Schemazeichnung: Wimpertierchen der Plagiopylea mit seinem bakteriellen Endosymbionten Ca. Azoamicus ciliaticola; gelb: Endosymbionten, blaugrün: im Zentrum der Makronucleus mit dem Mikronucleus an der Seite.
Die Klasse ist in herkömmlichen Taxonomienmonotypisch in der Ordnung Plagiopylida.
Nach neueren phylogenetischen Analysen (Graf et al., 2021) gibt es unter den Plagiopylea zwei Kladen, d. h. neben der Ordnung Plagiopylida (mit Arten wie Plagiopyla frontata und Trimyema compressum) noch eine zweite Gruppe, die mit denitrifizierenden bakteriellen Endosymbionten aus der Klasse Gammaproteobacteria assoziiert sind – zu ihnen gehört die Familie Epalxellidae mit einem zuerst im Schweizer Zugersee gefundenen anoxischen Vertreter mit dem obligaten Endosymbionten CandidatusAzoamicus ciliaticola.
Die diese Familie beinhaltende Ordnung Odontostomatida stellt daher (Monophylie vorausgesetzt) die zweite Klade dar.[1][2]
Plagiopylida ist eine kleine Ordnung der Wimpertierchen, bei deren Mitgliedern die Körperwimpern (oder -zilien) dicht stehen und von Monokinetiden[3][A. 1] abgehen und die eine ganz einzigartige Ultrastruktur auszeichnet. Eine oder zwei Reihen von Dikinetiden[4][A. 1] laufen in die Mundhöhle (englischoral cavity). Diese hat die Form einer tiefen, mit Mundwimpern ausgekleideten Röhre, die von einer Rille aus zum Zellmund führt.[5][2]
Die Ordnung Plagiopylida wurde 1985 von Eugen Small und Denis Lynn als eine Unterklasse der Oligohymenophorea eingeführt. Seitdem werden sie in der Regel aber als eigenständige Klasse behandelt, es wurde auch eine Verbindung mit den Colpodea diskutiert.[5][2]
Ordnung Odontostomatida
Odontostomatida ist ebenfalls eine kleine Wimpertierchen-Ordnung. Die Einzeller benutzen ihre (Körper-)Zilien (Flimmerhärchen) insbesondere um sich fortzubewegen.[6]
Als ein repräsentativer Vertreter dieser Gruppe gilt Saprodinium dentatum,
dessen Feinstruktur 1908 von Hans-Gunther Schrenk und Christian F. Bardele beschrieben wurde.
Die bisherige Charakterisierung konzentriert sich auf eine detaillierte Analyse des somatischen Cortex (der „Rindenschicht“ des Zellkörpers) und der oralen Ziliatur (Zilien im Bereich des Zellmunds) dieses stark asymmetrischen, seitlich (lateral) komprimierten Wimpertierchens.
Die Zellform wird von einer Reihe ortsspezifisch unterschiedlicher „Stacheln“ (englischspines) und dem gekrümmten Verlauf von 10 somatischen Kinetien (Zilienreihen: SK 1-10) dominiert.
Die SK, die aus Dikinetiden bestehen, weisen eine Differenzierung auf, die auch für andere Odontostomatida charakteristisch zu sein scheint.
Das vordere Segment der SK ist überwiegend bewimpert, gefolgt von einem nicht bewimperten Segment, in dem den Kinetosomen alle typischen Fasersysteme fehlen.
Mit Ausnahme von SK 4-6 ist das hintere Segment wieder bewimpert und bildet die Stachelkinetosomen, die mit bestimmten kaudalen Stacheln („Schwanzstacheln“) verbunden sind.
Das vordere Segment von SK 3 bis SK 7 bildet das Frontalband, es stellt zusammen mit den beiden Frontalkinetien die hauptsächliche der Fortbewegung dienende Organell-Struktur (engl. main locomotory organelle) eines auf dem Substrat kriechenden Wimpertierchens dar.
Eine kurze Kinetie mit umgekehrter Polarität wurde in der Nähe des oralen Stachels beobachtet, sie war offenbar in früheren lichtmikroskopischen Studien übersehen worden.[7]
Endosymbiose
Untersuchungen von Proben aus verschiedener Tiefe, insbesondere der tieferen anoxischen Schicht des meromiktischen Schweizer Zugersees durch Graf et al. führten 2021 zur Entdeckung des anoxischen GammaproteobakteriumsCa.Azoamicus ciliaticola, das in einer intrazellären Symbiose mit seinem Wimpertierchenwirt lebt.[1] Weitere Beispiele derartiger Symbiosen mit bakteriellen Endosymbionten der Gattungen Ca. Azoamicus und Ca. Azosocius (beide Familie Ca.Azoamicaceae) wurden per Metagenomik in Grundwasserproben vom Hainich[A. 2] und in Ohio (USA)[A. 3] gefunden.
