Kontraproduktives VerhaltenKontraproduktives Verhalten (englisch counterproductive work behavior; CWB) ist der heute gebräuchlichste Begriff im Rahmen der Arbeits- und Organisationspsychologie für schädigende Verhaltensweisen durch Mitarbeitende in Organisationen. Es gibt zahlreiche Annahmen, dass Unternehmen aufgrund schädigender Verhaltensweisen ihrer Mitarbeitenden jährlich viele Milliarden Euro verlieren. Diese Verhaltensweisen beinhalten beispielsweise Diebstahl, ungerechtfertigtes Fernbleiben von der Arbeit, Drogenmissbrauch am Arbeitsplatz und aggressives Verhalten, das sich gegen Sachen (z. B. Vandalismus) oder auch gegen Personen richten kann.[1] Die negativen Folgen von kontraproduktivem Verhalten und ihre Beständigkeit führten dazu, dass der Untersuchung dieser Verhaltensweisen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. DefinitionFriedemann W. Nerdinger definiert Kontraproduktives Verhalten als Verhalten, das die legitimen Interessen einer Organisation verletzt, wobei es prinzipiell deren Mitglieder oder die Organisation als Ganzes schädigen kann. Dazu zählen mit Blick auf die Mitglieder der Organisation z. B. Mobbing oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, mit Blick auf die Schädigung der Organisation u. a. Diebstahl, Sabotage oder bewusst herbeigeführte Störfälle.[2] Bernd Marcus & Heinz Schuler definieren drei wichtige Merkmale kontraproduktiven Verhaltens aus Sicht der Organisation:
Arten von ArbeitsverhaltenDas Arbeitsverhalten gilt in der Arbeits- und Organisationspsychologie als eine der wichtigsten Variablen, die es zu erklären und vorherzusagen gilt, was an der Bedeutung des Arbeitsverhaltens für die gesamte Organisation liegt. Denn Unternehmen sind auf Mitarbeitende angewiesen, die zur Erreichung der Unternehmensziele optimales Arbeitsverhalten zeigen.[5] Neuberger teilt mit seiner 'Struktur des Arbeitsverhaltens' das Arbeitsverhalten in einige extreme Ausprägungen ein.[4] Das Verhalten kann, je nachdem, ob das Arbeitsverhalten den Zielen der Organisation dienlich ist und ob geltende Regeln befolgt werden oder nicht, in dieses Schema eingeordnet werden:[5]
Einordnungen und Klassifizierungen von kontraproduktivem VerhaltenRobinson und Bennett[7] haben unterschiedliche Formen von abweichendem Verhalten einer multidimensionalen Skalierung unterzogen. Die Vierfeldertafel zeigt zwei Dimensionen anhand derer die Verhaltensweisen eingeordnet werden können. Die erste Dimension meint die Intensität des Verhaltens und reicht von harmlosen Regelverstößen bis zu schweren Formen kontraproduktiven Verhaltens. Die zweite Dimension bezieht sich auf personen- oder organisationsbezogenes abweichendes Verhalten. Anhand dieser Dimensionen lassen sich vier Klassen kontraproduktiven Verhaltens (Politische Abweichung, Aggressionen, Produktions- und Eigentumsschädigung) unterscheiden. Konzepte kontraproduktiven VerhaltensKontraproduktive Verhaltensweisen zeigen sich in einer großen Anzahl unterschiedlicher Art. Friedemann W. Nerdinger und Niclas Schaper nennen folgende wichtige Konzepte, die in der wissenschaftlichen Forschung untersucht werden:[5]
Kategorien kontraproduktiven VerhaltensKontraproduktives Verhalten kann sich in einem sehr breiten Feld an Verhaltensweisen zeigen und ist daher nicht einfach von anderen verwendeten Begriffen abzugrenzen[5]. Gruys und Sackett haben vorliegende Literatur analysiert und insgesamt 87 verschiedene Formen von kontraproduktivem Verhalten nachgewiesen und folgenden in elf Kategorien zusammengefasst:[16]
Auslöser und Bedingungen kontraproduktiven VerhaltensDie Faktoren oder Variablen, die direkten Einfluss auf kontraproduktives Verhalten ausüben, herauszufinden, ist kein einfaches Unterfangen. Meist werden sehr spezifische kontraproduktive Verhaltensweisen untersucht und zum anderen ist die Validität aufgrund der schwierigen Natur der Verhaltensweisen eingeschränkt.[5] Nerdinger und Schaper[5] berichten jedoch von drei relativ gesicherten Einflussgrößen:
Erlebte Ungerechtigkeit und FrustrationEin Feldexperiment von Greenberg[17] im Jahr 1990 zeigte, dass eine als ungerecht erlebte Gehaltskürzung zu einem besonders hohen Materialschwund führt. Frustrationen sind Zustände, die auftreten, wenn Ziele von Mitarbeitenden behindert werden. In Folge kommt es zu starken Frustrationen, die sich in Rückzugsverhalten, wie Absentismus oder Wechsel des Arbeitsplatzes, bzw. in Aggressionen gegen die Organisation oder anderer Personen äußern (z. B. Diebstahl, Verrat von Unternehmensgeheimnissen etc.).