Massaker von Distomo![]() Beim Massaker von Distomo (griechisch Σφαγή του Διστόμου Sfagi tou Distomou), einer Ortschaft in Mittelgriechenland, am Fuße des Parnass-Gebirges, ermordeten am 10. Juni 1944 Angehörige eines Regimentes der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division im Zuge einer „Vergeltungsaktion“ 218 Dorfbewohner der Ortschaft Distomo und brannten das Dorf nieder. Opfer waren vor allem alte Menschen, Frauen, 34 Kinder und vier Säuglinge. Die übrigen ca. 1600 Einwohner hatten Distomo vorher verlassen. Die verantwortliche SS-Einheit bestand zum größten Teil aus minderjährigen (tatsächlichen oder angeblichen) Volksdeutschen aus Rumänien und Ungarn.[1] Kommandiert wurde die Kompanie von dem 26 Jahre alten Hauptsturmführer Fritz Lautenbach. Derselbe Verband hatte beim Massaker von Klissoura am 5. April 1944 zusammen mit bulgarischer Miliz 280 Männer, Frauen und Kinder ermordet, angeblich, um Partisanenanschläge auf zwei deutsche Soldaten zu rächen.[2] HergangAnlass zu dem Blutbad war die Erschießung von drei sowie die Verwundung von 18 weiteren deutschen Soldaten durch Partisanen (nach anderen Angaben gab es sechs deutsche Todesopfer[3]). Die 2. Kompanie des SS-Polizeigrenadier-Regiments der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division war bei der Rückkehr von einer erfolglosen Verfolgung von Widerständlern im Dorf Livadia, einem Nachbardorf von Distomo, in einen Hinterhalt geraten. Der Kompaniechef ordnete daraufhin eigenmächtig eine Vergeltungsaktion an. Sie war von vornherein – auch nach damaligem deutschen Recht – illegal und zog für ihn ein Kriegsgerichtsverfahren nach sich (siehe unten). Im Zusammenhang damit kam es bei dem nahegelegenen Dorf Steiri zu einem Gefecht eines Teils der Kompanie mit Partisanen, wobei weitere sieben deutsche Soldaten ums Leben kamen und 14 verletzt wurden.[4] Laut offiziellem Gefechtsbericht der 2. Kompanie des SS-Polizeigrenadier-Regiments der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division vom 10. Juni 1944 wurde aus dem Ort mit Granatwerfern, Maschinengewehren und Gewehren auf deutsche Soldaten geschossen. Kompaniechef Fritz Lautenbach berichtete:
Einen völlig anderslautenden – nach heutigem Wissensstand wahrheitsgemäßen – Bericht erstellte jedoch Unteroffizier Georg Koch von der Gruppe 510 der Geheimen Feldpolizei, der sich während des Geschehens in dem Dorf aufhielt.[5] Sein Schreiben wurde dem verantwortlichen General Hellmuth Felmy zugestellt, der daraufhin Lautenbachs Bericht als „wissentlich falsch“ deklarierte und eine strafrechtliche Verfolgung einleiten ließ.[4] Die historische Forschung geht mit Kochs Bericht konform; das Landgericht Bonn schrieb (Urteil vom 23. Juni 1997):
AugenzeugenberichteBei der Aktion kam es nach Augenzeugenberichten zu sadistischen Exzessen:
Der schwedische Diplomat Sture Linnér, welcher zum Zeitpunkt des Massakers den Vorsitz des Roten Kreuzes im besetzten Griechenland führte, wurde an seinem Hochzeitstag über das Massaker informiert und begab sich mit seiner Frau umgehend nach Distomo. In seinem Buch „Min Odysse“ („Meine Odyssee“) verfasste er einen Augenzeugenbericht, in dem er über die Situation in Distomo drei Tage nach dem Massaker u. a. schreibt[8]
Die Rechtssache DistomoNoch während des Krieges und auch Jahrzehnte später wurden eine Reihe von Gerichtsverfahren wegen der Tat angestrengt, und schließlich war auch der Internationale Gerichtshof damit befasst. Letztendlich kam es – aus unterschiedlichen Gründen – zu keiner juristischen Genugtuung der Opfer und ihrer Angehörigen. Vor deutschen GerichtenBereits unmittelbar nach dem Massaker leitete die Wehrmacht (der auch die Waffen-SS-Einheiten unterstellt waren) gegen den verantwortlichen Kompaniechef Lautenbach und dessen Vertreter ein strafrechtliches Kriegsgerichtsverfahren wegen Missachtung der Weisung des Oberbefehlshabers Süd-Ost ein, nach der nur höhere Truppenführer im Einvernehmen mit den zuständigen Feldkommandanturen Vergeltungsmaßnahmen befehlen durften. Beide Angeklagten starben allerdings wenige Monate später bei einem Attentat; die Ermittlungen wurden daraufhin eingestellt. Kinder der griechischen Opfer betrieben später erfolglos zivilrechtliche