Morphogenese der BuchstabenDie Morphogenese[1] oder Metamorphose[2] der Buchstaben (von altgriechisch μορφή (morphē) → Gestalt, lateinisch Transformation) ist die grafische Gestaltveränderung bzw. Umformung der „lateinisch-deutschen“ Buchstaben (als Allographe bzw. Glyphen). Beispielsweise sind <a> und <ɑ> Allographe: in vielen Druckschriften wird die humanistische Form <a> verwendet, während man in Schreibschriften eher das kursive <ɑ> findet (vgl. ᵹ, 𝗴 und g). Ein weiteres Beispiel sind Groß- und Kleinbuchstaben, z. B. <A> und <a>. Außerdem die Ligatur ß für ſs, ſʒ oder ʃs und die Umlaute ä, ö und ü für aͤ (æ), oͤ (œ) und uͤ. Urformen und EntwicklungIm Vorderen Orient entstand neben der Keilschrift auch eine Lautschrift (im Libanon) ohne Vokale. Diese Phönizische Schrift hatte ein Alphabet mit 22 Anlautzeichen (Aleph, Beth, Gimel …). Von dieser »Phoinikeia grammata« (Herodot) stammt auch das (west)griechisch-etruskische, das Lateinische Alphabet (»scriptura capitalis«) und das kyrillische Alphabet ab.[3]
Phönizisches Alphabet Die phönizischen Schriftzeichen stammen von der Protosinaitische Schrift (in Kanaan) ab. Es waren Lautzeichen aus vereinfachten Zeichnungen von Hieroglyphen. Die Namen dieser Lautzeichen wurden nach einem Gegenstand oder einem Tier benannt, das mit dem gleichen Buchstaben begann – wie bei einer Anlauttabelle: A wie Aleph (=Stier), B wie Beth (=Haus). Die phönizische Schrift ist eine linksläufige Konsonantenschrift mit 22 Lautzeichen. Die meisten Buchstaben „schauen“ nach links (z. B. Ǝ, И, Я und Ƨ) und geben damit die Leserichtung an. Sie sind so gestaltet, dass man sie auch spiegelbildlich (oder gedreht) eindeutig erkennen kann.
Altgriechisches Alphabet Die griechische Schrift ist eine Weiterentwicklung der phönizischen Schrift und war die erste Alphabetschrift mit Vokalen[4]. Das Upsilon (griech. Υ = U) stammte ebenso wie das Digamma (Ϝ) von dem phönizischen Waw () ab, den Buchstaben Omega (Ω) bildeten die Griechen aus dem Omikron neu. Der Text wurde links- und rechtsläufig geschrieben (bustrophedonal, „furchenwendig“), d. h. die Buchstaben schauen zunächst nach links (z. B. ∃) und in der nächsten Zeile nach rechts (dextral: E). Auf Stein und Blech konnten wenig runde Formen eingeritzt werden („graviert“, von griech. graph). Deshalb sehen die phönikischen und frühen griechischen Buchstaben fast wie Runen aus. Etruskisches Alphabet
Die Etruskische Schrift hat sich aus einem westgriechischen Alphabet entwickelt – in einer euböischen Kolonie in Kampanien. Die älteste Inschrift in altlateinischer Sprache mit etruskischen Schriftzeichen ist ein Grenzstein in Rom, der Lapis Niger (um 600 vor Chr.). Lateinisches Alphabet Das lateinische Alphabet geht auf die etruskische Schrift zurück. Das griechische K wurde im klassischen Latein durch C ersetzt. Dafür erweiterten die Römer das C mit einem diakritischen Zeichen zum G mit einer angehängten Cauda (ebenso: griech. P → lat. R). Die römische Lapidarschrift (Capitalis monumentalis) war das Vorbild für die Antiqua-Majuskeln. Alle Buchstaben sind auch gedreht nicht zu verwechseln (außer M/W, aber das W gehörte noch nicht dazu). Die Griechen und Römer haben die phönizisch-etruskischen Buchstaben
„Geschrieben“ wurden (je nach Anwendungszweck):
Deutsches Alphabet Das deutsche Alphabet ist eine Erweiterung des lateinischen Alphabets. Heute umfasst es die 26 Grundbuchstaben des lateinischen Alphabets, die drei Umlaute (Ä, Ö, Ü) sowie das „Eszett“ (ß). Die Buchstaben J, U und W (bzw. die Unterscheidung zwischen I und J, U und V sowie W und V) wurden dem lateinischen Alphabet erst im Mittelalter hinzugefügt, ebenso die Umlaute Æ und Œ (als Ligatur von Digraphen) sowie alle Minuskeln (mit stark veränderten Formen).
