Kernenergie in BelgienDie Kernenergie in Belgien wird derzeit (Stand April 2023) an zwei Standorten mit insgesamt fünf Reaktorblöcken und einer installierten Nettogesamtleistung von rund 3.900 MW betrieben. Der erste Reaktor BR1 (Belgian Reactor 1) wurde 1956 in Betrieb genommen. Der erste rein kommerziell genutzte Reaktorblock ging 1974 in Betrieb. Die Kernenergie trug im Jahr 2011 etwa 54 % zur Gesamtstromerzeugung in Belgien bei.[1] In den Jahren 2018, 2019 und 2020 waren es 31,2, 48,7 und 39,1 %.[2] Im Herbst 2022 und im Frühjahr 2023 wurden zwei Reaktorblöcke an je einem Standort aus politischen Erwägungen (Sicherheit, aufgrund der Nuklearkatastrophe von Fukushima) definitiv stillgelegt, womit sich die Anzahl der betriebenen Blöcke von seit Jahrzehnten sieben auf fünf reduzierte. GeschichteBis 1974Bereits 1913 wurde Uranerz in Haut-Katanga im damaligen Belgisch-Kongo entdeckt. Die Erzvorkommen, die in der Shinkolobwe Mine gefunden wurden, waren außergewöhnlich reichhaltig. Abgebaut wurde das Uran von der Union Minière du Haut Katanga (UMHK). Schon vor dem Zweiten Weltkrieg äußerten die Vereinigten Staaten Interesse an diesem Uranerz, jedoch dauerte es bis 1942, bis die USA für das Manhattan-Projekt nach Uran verlangten. Durch seine Kolonien war Belgien eines der wenigen Länder mit einem beträchtlichen Vorrat an Uranerz und wurde so zum Hauptlieferanten für die USA. Diese Handelsbeziehung führte dazu, dass Belgien Zugang zu Nukleartechnologie für zivile Zwecke erhielt. Die zivile Nutzung der Kernenergie in Belgien geht auf die Initiative von Pierre Ryckmans und den Atomic Energy Act der USA von 1946 zurück.[3][4] Im Jahr 1952 führte dies zur Gründung des Studienzentrums für Kernenergie. Der erste Reaktor BR1 (Belgian Reactor 1) wurde 1956 in Mol in Betrieb genommen. Der Bau von BR2 begann im folgenden Jahr.[5] 1958 wurde zur Weltausstellung das Atomium in Brüssel als Symbol für das Atomzeitalter und die friedliche Nutzung der Kernenergie fertiggestellt. 1962 erfolgte die Inbetriebnahme des allerersten Druckwasserreaktors auf europäischem Boden. Der BR-3 in Mol war ein amerikanischer Lizenzbau von Westinghouse Electric Company und wies nur eine geringe thermische Reaktorleistung auf; er diente von Beginn an zu Forschungszwecken, wurde aber auch kommerziell zur Stromerzeugung genutzt.[6] Von 1967 bis 1974 wurde in Mol auch die Eurochemic eine Wiederaufarbeitungsanlage betrieben. 1969 begann der Bau des ersten rein kommerziellen Reaktorblocks des Kernkraftwerks Doel.[7] 1972 beteiligte sich Belgien zusammen mit den Niederlanden und Deutschland an dem gescheiterten schnellen Brüter SNR-300 in Kalkar. 1973 gründeten Belgien und vier weitere europäische Länder Eurodif. Als Beginn der kommerziellen Kernenergie-Produktion gilt die Inbetriebnahme der Blöcke 1 und 2 des Kernkraftwerkes Doel und des Blocks 1 des Kernkraftwerkes Tihange in den Jahren 1974 und 1975. Ihnen folgten in den 1980er Jahren noch vier weitere Kraftwerks-Blöcke an denselben Standorten. Bis 20111986 wurde in Dessel eine Fabrik zur Produktion von MOX-Brennelementen für kommerzielle Kernkraftwerke in Betrieb genommen, welche auch das Ausland bedient. Am 30. Juni 1987 wurde der älteste Druckwasserreaktor auf europäischem Boden, der BR-3, abgeschaltet. 1999 hat die Regierung Verhofstadt I, bestehend aus den Liberalen (Vlaamse Liberalen en Democraten und Mouvement Réformateur), den Sozialisten (Sociaal Progressief Alternatief und Parti Socialiste) sowie den beiden grünen Parteien (Groen! und Ecolo), eine Laufzeitbegrenzung der belgischen Reaktoren auf 40 Jahre festgeschrieben und dem Neubau von Atomkraftwerken eine Absage erteilt. Eine Gesetzesvorlage, die den Ausstieg des Landes aus der Kernenergie bis zum Jahr 2025 vorsah, wurde am 6. Dezember 2002 vom Abgeordnetenhaus gebilligt und am 16. Januar 2003 auch vom Senat angenommen.