[18] Negative Erlebnisse bei der Arbeit können bei den betroffenen Mitarbeitern negative Emotionen und Ungerechtigkeitsempfinden auslösen, was wiederum zu gesteigertem kontraproduktivem Arbeitsverhalten führt. Die stärksten negativen Reaktionen zeigen sich bei Erlebnissen, die sich auf die Interaktion mit Vorgesetzten beziehen. Vorgesetzte repräsentieren unmittelbar das Unternehmen, daher ist ihr Tun für die Mitarbeitenden besonders relevant. Empfehlungen für Führungskräfte, die kontraproduktives Verhalten eindämmen wollen, sollten positive emotionale Reaktionen bei ihren Mitarbeitenden auslösen. Zum Beispiel indem sie Unterstützung anbieten, Leistungen anerkennen und klare Ziele formulieren. Wichtig ist zudem, dass Vorgesetzte auf Gerechtigkeit bei der Ressourcenverteilung und beim Ausdruck von Wertschätzung für ihre Mitarbeitenden achten.[19] PersönlichkeitsmerkmaleMitarbeitende, die sich durch höhere Integrität auszeichnen, reagieren seltener mit kontraproduktivem Verhalten auf frustrierende Situationen. Um nicht integre Bewerbende bereits vor der Einstellung zu identifizieren, gibt es sogenannte Integritätstests in zwei Varianten als einstellungs- bzw. eigenschaftsorientierte Instrumente.[5] Beispielitems für Einstellung- und Eigenschaftsorientierte IntegritätstestsEinstellungsorientierte Tests
Eigenschaftsorientierte Tests
SelbstkontrolleGottfredson und Hirschi zeigten, dass sich kriminelles Verhalten am besten durch einen Mangel an Selbstkontrolle erklären lässt. Sie erklären normabweichendes Verhalten damit, dass Personen mit geringer Selbstkontrolle die negativen Konsequenzen krimineller Handlungen für sich selbst und andere nicht bedenken, weil diese Folgen zum einen ungewiss und erst mittel- bis langfristig eintreten, während kriminelles Verhalten zunächst unmittelbare Bedürfnisse befriedigt.[22] Marcus und Schuler[23] übertrugen diesen Ansatz auf die Situation am Arbeitsplatz und zeigten, dass Selbstkontrolle auch das stärkste Korrelat für kontraproduktives Verhalten ist. Vermeidung kontraproduktiven VerhaltensUm kontraproduktives Verhalten zu vermeiden, unterscheidet Nerdinger[2] Interventionen, die entweder an den Individuen oder am Umfeld ansetzen. Individuenbezogene InterventionenInterventionen, die an den Personen ansetzen sind Maßnahmen der Selektion und Trainings. Selektionsmaßnahmen, sollen idealerweise von vornherein verhindern, dass Personen, die zu kontraproduktivem Verhalten neigen, überhaupt eingestellt werden. Dies kann mit dem Einholen von möglichst vielen Hintergrundinformationen geschehen um Hinweise für Fehlverhalten zu analysieren. Situative Stressinterviews mit Fragen zu früher erlebter unfairer Behandlung können hilfreich sein, weil wahrgenommene Ungerechtigkeiten zur Motivation von aggressiven Verhalten beitragen. Auch der erwähnte Integritätstest ermöglicht eine Prognose von gewalttätigem und kontraproduktivem Verhalten.[1] In diesem Sinne untersuchten Forscher der HWR Berlin, der UniBw Hamburg und der Akademie der Polizei Hamburg gemeinsam mit der Polizei Hamburg in einer breit angelegten Studie die Nützlichkeit verschiedener Personalauswahlinstrumente in der polizeilichen Personalauswahl zur Vorhersage von Formen kontraproduktiven Verhaltens und Radikalisierungstendenzen.[24][25][26] Diese Selektionsmaßnahmen dürfen jedoch nicht überschätzt werden und sollten durch Trainings ergänzt werden, um abweichendes Verhalten von Individuen zu kontrollieren. Empfehlenswert sind Trainings zur Verbesserung der sozialen Fähigkeiten im Umgang mit Aggressionen sowie Konflikt- und Stressmanagementtrainings.[2] Weitere Maßnahmen können an der Führung von Mitarbeitenden, die kontraproduktives Verhalten zeigen, ansetzen. Nachdem Aggressionen und Diebstahl häufig auf der Wahrnehmung von Ausbeutung oder von absichtlichen Provokationen zurückzuführen sind, ist es Aufgabe der Führungskräfte ihren Mitarbeitenden Respekt und Achtung entgegenzubringen und Gefühle einer ungerechten Behandlung zu verhindern. Einen weiteren Faktor zur Verringerung von abweichendem Verhalten trägt der Führungsstil der Vorgesetzten bei. Ein partizipativer Führungsstil erhält das Kontrollerleben der Mitarbeitenden und verringert zugleich aggressives Verhalten.[5] Umfeldbezogene InterventionenZu Maßnahmen auf der Ebene der Organisation zählen z. B. Betriebsvereinbarungen, die festlegen, welche Sanktionen bei Verstößen, wie etwa gewalttätigem Verhalten, erfolgen. Hotlines, die Mitarbeitende z. B. über die Verfahren der Gehaltsermittlung im Unternehmen informieren, tragen zur Erhöhung der Wahrnehmung der Bezahlungsgerechtigkeit in Betrieben bei. Auch verschiedene Bedingungen in der Unternehmensstruktur und -politik können kontraproduktives Verhalten begünstigen. Strenge Zielvorgaben und hoher Druck zur Präsentation guter Ergebnisse (z. B. Umsatzzahlen), können ein positives Klima für bestimmte Formen des kontraproduktiven Verhaltens erzeugen.[5] Literatur
Einzelnachweise
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