Die Antiqua ist eine Mischform aus den römischen Majuskeln der Capitalis monumentalis und humanistischen Minuskeln.
Morphologie der lateinisch-deutschen BuchstabenDie Lateinische Paläografie hilft bei der Analyse der Buchstabenformen, um verschiedene Schriftarten zu bestimmen. Dadurch können historische Handschriften entziffert werden oder zeitlich, örtlich und stilistisch eingeordnet werden. Die Typografie beschreibt die grafische Entwicklung der gedruckten Buchstaben bis zu den aktuellen Formen. Das „alte“ Klassifikationsschema wird durch die Vielfalt der neueren Schriftarten als unbefriedigend empfunden. Aktuelle Ansätze der Schriftklassifikation stammen z. B. von Indra Kupferschmid (nach dem „Formprinzip“, zusammen mit Max Bollwage und Hans Peter Willberg) und Wolfgang Beinert (Matrix-Beinert)[5]. Allographe des Buchstaben A: SchreibgeräteDas Aussehen der Buchstaben war eng mit dem Schreibwerkzeug und dem Geschmack der jeweiligen Stilepoche verbunden und bestimmte damit den Duktus (die Strichführung, das charakteristische der Handschrift).
Buchstabenform und SchriftartAntike „kapitale“ und „unziale“ Formen:
Die Schriftarten mit den wichtigsten Grundformen der Buchstaben sind:
Merkmale der BuchstabenDie Bezeichnung für eine Schriftart hängt von der Erscheinungsform der Buchstaben ab. Die Eingruppierung einer Schrift erfolgt in der Regel nach bestimmten Merkmalen (Schriftklassen). Die Buchstabenfiguren werden aus den Elementen „Gerade“ und „Bogen“ gebildet:
Kursive FormenIn fast allen Epochen entstanden neben den Buchschriften auch Gebrauchsschriften für Notizen, Verträge oder Briefe:
Eine Gebrauchsschrift (Alltagsschrift oder Geschäftsschrift) ist schneller zu schreiben, schmucklos und funktional. Sie haben z. B. keine Serifen, dafür aber Ober- und Unterlängen. Das Höhenverhältnis der Ober- und Unterlängen zur Mittel-Länge kann bei kurʃiven Schriften extrem ausfallen. Schwünge sind in Buchschriften besondere kalligrafische Elemente – anders als Schwünge in Gebrauchsschriften, die beim schnellen Schreiben entstehen. In gebrochenen Schriften sind Schwünge vor allem bei Großbuchstaben ein beliebtes Zierelement. Zum Beispiel ist der „Elefantenrüssel“ ein typisches Zierelement in der Frakturschrift. In Schreibschriften haben vor allem die Großbuchstaben starke Schwünge (z. B. Copperplate).
Nach der Erfindung des Buchdrucks machten die Schreibmeister mit kalligrafischen Kunstwerken auf sich aufmerksam. Der Kupferstich ermöglichte exakte Bögen, Schnörkel (Schleifen, Schlaufen) und extreme Ober- oder Unterlängen.
Die KleinbuchstabenIn der Spätantike und im frühen Mittelalter entstanden Ober- und Unterlängen: Die wurde von den Missionaren nach Irland gebracht. Sie war das Vorbild für die eine irische Schrift. Diese »irische Rundschrift« (das Schriftbild wirkt „gedrungen“) war wiederum das Vorbild für die . Die karolingische Minuskel entstand in der Mitte des 8. Jahrhunderts als Regionalschrift und verbreitete sich unter Karl dem Großen in ganz Europa. Die Buchstaben der »Carolina« sehen fast so aus wie unsere heutigen Kleinbuchstaben.
