Mudschaddid

Mudschaddid (arabisch مجدد, DMG muǧaddid ‚Erneuerer‘) ist ein Ehrentitel, der im Islam Gelehrten zugesprochen wird, die eine herausragende Rolle bei der Wiederbelebung der ursprünglichen Prinzipien der islamischen Religion gespielt haben. Er stützt sich auf einen Hadith, demzufolge im Abstand von einhundert Jahren eine Person von Gott gesandt wird, um das Verständnis und die Ausübung der Religion durch die islamische Umma zu erneuern. Einige Gelehrte haben diesen Titel auch für sich selbst in Anspruch genommen.

Der grundlegende Hadith und seine Auslegung

Der Hadith, auf den sich die Vorstellung von dem Mudschaddid stützt, wird im Kitāb as-Sunan von Abū Dāwūd as-Sidschistānī angeführt und über Abū Huraira auf den Propheten Mohammed zurückgeführt. Er steht ganz am Anfang des Kapitels über die endzeitlichen Kämpfe (malāḥim) und lautet im arabischen Original und in Übersetzung:

«إن الله يبعث لهذه الأمة على رأس كل مائة سنة من يجدد لها دينها»

„inna Llāha yabʿaṯu li-hāḏihī l-ummati ʿalā raʾsi kulli miʾati sanatin man yuǧaddidu lahā dīnahā[1]

„Gott sendet dieser Umma am Ende eines jeden Jahrhunderts jemanden, der ihre Religion erneuert.“

Da der Ausdruck man yuǧaddid sowohl als Singular oder Plural gelesen werden kann, wurde der Text des Hadith so verstanden, dass er sowohl eine Person oder eine Vielzahl bezeichnen kann. As-Suyūtī (gest. 1505) erklärt: „Der Mudschaddid kann eine einzige Person auf der ganzen Welt sein, wie es bei ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz der Fall war, da er alleiniger Besitzer des Kalifats war, oder bei asch-Schāfiʿī, wegen des Konsenses der Wahrheitssucher darüber, dass er der Wissendste von den Leuten seiner Zeit war. Oder es können zwei Personen oder eine Gruppe von Personen sein, wenn kein Konsens über eine einzelne Person besteht.“[2] Dass Abū Dāwūd den Hadith in sein Kapitel über die endzeitlichen Kämpfe aufgenommen hat, erklärt as-Suyūtī damit, dass Gott zu Beginn eines jeden Jahrhunderts der Umma eine harte Prüfung (miḥna) auferlege, die er dann mit einer gewaltigen Güte ausgleiche, nämlich der Entsendung einer Person, die die Religion erneuert.[3]

Hamid Algar weist darauf hin, dass das Verb yabʿaṯu, das für die Entsendung des Mudschaddid verwendet wird, dasselbe ist, das im Koran für die Entsendung für Propheten verwendet wird (siehe z. B. Sure 3:164, 7:103, 16:36). Hieraus schließt er, dass das Konzept eine göttliche Autorität ähnlich wie beim Prophetentum impliziert.[4]

Personen, die als Mudschaddid betrachtet werden

Im Laufe der Jahrhunderte gab es unter maßgeblichen Experten heftige Auseinandersetzungen, wer als Erneuerer des Islam anerkannt werden soll. Genannt werden unter anderen Herrscher, Juristen, Philosophen und Theologen. In der frühen Neuzeit wurden die Erneuerer der früheren Jahrhunderte in Listen zusammengestellt. So nennt zum Beispiel Muhammad Qāsim al-Qassār, der wichtigste Religionsgelehrte am Hofe des marokkanischen Herrschers Ahmad al-Mansur (1578–1603), in einem Gedicht die folgenden Persönlichkeiten als Erneuerer: ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz (Ende des 1. Jhs.), asch-Schāfiʿī (2. Jh.), Abū l-Hasan al-Aschʿarī (3. Jh.), al-Bāqillānī und al-Isfarāyinī (4. Jh.), al-Ghazali (5. Jh.), Fachr ad-Din ar-Razi (6. Jh.), Ibn Daqīq al-ʿĪd (7. Jh.), al-Bulqīnī und Abū l-Fadl al-ʿIrāqī (8. Jh.), as-Suyūtī (9. Jh.).[5]

Über die Frage, wer der Erneuerer der Religion am Ende des 10. islamischen Jahrhunderts war (das Jahr 1000 der Hidschra entspricht dem Jahr 1591/92 u. Z.), gab es in der islamischen Welt sehr unterschiedliche Vorstellungen. Während al-Qassār in einem anderen Gedicht seinen eigenen Herrscher Ahmad al-Mansūr als den Erneuerer seiner Zeit präsentierte und dabei dessen prophetische Abkunft betonte,[6] meinte man in sufischen Kreisen Marokkos, dass Abū l-Mahāsin al-Fāsī (gest. 1604), der Gründer der bekannten Zawiya der Fāsīyūn in Fès,[7] „der Erneuerer am Ende des Jahrtausends“ (al-muǧaddid ʿalā raʾs al-alf) sei.[8] Zu denjenigen, die im 20. Jahrhundert als Erneuerer im Sinne der Mudschaddid-Tradition angesehen wurden, gehörte Said Nursî, der Begründer der Nurculuk-Bewegung.[9]