[8] Für Schlagzeilen sorgten in den 2000er Jahren zwei Unfälle bzw. Störfälle (INES 3 und 4) in einer nukleartechnischen Radiochemischen Industrieanlage in Fleurus. Im Frühjahr 2003 gab es Neuwahlen. An der Regierung Verhofstadt II waren die Grünen nicht mehr beteiligt. Im September 2005 entschied diese, die vorher gefällte Entscheidung teilweise rückgängig zu machen. So wurde die Ausstiegsfrist um 20 Jahre verlängert, ebenso wurde eine Option für weitere Verlängerungen der Gesamtlaufzeit offen gehalten. Dabei blieb unklar, ob neue Kernkraftwerke gebaut werden. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass es unrealistisch sei, den Strom, der durch Kernkraftwerke erzeugt wird, zu ersetzen. Die beiden einzigen realistischen Alternativen bestanden nach dieser Auffassung darin, mehrere Öl- und/oder Kohlekraftwerke zu bauen oder Strom aus dem Ausland zu importieren. Während die erste Möglichkeit den Anweisungen des Kyoto-Protokolls widerspricht, erschien die zweite als teurer als das Betreiben der Kernkraftwerke. Dies war einer der Hauptgründe, den Ausstieg rückgängig zu machen, weil es als unmöglich erschien, mehr als die Hälfte des Stromes aus Erneuerbaren Energien zu beziehen. Der Anteil regenerativer Energien in Belgien lag damals nur bei etwa 3–4 %. Das Land strebte bis 2020 an, 13 % des Energieverbrauchs auf erneuerbare Energien umzustellen. Bis 2017 konnte Belgien den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttoendenergieverbrauch auf etwa 9 % steigern.[9] Bis 2020Als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima hatten sich 2011 die Regierungsparteien darauf geeinigt, dass alle sieben belgischen Kernkraftwerks-Blöcke ab 2015 sukzessive abgeschaltet werden sollen, wie bereits in einem Gesetz von 2003 zum Atomausstieg festgeschrieben worden war. Wegen des massiven Ausfalls von Strom wurde dieser Ausstiegstermin später aber wieder in Frage gestellt.[10][11] Im Oktober 2011 einigte sich die neue Regierung darauf, den Atomausstieg ab 2015 wie ursprünglich geplant umzusetzen.[10] Der Regierungsplan sah vor, dass alle Atomkraftwerke spätestens bis 2025 geschlossen werden sollen. In den Reaktoren Doel-3 und Tihange-2 wurden im November 2012 Risse in den Druckbehältern gefunden, worauf die Reaktoren heruntergefahren wurden. Nach einer Reparatur wurden sie im Juni 2013 wieder ans Netz genommen, im März 2014 aufgrund des gleichen Problems jedoch auf Anordnung der Agentur für Nuklearkontrolle vorübergehend wieder heruntergefahren. Im August 2014 kam es im Reaktor Doel-4 durch Ölverlust zu einem schweren Turbinenschaden. Der Reaktor konnte bis Dezember 2014 keinen Strom erzeugen.[12][11][13] Als Folge dieses Ausfalls standen über 50 % der Leistung der Kernkraftwerke bzw. rund 25 % der Gesamtleistung aller belgischen Kraftwerke nicht zur Verfügung und es wuchs die Sorge vor einem Stromengpass in Belgien oder gar einem Blackout. Die Regierung Michel II beschloss daher am 18. Dezember 2014, analog zu einer bereits früher für den Reaktor Tihange-1 getroffenen Entscheidung, die Laufzeit der beiden älteren Reaktoren in Doel (Doel-1 und Doel-2), um zehn Jahre bis 2025 zu verlängern. Gleichzeitig spekulierte die zuständige Energieministerin Marie-Christine Marghem über eine grundsätzliche Rolle der Kernenergie in Belgien auch nach 2025.[14] Allerdings wurde der Reaktor Doel-1 wegen einer fehlenden Weiterbetriebsgenehmigung durch die belgischen Atomaufsichtsbehörden im Februar 2015 vom Netz genommen. Der Leistungsbetrieb wurde, ebenso wie in den Anlagen Doel-3 und Tihange-2, im Dezember 2015 wieder aufgenommen,[15] trotz Rissbefunden und Sicherheitsbedenken u. a. wegen Materialfehlern im verwendeten Stahl für den Reaktordruckbehälter. Die deutsche Bundesregierung trug „nachdrücklich“ Bedenken gegen die Wiederaufnahme vor.