Die metagenomischen Daten verwiesen auf Wimpertierchen-Wirte der Ordnung Odontostomatida.
Der Wimpertierchenwirt von Ca. Azoamicus ciliaticola enthält offenbar keine echten funktionalen Mitochondrien, sondern stoffwechselreduzierte Mitochondrien-verwandte Organellen (engl. mitochondrion-related organelles, MROs). Dafür versorgen die bakteriellen Endosymbionten der Gattungen Ca. Azoamicus und Ca. Azosocius die Wimpertierchen mit der zum Leben nötigen Energie in Form von ATP; im Englischen werden solche endosymbiotischen Bakterien auch Host beneficial endosymbionts (HBEs)‚dem Wirt nützliche Endosymbionten‘ genannt.[10]
Phylogenetische Analysen zeigten, dass diese Odontostomatida-Wimpertierchen zur Klasse Plagiopylea gehören. Das extrem reduzierte Genom der Endosymbionten deutet auf ihre langfristige vertikale Vererbung in dieser Wimpertierchen-Ordnung hin.
Die Bakterien der Familie Ca. Azoamicaceae scheinen sich hin zu einem minimalen Gensatz für die ATP-Erzeugung mit Hilfe einer denitrifizierenden und sauerstoffatmenden Atmungskette entwickelt zu haben. Die konservierten Kerngene machen sogar über 80 % des Proteinkomplements der kleinsten Genome in dieser Familie aus.
Stattdessen werden für die Bakterien nötige Proteine im Genom der Wimpertierchen-Wirte kodiert, die erzeugten Proteine werden dann per Proteintargeting in die Bakterien geschleust.
Das Targeting von Wirtsproteinen wurde bereits in seltenen Fällen bei HBEs von Insekten, bei Angomonas deanei (Trypanosomatidae) und vor allem im Chromatophor von Paulinella chromatophora sowie im und im Nitroplast (als Bakterium Ca.Atelocyanobacterium thalassae) von Braarudosphaera bigelowii (Haptophyta) beobachtet.
Solche Funde von Proteintargeting verwischen die Grenzen zwischen den HBEs und Organellen; auch die Azoamicaceae könnten ein weiteres Beispiel für den Übergang von bakteriellen Endosymbionten (HBEs) zu echten Organellen darstellen.
Die bakteriellen Endosymbionten der Gattung Ca. Azosocius scheinen im Gegensatz zu Ca. Azoamicus die Fähigkeit zur Sauerstoffatmung nicht verloren zu haben. Sie ermöglichen es offenbar ihrem Wimpertierchenwirt unter zeitweise oder dauerhaft sauerstoffarmen Bedingungen zu existieren − anders als Ca. Azoamicus in der anoxischen Zone des Zugersees.[1]
Hypothesen zur Entwicklung der Endosymbiose-Beziehung
Die Symbiose zwischen den Bakterien von Ca. Azoamicus und ihrem Plagiopylea-Wirt könnte nach Graf et al. (2021) wie folgt entstanden sein:[1]
Die Anpassung eines ursprünglich aeroben Wimpertierchens an eine anoxische, nitrathaltige Umgebung beinhaltete die Umwandlung seiner aeroben Mitochondrien in Hydrogenosomen.[A. 4]
Erwerb eines fakultativ anaeroben, denitrifizierenden Gammaproteobakteriums, das entweder durch Endozytose (2a) oder als Parasit (2b) in den anaeroben Wimpertierchen-Wirt gelangte (im letzteren Fall verfügte der Vorläufer von Ca. Azoamicus ciliaticola bereits über eine ATP/ADP-Translokase für den energetischen Parasitismus).
Die ATP/ADP-Translokase könnte aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt durch lateralen Gentransfer (LGT) beispielsweise von einem Co-Symbionten aus der Klasse Alphaproteobacteria erworben sein. Durch anhaltend anoxische und nitratreiche Bedingungen könnten es zum Verlust der Gene für die Sauerstoffatmung gekommen sein. Als Ergebnis entstand die heutigen Symbiose zwischen Ca. Azoamicus ciliaticola' und Plagiopylea-Wimpertierchen.
Bedeutung
Endosymbionten sind bei anaeroben Wimpertierchen weit verbreitet. Man hat vorgeschlagen, dass syntrophe Endosymbionten beim Übergang der Wimpertierchen zur anaeroben Lebensweise (Anaerobiose) eine wichtige Rolle spielen.
Wegen ihres Potenzials zur aeroben Atmung sind diese Azoamicaceae offenbar ein interessantes Beispiel für einen bakteriellen Wimpertierchen-Endosymbionten, der eine Anpassung an eine mikroaerobe Lebensweise ermöglicht.[10]
Systematik
Nach den phylogenetischen Analysen von Graf et al. (2021) gibt es unter den Plagiopylea zwei Kladen: die eine umfasst die Ordnung Plagiopylida, die andere beinhaltet u. a. die anoxischen Wimpertierchen aus dem Zugersee, sowie die allgemeinen der Ordnung Odontostomatida zugerechnete Familie Epalxellidae mit der Spezies Epalxella antiquorum.[2][1] Unter diesen Voraussetzungen wäre die Klasse Odontostomatea der NCBI-Taxonomie ein Synonym für Plagiopylea.