Personen, die den Rang für sich selbst in Anspruch nahmen

As-Suyūtī (gest. 1505) brachte in seiner Autobiographie at-Taḥaddūṯ bi-niʿmat Allāh seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Gott ihm die Gunst gewähre, der Erneuerer des neunten Jahrhunderts sein zu dürfen.[10] In Mekka nahm der produktive hanafitische Gelehrte ʿAlī al-Qārī (gest. 1605) den Mudschaddid-Rang für sich in Anspruch.[11] Dasselbe tat in Indien der Naqschbandīya-Suf Ahmad as-Sirhindī (gest. 1624), doch betrachtete er sich nicht als gewöhnlichen Mudschaddid, sondern als Mudschaddid des Jahrtausends besonders ausgezeichnet ist. In seinen Maktūbāt schrieb er mit Bezug auf über sein eigenes Wissen:

„Diese Wissenschaften sind der Lichternische des Prophetentums entnommen […] Sie erhalten nach der Erneuerung des Jahrtausends Frische und erscheinen in junger Anmut. Der Inhaber dieser Wissenschaften und Kenntnisse ist der Erneuerer dieses Jahrtausends […] Wisse, dass in der Vergangenheit am Ende eines jeden Jahrhunderts ein Mudschaddid aufgetreten ist. Aber der Mudschaddid des Jahrhunderts ist nicht wie der Mudschaddid des Jahrtausends. Vielmehr ist der Unterschied zwischen den beiden wie der Unterschied zwischen Hundert und Tausend, ja sogar noch größer. Der Mudschaddid ist derjenige, durch den der Umma in jener Zeit die göttlichen Ausfließungen (fuyūḍ) zukommen, selbst wenn es sich um Pole, Pflöcke, Substitute oder Vornehme jener Zeit handelt.“

Ahmad as-Sirhindī[12]

In einem späteren hagiographischen Werk über Sirhindī wird erzählt, dass ihn der Prophet Mohammed einmal in Begleitung der Propheten, Erzengel und Gottesfreunde besucht und bei dieser mit einem strahlenden Gewand aus reinem Licht bekleidet habe, wobei er erklärte, dass dies das „Gewand der Erneuerung des zweiten Jahrtausends“ (ḫilʿat-i taǧdīd-i alf-i ṯānī) sei.[13] Das Ereignis wird in demselben Werk auf den 10. Rabīʿ I des Jahres 1010 (= 8. September 1601) datiert.[14] Der Ausdruck Mudschaddid-i alf-i thānī („Erneuerer des zweiten Jahrtausends“) wurde zu einem festen Titel as-Sirhindīs,[15] und diejenige Initiationskette der Naqschbandīya, die über Ahmad as-Sirhindī weitergeführt wird, ist als Mudschaddidīya bekannt.[16]

In der sufischen Traditionslinie, die sich auf Sirhindī beruft, traten später noch einige andere Personen auf, die den Rang des Mudschaddid für sich in Anspruch nahmen, so vor allem Schāh Walīyallāh ad-Dihlawī (gest. 1763). Er erzählte, dass seine Erhebung zum Mudschaddid wie bei Sirhindī durch die göttliche Verleihung eines „Erneuerermantels“ (ḫilʿat al-muǧaddidīya) signalisiert wurde, als er sein Philosophiestudium (daurat al-hikma) abgeschlossen hatte.[17]