Jean Mallon führte die Bedeutung des Duktus als dynamisches Element bei der Entwicklung von spätantiken Schriften ein. Er veranschaulichte die grafische Veränderung der Glyphen durch die alltägliche Gebrauchsschrift (Ältere römische Kursive und Jüngere römische Kursive) bis hin zur Minuskel (Halbunziale und Carolina)[6]. Auch bei Herbert Brekle spielte die Entwicklung der Minuskelschrift aus römischen Majuskelformen (ab dem 1. Jahrhundert n. Chr.) eine entscheidende Rolle. Er entwickelte daraus seine Hasta+Coda-Theorie[7]. Zum Beispiel kann bei einer „freien“ Hasta wie bei K oder P jeweils eine Ober- oder eine Unterlänge entstehen: k → k oder p → p. Die „Verwandlung“ (Metamorphose) von Majuskeln in Minuskeln:
Gebrochene SchriftenIm späten Mittelalter entstanden – im gotischen Stil – Buchstaben mit hohen Schäften und gebrochenen Bögen, die bei der Strichführung einen sichtbaren „Knick“ im Bogen hinterlassen. Gebrochene Schriften haben als Zierabschlüsse an den Enden der Buchstabenschäfte keine Serifen, sondern sogenannte Quadrangel. Die Großbuchstaben mancher gebrochener Schriften haben einen „verdoppelten“ Schaft. Kalligrafische Beispiele für die – – – –
Gezeichnete und moderne FormenFür die mittelalterlichen Prachtexemplare wurden die Initialen und die „Absatz-Initialen“ (Lombarden) vorgezeichnet und bunt ausgemalt („Auszeichnung“). Im Jugendstil wurden die Buchstaben für die Lithografie (Steindruck) mit dem Pinsel gezeichnet. Auch „biomorphe“ Buchstaben stammen aus dieser Zeit und kennt man von den Logos wie WELEDA und .
Im Buchdruck entstanden auch „Zierschriften“ (Schreibschriften), die den Charakter einer Handschrift (Kursive) mit einem Pinsel oder einer Feder nachahmten: z. B.: Brush Script, Mistral, Choc und Zapfino. Sonderformen und Verwechslungen
Bei den serifenlosen, linearen Schriftarten sind manche Buchstaben zu ähnlich und können verwechselt werden. Das ist eine Schwierigkeit bei Leseanfängern und Legasthenikern.[8]
Typografie und SchriftartenUm ein Buch entspannt lesen oder weit entfernte Straßenschilder entziffern zu können, ist es wichtig, die einzelnen Buchstaben eines Textes optisch voneinander trennen und erkennen zu können. Einen Einfluss auf die Lesbarkeit einer Schrift hat neben dem Wort- und Zeilenzwischenraum auch die Gestalt der Zeichen selbst. „Komplexe“ Zeichen sind nicht lesehindernd, sondern steigern ihre Unterscheidbarkeit. Das lateinische Alphabet kann sich den verschiedensten „Lesebedürfnissen“ anpassen und wechselt dabei seine Form:
In der Typografie wird die Entscheidung für eine Schriftart dem Medium angepasst (Roman, Plakat, Tageszeitung, Gedichtband oder Speisekarte). Ein Text kann unterschiedliche Zwecke erfüllen. Entsprechend seiner Aufgabe wird er in einer dazu „passenden“ Schrift gesetzt. Die Kriterien für die Verwendung einer bestimmten Schriftart können deshalb sein:
Die konkrete Form der Buchstaben wird auch sinnlich wahrgenommen. Die grafischen Eigenschaften einer Schriftart (das Schriftbild, ihre „Anmutung“) lösen Assoziationen aus und werden passend oder unpassend zum Text empfunden. Gedruckte FormenMit der Erfindung der „beweglichen Lettern“ und des Buchdruckes entstanden die Wiegendrucke (Inkunabeln). Der Buchdruck ermöglichte „perfekte“, gleichmäßige Buchstaben (nach kalligrafischen Vorbildern) durch Lettern und Ligaturen. Schon Gutenberg benutzte für seinen Bibeldruck unzählige Glyphen-Varianten, um einen perfekten Blocksatz zu erhalten. Mit den „gebrochenen“ und den „runden“ Schriften in den Wiegendrucken waren zwei stilistische Richtungen begonnen, in denen sich danach die gestalterische Ausformung von Satzschriftarten vollziehen sollte: Die erste Kursive wurde 1501 von dem Stempelschneider Francesco Griffo für Aldus Manutius in Venedig geschnitten. Zunächst diente sie als selbständige Buchschrift (z. B. in den „Aldinen“), bis sie ab 1702 als „Schwesternschrift“ der Antiqua (Auszeichnungsschrift) verwendet wurde. Die Typografie verwendet für die verschiedenen Buchstabenformen diese Begriffe:
