassungsmäßige Ordnung mehr. Die Macht übte der Rat der Volksbeauftragten aus. Die 1919 gewählte Nationalversammlung setzte zwei Verfassungsordnungen ein. Die vorläufige vom 10. Februar 1919, das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, sprach nur von den „Reichsministern“, die der Reichspräsident ernannte. Das war eine wichtige Vorentscheidung für eine kollegiale Regierung. Der Regierungschef erhielt die Amtsbezeichnung „Reichsministerpräsident“,[1] wie bereits der Leiter der Provisorischen Zentralgewalt 1848/1849. Aufgaben und AmtsführungDie Weimarer Reichsverfassung schließlich führte die Zweiteilung der Exekutive fort: Reichspräsident und Reichsregierung. Letztere erhielt nun aber neben den Reichsministern einen Reichskanzler (Art. 52 WRV), der die Richtlinien der Politik bestimmte (Art. 56 WRV). Er allein hatte diese Richtlinien gegenüber dem Reichstag und dem Reichspräsidenten zu verantworten. Er beurteilte, ob die Geschäftsführung der einzelnen Reichsministerien den Richtlinien entsprach. Die Beschlüsse der Regierung bedurften allerdings einer Stimmenmehrheit (Art. 58 WRV); so konnte der Reichskanzler ebenso wie ein Ressortminister überstimmt werden. Innerhalb der Regierung hatte der Reichskanzler den Vorsitz, die Geschäfte hatte er nach Maßgabe einer Geschäftsordnung zu leiten.[2][3] Es war in der Weimarer Verfassung nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen, dass ein Reichskanzler zugleich ein Ressort leitete. Außerhalb der Verfassung war durch die Geschäftsordnung (3. Mai 1924) geregelt, dass der Reichskanzler einen Stellvertreter ernannte. Wie schon im Kaiserreich gab es dafür die inoffizielle Bezeichnung Vizekanzler. Nach der Weimarer Verfassung vertrat der Reichskanzler den Reichspräsidenten bei Amtsunfähigkeit oder vorzeitiger Beendigung des Amtes. Im letzteren Fall sollte ein Reichsgesetz das weitere Vorgehen regeln. Im Jahr 1925 bestimmte ein solches Reichsgesetz, dass der Präsident des Reichsgerichts diese Aufgabe übernahm, bis ein neuer Reichspräsident gewählt sein würde. Am 9. Dezember 1932 (403 gegen 126 Stimmen) stimmte der Reichstag für eine Verfassungsänderung: Mit Gesetz vom 17. Dezember wurde allgemein der Präsident des Reichsgerichts zum Vertreter des Reichspräsidenten.[4] Die Richtliniengewalt des Reichskanzlers war in der Praxis eingeschränkt durch seine eigene Partei sowie die übrigen Parteien in der Regierungskoalition. Entsprechend waren die Weimarer Reichskanzler Persönlichkeiten, deren Stärke in der Vermittlung und weniger in der politischen Initiative lag.[5] Verfassungsrechtlich kam hinzu, dass der Reichspräsident einige Sonderrechte hatte. Zwar bedurften die Handlungen des Reichspräsidenten der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler bzw. den oder die betroffenen Reichsminister. Allerdings musste der Reichspräsident stets über die Vorhaben in der Außenpolitik und in der Wehrpolitik informiert werden. Der Oberbefehl über die Reichswehr war substanziell Sache des Reichspräsidenten, auch wenn er den Oberbefehl nicht ohne Gegenzeichnung des Reichswehrministers ausüben konnte. Nicht nur Reichsaußenminister und Reichswehrminister befanden sich in einer besonderen Situation, die im konkreten Streitfall ihre Position gegenüber dem Reichskanzler und dem Kabinett stärken konnte: Seit 1930 bestimmte die Reichshaushaltsordnung ein Vetorecht für den Reichsfinanzminister.[6] Ernennung und EntlassungLaut Verfassung ernannte und entließ der Reichspräsident den Reichskanzler und die Reichsminister; die Reichsminister ernannte der Reichspräsident auf Vorschlag des Reichskanzlers (Art. 53 WRV). Die Regierungsmitglieder bedurften aber des Vertrauens des Reichstags (Art. 54 WRV). Aus diesen Bestimmungen ist die Frage erwachsen, wer tatsächlich für die Regierungsbildung zuständig gewesen ist. Stillschweigend, so Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber, war die Verfassung davon ausgegangen, dass der Reichspräsident vorab mit den Parteiführern im Reichstag spricht. Aufgrund dieser Gespräche würde der Reichspräsident einen Eindruck davon erhalten, welcher Reichskanzler im Reichstag eine dauerhafte Mehrheit finden würde. Der Reichspräsident sollte dem Sinn der Weimarer Verfassung nach also die Initiative haben.[7] Allerdings oblag die Aufgabe, die eigentliche Reichsregierung zusammenzustellen, dem Reichskanzler. Der Reichspräsident konnte niemanden zum Reichsminister ernennen, den der Reichskanzler nicht vorgeschlagen hatte. Der Reichstag konnte die Entlassung jedes einzelnen Regierungsmitglieds fordern, also auch die des Reichskanzlers. Außerdem war es dem Reichstag möglich, den Reichskanzler sowie die Reichsminister und den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen (Art. 54 und 59 WRV). Amtsträger
Das nachfolgende Kabinett Hitler war faktisch die Auflösung der Weimarer Republik, auch wenn de jure hiermit die Koalition von NSDAP, DNVP und Stahlhelm durch Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zu einer Regierung der Weimarer Republik ernannt wurde. BewertungAnders als das Amt des Reichspräsidenten ist das Amt des Reichskanzlers im Nachhinein wenig umstritten. Der Bundeskanzler wurde 1949 im Vergleich zum Reichskanzler stark aufgewertet: Nur der Deutsche Bundestag ist an der Wahl des Bundeskanzlers beteiligt, und er ist der einzige, gegen den sich ein Misstrauensvotum richten kann. Das Misstrauensvotum ist nur gültig, wenn der Bundestag gleichzeitig einen neuen Bundeskanzler wählt. Die Mitbeteiligung des Bundespräsidenten an Regierungsakten wurde wesentlich beschränkt. Im Jahr 2003 wurde in Berlin die Ausstellung „Die Reichskanzler der Weimarer Republik – Zwölf Lebensläufe in Bildern“ eröffnet. Bernd Braun von der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte hielt dabei eine Rede, in der er die zwölf Amtsträger würdigte. Braun zufolge seien fast alle Reichskanzler außer Stresemann heute kaum bekannt, weil sie erstens jeweils nur kurz (im Durchschnitt 426 Tage) regierten, weil sie zweitens für den Untergang der Weimarer Republik mitverantwortlich gemacht wurden, und weil es drittens nur wenige Fotos über sie gibt. Die Reichskanzler seien noch keine „Medienkanzler“ mit Gespür für public relations gewesen und daher nicht „im visuellen Gedächtnis der Nation“ verankert.[9]
– Bernd Braun: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Die Reichskanzler der Weimarer Republik – Zwölf Lebensläufe in Bildern“ Einzelnachweise
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