Literatur

Arabische Quellen
  • as-Suyūṭī (gest. 1505): at-Tanbiʾa bi-man yabʿaṯ Allāh ʿalā raʾs kull miʾa. Ed. ʿAbd al-Ḥamīd Šanūḥa. Dār aṯ-Ṯiqa, Mekka 1410h. Digitalisat
  • as-Suyūṭī: at-Taḥaddūṯ bi-niʿmat Allāh. Ed. Elizabeth M. Sartain. Cambridge University Press, Cambridge, 1975. S. 215–227. Digitalisat
  • ʿAbdallāh ibn Muḥammad al-Fāsī (gest. 1722): al-Iʿlām bi-man ġabara min ahl al-qarn al-ḥādī ʿašar. Ed. Fāṭima Nāfiʿ. Beirut 2008.
  • Muḥammad Šams-al-Ḥaqq al-ʿAẓīmābādī (gest. 1911): ʿAun al-maʿbūd šarḥ Sunan Abī-Dāʿūd Dār al-Faiḥāʾ, Damaskus 2013. Bd. XI, S. 313–321. Digitalisat
Sekundärliteratur
  • Hamid Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“ in Journal of Islamic Studies 12 (2001) 291–311.
  • Sajida S. Alvi: "The Mujaddid and Tajdīd Traditions in the Indian Subcontinent: An Historical Overview", in Journal of Turkish Studies 18 (1994) 1–15.
  • E. van Donzel: „Mudjaddid“ in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. VII, S. 290.
  • Yohanan Friedmann: Shaykh Aḥmad Sirhindī. An outline of his thought and a study of his image in the eyes of posterity. Montreal-London 1971. S. 13–21.
  • Yohanan Friedmann: Prophecy continuous. Aspects of Aḥmadī Religious Thought and its Medieval Background. University of California Press, Berkeley u. a. 1989. S. 94–101.
  • Ignaz Goldziher: Zur Charakteristik Gelal ud-Din us-Suyuti's und seiner literarischen Thätigkeit. In: J.Desomogyi (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Bd. I. 52ff. G.Olms, Hildesheim 1967
  • Ella Landau-Tasseron: „The 'Cyclical Reform': A Study of the mujaddid Tradition“ in Studia Islamica 70 (1989) 79–117.
  • Ella Landau-Tasseron: “Zaydī Imams as Restorers of Religion: Iḥyāʾ and Tajdīd in Zaydī Literature.” in Journal of Near Eastern Studies 49/3 (1990) 247–63.
  • H. Lazarus-Yafeh: „„Tajdid al-din“: a reconsideration of its meaning, root and influence in Islam“ in W. Brinner and S.Ricks (eds): Studies in Islamic and Judaic Tradition. Institute of Judaic and Islamic Studies. Denver University Scholars Press. Atlanta 1986. S. 99–108.
  • R. Brian Siebeking: “An Innovator, by Any Other Name : The Mujaddid and the Rhetoric of Islamic Renewal” in Journal of Religion & Society 18 (2019), S. 45–62. Digitalisat

Belege

  1. Abū Dāwūd: Sunan, Kitāb al-Malāḥim, Bāb mā yuḏkar fī qarn al-mīʾa, Nr. 4291
  2. as-Suyūṭī: at-Taḥaddūṯ bi-niʿmat Allāh. 1975, S. 225f.
  3. as-Suyūṭī: at-Tanbiʾa bi-man yabʿaṯ Allāh ʿalā raʾs kull miʾa. 1410h, S. 69.
  4. Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“. 2001, S. 297.
  5. Das Gedicht wird zitiert in al-Fāsī: al-Iʿlām bi-man ġabara. 2008, S. 48.
  6. Vgl. al-Fāsī: al-Iʿlām bi-man ġabara. 2008, S. 49.
  7. Vgl. dazu Ch. Pellat: Art. "al-Fāsī" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. XII, S. 302–303.
  8. Vgl. al-Fāsī: al-Iʿlām bi-man ġabara. 2008, S. 61.
  9. Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“. 2001, S. 303.
  10. as-Suyūṭī: at-Taḥaddūṯ bi-niʿmat Allāh. 1975, S. 227.
  11. Vgl. Patrick Franke: "Querverweis als Selbstzeugnis - Individualität und Intertextualität in den Schriften des mekkanischen Gelehrten Mulla ʿAli al-Qari (gest. 1014/1606)" in St. Reichmuth u. Fl. Schwarz (Hg.): Zwischen Alltag und Schriftkultur: Horizonte des Individuellen in der arabischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Beirut-Würzburg 2008. S. 131–163. S. 158.
  12. Aḥmad Sirhindī: Maktūbāt. Karachi ohne Datum (Reprint Hakikat Kitabevi Istanbul 1977). S. 21f Digitalisat. – Arabische Übersetzung von Muḥammad Murād al-Munzāwī: ad-Durar al-maknūnāt an-nafīsa fī taʿrīb al-maktūbāt aš-šarīfa. Ohne Ort und Datum. Bd. II, S. 22. Digitalisat
  13. Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“. 2001, S. 300.
  14. Ḫwāja Muḥammad Iḥsān: Raużat al-Qaiyūmīya, Urdu-Übersetzung Iqbāl Aḥmad Fārūqī. Lahore 1409/1989. Bd. I, S. 164, 170. Digitalisat
  15. Friedmann: Shaykh Aḥmad Sirhindī. An outline of his thought and a study of his image in the eyes of posterity. 1971. S. 14.
  16. Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“. 2001, S. 298.
  17. Algar: „The Centennial Renewer: Bediuzzaman Said Nursi and the Tradition of Tajdid“. 2001, S. 300.

 

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