↑ ab
Meistens sind die Zilien der Wimpertierchen in Mono- und Dikinetiden angeordnet, die jeweils ein bzw. zwei Kinetosomen (Basalkörper) besitzen, von denen jedes ein Zilium tragen kann. Diese sind in Reihen angeordnet, die Kinetien (englischkineties, Einzahl kinety) genannt werden.
↑Der Besitz von Hydrogenosomen im heutigen Plagiopylea-Wirt beruht auf Hinweisen aus der Einzelzell-Sequenzierung des Transkriptoms (single-ciliate transcriptome sequencing) und bedarf noch einer abschließenden Bestätigung.[1]
↑ abcdefghij
Jon S. Graf, Sina Schorn, Katharina Kitzinger, Soeren Ahmerkamp, Christian Woehle, Bruno Huettel, Carsten J. Schubert, Marcel M. M. Kuypers, Jana Milucka: Anaerobic endosymbiont generates energy for ciliate host by denitrification. In: Nature. 15. Jahrgang, Nr.7850, 3. März 2021, RG:349760357, S.445–450, doi:10.1038/s41586-021-03297-6, PMID 33658719, PMC 7969357 (freier Volltext), bibcode:2021Natur.591..445G (englisch). Dazu:
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Vittorio Boscaro, Luciana F. Santoferrara, Qianqian Zhang, Eleni Gentekaki, Mitchell J. Syberg-Olsen, Javier del Campo, Patrick J. Keeling: EukRef-Ciliophora: a manually curated, phylogeny-based database of small subunit rRNA gene sequences of ciliates. In: Environmental Microbiology. 20. Jahrgang, Nr.6, Juni 2018, S.2218–2230, doi:10.1111/1462-2920.14264, PMID 29727060 (englisch). Siehe insbes. Fig. 4.
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↑ abNIES: Ref ID : 4327. Hans-Gunther Schrenk and Christian F. Bardele; The Fine Structure of Saprodinium dentatum Lauterborn, 1908 as a Representative of the Odontostomatida (Ciliophora). J.Protozool. 38(3):278-293, 1991.
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Carl-Eric Wegner, Michael Gaspar, Patricia Geesink, Martina Herrmann, Manja Marz, Kirsten Küsel: Biogeochemical Regimes in Shallow Aquifers Reflect the Metabolic Coupling of the Elements Nitrogen, Sulfur, and Carbon. In: Applied and Environmental Microbiology, Band 85, Nr. 5, 20. Februar 2019; doi:10.1128/AEM.02346-18, PMC 6384109 (freier Volltext), PMID 30578263 (englisch).
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Daan R. Speth, Linus M. Zeller, Jon S. Graf, Will A. Overholt, Kirsten Küsel, Jana Milucka: Genetic potential for aerobic respiration and denitrification in globally distributed respiratory endosymbionts. In: Nature Communications. 15. Jahrgang, Nr.1, 8. November 2024, RG:385658384, S.9682, doi:10.1038/s41467-024-54047-x, PMID 39516195, PMC 11549363 (freier Volltext) – (englisch). Siehe insbes. Fig. 1. Dazu:
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Karla B. Heidelberg, William C. Nelson, Johanna B. Holm, Nadine Eisenkolb, Karen Andrade, Joanne B. Emerson: Characterization of eukaryotic microbial diversity in hypersaline Lake Tyrrell, Australia. In: Frontiers in Microbiology, Band 4, ISSN1664-302X, Sec. Aquatic Microbiology, 13. Mai 2013; doi:10.3389/fmicb.2013.00115, PMC 3651956 (freier Volltext), PMID 23717306 (englisch). Siehe insbes. Fig. 8.
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Ran Li, Wenbao Zhuang, Xiaochen Feng, Hunter N. Hines, Xiaozhong Hu: First redescription and molecular phylogeny of Trimyema claviforme Kahl, 1933 with the description of a Chinese population of Plagiopyla nasuta Stein, 1860 (Ciliophora, Plagiopylea). In: European Journal of Protistology, Band 90, August 2023, S. 126003; doi:10.1016/j.ejop.2023.126003 (englisch). Siehe insbes. Tbl. 3.
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Yuan Xu, Chen Shao, Miao Miao, Weibo Song: Redescription of Parasonderia vestita (Kahl, 1928) comb. nov. (Ciliophora, Plagiopylida), with notes on its phylogeny based on SSU rRNA gene. In: European Journal of Protistology, Band 49, Nr. 1, Januar 2013, S. 106–113; doi:10.1016/j.ejop.2012.03.001, PMID 22771178 (englisch).
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