Klageverfahren vor dem LG Bonn, dem OLG Köln und dem Bundesgerichtshof (Urteil vom 26. Juni 2003, AZ: III ZR 245/98) und gingen schließlich sogar vor das Bundesverfassungsgericht (Nichtannahmebeschluss vom 15. Februar 2006, AZ: 2 BvR 1476/03). Vor griechischen GerichtenAuf die Klage von Kindern der Opfer von Distomo verurteilte im Oktober 1997 das Landgericht Livadia die Bundesrepublik Deutschland in einem erstinstanzlichen Versäumnisurteil zur Zahlung von 37,5 Millionen Euro. Ein Revisionsantrag der Bundesrepublik Deutschland wurde im Mai 2000 vom Areopag, dem höchsten griechischen Gericht, zurückgewiesen. Die Zwangsvollstreckung, die in Vermögen der Bundesrepublik Deutschland betrieben wurde, welches in Griechenland gelegen war (unter anderem Pfändung des Goethe-Instituts in Athen), konnte im letzten Moment durch Rechtsbehelfe abgewendet werden. Die griechische Regierung weigerte sich, die nach griechischem Recht notwendige Einwilligung in die Zwangsvollstreckung zu erteilen. Der dagegen von den Klägern beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegte Antrag wurde abgewiesen (Beschluss vom 12. Dezember 2002, 59021/00 – Kalogeropulou u. a. ./. Griechenland und Deutschland). Vor Zivilgerichten in ItalienDas oberste italienische Zivilgericht, der römische Kassationsgerichtshof, entschied 2008, dass die Überlebenden des Massakers von Distomo die in Griechenland erstrittenen Urteile in Italien vollstrecken durften. Der Anwalt der Kläger erwirkte die Eintragung einer Hypothek auf das deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni, der daraufhin die Zwangsversteigerung drohte.[9][10] Vor dem Internationalen Gerichtshof und weitere EntwicklungDa der Rechtsstreit in Italien die Frage der Staatenimmunität berührte, wonach Staaten grundsätzlich der Gerichtsbarkeit anderer Staaten enthoben sind, verständigten sich die deutsche und die italienische Regierung im Anschluss an das Urteil des römischen Kassationsgerichtshofes darauf, eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag herbeizuführen.[11] Im Januar 2012 gab der IGH der deutschen Klage statt,[12] aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes Par in parem non habet imperium (Staatenimmunität) hätte Italien die Klagen von Privatpersonen gegen die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht zulassen dürfen.[13] Das Verfahren führte eine völkerrechtliche Grundsatzentscheidung herbei und war daher von vielen Staaten mit Spannung verfolgt worden. Juristen wiesen darauf hin, dass ein anders lautendes Urteil große Probleme aufgeworfen hätte, denn das hätte beispielsweise bei einem Konflikt zwischen zwei Staaten die Möglichkeit eröffnet, dass die Gerichte des einen Staates den jeweilig anderen Staat zu Schadensersatz verurteilten. Doch führte auch der Spruch des Internationalen Gerichtshofes führte nicht zu einer Beendigung der Debatte. Im Oktober 2014 entschied das italienische Verfassungsgericht, dass das IGH-Urteil im Fall Distomo keine Anwendung finden dürfe. Dem folgte das Kassationsgericht im April 2015.[14] Nikos Paraskevopoulos, einige Wochen zuvor zum Justizminister Griechenlands im Kabinett Tsipras I berufen, äußerte am 10. März 2015 seine Bereitschaft, einer Beschlagnahmung deutscher Vermögenswerte in Griechenland zuzustimmen, um die den Hinterbliebenen gerichtlich zugesprochenen Beträge einzutreiben. Paraskevopoulos erklärte, er wolle seine endgültige Entscheidung aber von der „Komplexität des Falls“ und weitreichenderen „nationalen Fragen“ abhängig machen.[15][16] Auch Tsipras hielt 2015 eine Rede zum Thema Reparationen, in der er die Massaker von Distomo, Kesariani, Kalavryta und Viannos sowie die Deutsche Zwangsanleihe in Griechenland nannte.[17] Auch 2019 wurde nochmals eine Pfändung von deutschem Besitz von der griechischen Regierung in Erwägung gezogen, aber nicht umgesetzt.[18] Bis auf eine diplomatische Note seitens Griechenlands im Januar 2020 verlief die weitere Entwicklung im Sande.[19] Sonstiges
FilmeDas Geschehnis wurde von Stefan Haupt in Ein Lied für Argyris aufgegriffen.[23] Siehe auchLiteratur
Weblinks
Einzelnachweise
Koordinaten: 38° 26′ N, 22° 40′ O |
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