Die Typografie war seit Gutenberg ein Teil des Fachwissens der Stempelschneider und Schriftsetzer. Heute ist sie ein Teil der Ausbildung von Grafikdesignern (Schriftentwerfer) und Mediengestaltern. Inzwischen kann fast jeder am Computer (mit DTP) Texte erstellen (z. B. Einladungen, Poster u. a.), die Schriftart wählen oder mit einem Schrifteditor die Buchstaben selber bearbeiten. In der Mikrotypografie gibt es rund hundert Fachbegriffe, um die „Anatomie der Buchstaben“ und ihre Formmerkmale zu beschreiben.[10] Elementare TypografieDie Elementare Typografie ist eine Reaktion auf den Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Verfall der typografischen Gestaltung. Durch neue Erfindungen im Bereich der Drucktechnik (z. B. Lithografie und Offset-Druck) bot sich plötzlich eine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten. Dies führte zu einem übertriebenen Gebrauch von Zierleisten, Rahmen und Ornamenten. Die Schriften selbst wurden oft wahllos miteinander vermischt.[11][12] Die Grotesk (serifenlose Linear-Antiqua) entstand – wie die Egyptienne, Anfang des 19. Jahrhunderts in England. Durch das Fehlen der Serifen unterscheiden sich Groteskschriften von der Serifenbetonten Linear-Antiqua (Egyptienne und Italienne). Paul Renner ist vor allem für seine Satzschrift Futura bekannt und beeinflusste damit die Bauhaus-Bewegung. Der Bauhaus-Typograf Herbert Bayer entwickelte ein „unicase-Alphabet“ (ohne Großbuchstaben). Bekannt geworden sind auch seine Bauhaus-Typen.
Werbeschriften und ZierbuchstabenDie heutigen Werbeschriften sollen auffallen und finden sich in Headlines, Logos und auf Plakaten. Der Fotosatz und die Abreibebuchstaben (von Letraset) verbreitete viele neue Schriftarten von „Werbegrafikern“ (Grafikdesignern). Reklameschriften („Decorative“, Schablonenschriften und Sportschriften) werden auch als Display-Schriften bezeichnet. »Display Types« ist eine alternative Bezeichnung für Bildschirm- und Druckschriften, die in der Schriftklassifikation meistens zur Untergruppe der Antiqua-Varianten bzw. zu den Zierschriften gehören. Display-Schriften haben meist ein dekoratives oder modisches Aussehen, das stark von der „Letternarchitektur“ der Textschriften abweicht und dadurch auffallen[13].
Funktionale Schriftarten
Digitale BuchstabenSchrifteditoren, sogenannte „Font-Editoren“ (von englisch Font → Schriftart), sind Computerprogramme zur Erzeugung oder Bearbeitung von Schriftarten auf dem PC und einem Drucker. Für die Zeichendarstellung auf Computern gibt es verschiedene Techniken:
Durch einen Font erhalten Buchstaben (Glyphen) eine digitale Gestalt und Form. Auf diese Weise bilden die Glyphen in ihrer Gesamtheit eine digitale Satzschrift. Eine künstlerische Form wird von einem Schriftgestalter, einem Grafikdesigner, entwickelt. FontForge ist ein freies Schriftbearbeitungsprogramm (seit 2000) zum Entwerfen und Bearbeiten von Computerschriften. Es ist vergleichbar mit Fontographer und Fontlab. Das Ziel ist es, „freie“ Schriftarten zu entwerfen, z. B. »Linux Libertine« und kann auch privat genutzt werden.
Zitate zu BuchstabenRomano Guardini: „Jeder Buchstabe ist eine kleine, wohlausgewogene Figur. Es gibt auch schlechte Schriften, sobald aber eine edel ist, sieht man, wie jeder Buchstabe in sich ruht.“[14] Wassily Kandinsky: „Buchstaben sind praktische und nützliche Zeichen, aber ebenso reine Form und innere Melodie.“[14] Literatur
Siehe auch
WeblinksWiktionary: Buchstabe – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Lateinisches Alphabet – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: Lateinische Buchstaben – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: Das Buch der Schrift (Faulmann) – Sammlung von Bildern
Einzelhinweise
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