Ljudmila Jewgenjewna Ulizkaja (russischЛюдмила Евгеньевна Улицкая, wiss. TransliterationLjudmila Evgen’evna Ulickaja, in Deutschland auch in der Schreibung Ulitzkaja; * 21. Februar1943[1] in Dawlekanowo, Baschkirische ASSR, Russische SFSR, Sowjetunion) ist eine russische Schriftstellerin, die russische und jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst zusammenführt. Sie engagiert sich in der Opposition gegen Präsident Wladimir Putin.
Ljudmila Ulizkaja wuchs ab Ende 1943 in Moskau in einer jüdischen Familie auf. Sie absolvierte ein Biologiestudium an der Lomonossow-Universität mit einem Abschluss in Genetik und arbeitete von 1967 bis 1970 als Genetikerin am Institut für Genetik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau, wurde aber wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdat-Literatur entlassen. Danach war sie zwei Jahre am Jüdischen Kammermusiktheater als literarische Beraterin tätig, bevor sie sich als freischaffende Autorin und Publizistin etablieren konnte. 1983 wurde ihr erster Erzählband im Staatlichen Kinderbuchverlag veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung von Sonetschka (1992) wurde Ljudmila Ulizkaja als Prosaautorin entdeckt; im selben Jahr erschien auch ihre erste Erzählung in Deutschland, wo ihr Werk vor allem in Fernsehsendungen von Elke Heidenreich einem breiteren Publikum bekannt gemacht wurde. Ljudmila Ulizkajas Bücher sind in 17 Sprachen übersetzt worden.
Im Jahr 2012 war sie an den Protesten gegen Präsident Putin beteiligt.[2] Im Jahr 2014 beklagte sie die „beispiellose Manipulation“ der Öffentlichkeit durch die Propaganda, deren Lügen alle Rekorde brächen.[3]
„Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Grossmannssucht. Ich schäme mich für mein ungebildetes und aggressives Parlament, für meine aggressive und inkompetente Regierung, für die Staatsmänner an der Spitze, Möchtegern-Supermänner und Anhänger von Gewalt und Arglist, ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat. Leb wohl, Europa, ich fürchte, wir werden nie zur europäischen Völkerfamilie gehören.“
Am 28. April 2016 wurde sie Opfer einer Seljonka-Attacke, ausgeführt von Mitgliedern der „Nationalen Befreiungsbewegung“. Ulizkaja meinte dazu, dass diese „armen, unglücklichen und manipulierten Idioten“ im Dienste des Kremls stünden.[4]
Im Februar 2022 unterzeichnete sie einen Appell mehrerer Dutzend russischer Künstler und Schriftsteller, in dem der Überfall der russischen Streitkräfte auf die Ukraine als „Schande“ bezeichnet und ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert wurde.[5] Sie schrieb selber dazu:
„Der Wahnsinn eines Mannes und seiner treuen Helfer lenkt das Schicksal des Landes. Man kann nur darüber spekulieren, was in fünfzig Jahren darüber in den Geschichtsbüchern geschrieben wird. Schmerz, Angst, Scham – das sind die Gefühle von heute. Scham, weil die Verantwortung der Führung unseres Landes bei der Schaffung dieser Situation, die mit großen Katastrophen für die ganze Menschheit behaftet ist, offensichtlich ist. Es ist notwendig, (...) den Propagandalügen entgegenzutreten, die von allen Medien über unsere Bevölkerung ausgegossen werden.“
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine drängte sie ihr Sohn, Russland zu verlassen. Seit Anfang März 2022 lebt sie mit ihrem Ehemann in Berlin.[7][8]
Weil sich Ulizkaja nach Aussage des russischen Justizministeriums „gegen den militärischen Spezialeinsatz in der Ukraine gewandt“ hat und „Propaganda für LGBT-Beziehungen betrieben“ hat, wurde sie im Frühjahr 2024 in Russland als „Ausländische Agentin“ eingestuft.[9]
In ihren Erzählungen sind Alltagshelden durch Schicksalsfäden aufs Engste miteinander verbunden. Sie leben in einem Durcheinander aus Leidenschaft und Grausamkeit des Alltags und sie vergraben sich in ihr Leben. Die Schicksalsfäden entwirren sich, wenn die Geschichten vorwärts und rückwärts zergliedert werden. Versuche, Ulizkajas Werke einem Genre zuzuordnen, kommentiert die Autorin mit: „Sollen sie halt!“[10]
Ulizkaja wird als eine unbestechliche Autorin gewürdigt. Auf eindringliche Weise führe sie die russische und die jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst zusammen, so heißt es in der Begründung für die Auszeichnung mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur[11], der jährlich für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines Autors vergeben wird.[12]
In ihrem Roman Daniel Stein (2010) setzte Ulizkaja die historische Vorlage des Lebens von Daniel Rufeisen in Form einer literarischen Collage um. Im Vorwort schreibt Ulizkaja: „Im Buch werden zahlreiche Dokumente zitiert, einige davon habe ich erfunden. Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“[13] Laut Ulizkajas deutscher Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt wurde eine Passage aus dem Roman, die sich als antisemitisch deuten lässt, vom Lektorat verändert.[14]
2023 wurden russische Buchhandlungen und Bibliotheken angewiesen, die Werke Ulizkajas aus dem Angebot zu nehmen. Das Kulturministerium in Moskau dementierte allerdings, dass es Listen mit „verbotenen Büchern“ gebe.[15]
Buchpublikationen
Die Werke wurden, wenn nachfolgend nicht anders angegeben, von Ganna-Maria Braungardt ins Deutsche übersetzt.
„Meine Geschichte. Meine Geschichten.“ In: Ljudmila Ulitzkaja „Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein.“ Aus dem Französischen von Jürgen Strasser. In: Xing – ein Kulturmagazin (Linz), Heft 23, 2012, S. 6–15 Inhaltsverzeichnis des Heftes.
Themenheft Ljudmila Ulitzkaja. „Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein.“Xing – ein Kulturmagazin, Heft 23, 2012 (Leseproben pdf)
„Wahrnehmen eines moralischen Impulses.“ Verleihung des Aleksandr-Men-Preises 2008 an Ljudmila Ulitzkaja. (Aufsatzsammlung) Abraham Peter Kustermann (Hrsg.), 57 S., Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-926297-99-0
↑Aufgrund des neuen Zensurgesetzes musste die NG den Text von ihrer Webseite entfernen. Er ist aber auch auf Russisch weiter z.B. beim Nachrichtenportal des litauischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks LRT verfügbar: Боль. Страх. Стыд., 27. Februar 2022.
↑ abManuel Schilcher & Bernhard Seyringer: Editorial, In: Ljudmila Ulitzkaja. „Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein.“ = Xing – ein Kulturmagazin, Heft 23, 2012