[16][17] Andererseits werden die belgischen Kernkraftwerke mit Brennelementen aus Deutschland (Urananreicherungsanlage Gronau und Brennelementfertigungsanlage Lingen) beliefert.[18] Damit waren die sieben belgischen Reaktoren wieder am Netz, mit der Absicht, sie mindestens bis 2025 weiterzubetreiben. Da wegen Wartungsarbeiten ab Oktober 2018 nur noch ein Kernreaktor am Netz war und Engpässe in der Stromversorgung[19] befürchtet wurden, bat die zuständige Energieministerin Marie-Christine Marghem um Stromlieferungen aus Deutschland. Hierfür wurde eine direkte Hochspannungsleitung in HGÜ-Technik unter dem Namen ALEGrO Ende 2020 fertiggestellt.[20] Bereits seit Jahren importiert das Land Strom aus den Nachbarländern. Gleichzeitig bedeutet die direkte Stromleitung auch Lieferungen belgischen Atomstroms nach Deutschland. Weitere EntwicklungAm 23. Dezember 2021 gab die belgische Regierung De Croo bekannt, dass die beiden Kernkraftwerke in Doel und Tihange beginnend ab 2022 bis zum Jahr 2025 dauerhaft abgeschaltet werden sollten. Die anschließende Demontage der Nuklearanlagen sollte bis zum Jahr 2045 abgeschlossen sein. Die sieben Koalitionspartner in der belgischen Regierung waren in der Behandlung der Kernenergie uneins gewesen und hatten sich das Jahr 2021 als letzte Frist für einen Beschluss zu dieser Frage gesetzt. Während die Grünen (Ecolo, Groen) einen raschen Atomausstieg und die Deckung der Energielücke durch neu gebaute Gaskraftwerke forderten, kritisierten Politiker des wallonischen Mouvement Réformateur und andere die daraus resultierende Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen und den erhöhten Treibhausgasausstoß.[21] In dem regierungsinternen Kompromiss sind auch 100 Millionen Euro Fördermittel für die Forschung zur Entwicklung kleinerer modularer Kernreaktoren vorgesehen.[22] Seit Juli 2022 stuft die EU-Kommission die Investitionen in Kernenergie als ökologisch nachhaltig ein. Die knappe Mehrheit der EU-Länder (14 von 27) hat keine aktiven Kernkraftwerke, die Mehrheit der Betreiberländer, angeführt durch Frankreich will ihre Kernkraftwerke nicht vorzeitig abschalten. Auch Belgien ist tendenziell ein Befürworter der Atomkraft und möchte sich die Option zum Bau und Betrieb von Gas- und Kernkraftwerken offen halten.[23] Die an der Sieben-Parteien-Regierung beteiligte Open VLD drang darauf, die Laufzeit von zwei Reaktoren zu verlängern – wegen der im Winter 2021/22 hohen Energiepreise und der globalen Erwärmung. Die Regierung De Croo vertagte die Entscheidung auf das Frühjahr 2022.[24] Am 16. März 2022, einen knappen Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, stellte die grüne Energieministerin Tinne Van der Straeten dem Regierungskollegium einen Plan vor, der vorsah die Laufzeit der jüngsten zwei von sieben noch in Betrieb befindlichen Kraftwerksblöcke (Tihange 3 und Doel 4) zu verlängern – eine Kehrtwende grüner Energiepolitik.[25][26] Über die geplante Laufzeitverlängerung wurde dann mit dem Betreiber der beiden Kraftwerke Engie verhandelt,[27][28] anderseits wurde Doel 3 überraschend und trotz Energiekrise im September desselben Jahres definitiv stillgelegt. Am 22. Juli 2022 gab die belgische Regierung bekannt, die beiden Reaktoren Doel 4 und Tihange 3 wegen der aktuellen Energiekrise, weitere zehn Jahre, bis 2035, zu betreiben,[29] im Januar 2023 waren die letzten Details dazu zwischen der Regierung und Engie ausgehandelt.[30] Im Februar 2023 wurde dann auch noch der Block 2 von Tihange definitiv stillgelegt. Liste der Kernkraftwerke in Belgien
Siehe auchEinzelnachweise
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