Tersteegen stammte aus einem frommen Elternhaus. Er hatte fünf ältere Brüder und zwei Schwestern. Einer seiner Brüder war Prediger, die anderen Kaufleute. Der Vater, der Kaufmann Heinrich Tersteegen, verstarb bereits 1703. Im gleichen Jahr, also im Alter von sechs Jahren, begann Tersteegen mit dem Besuch der LateinschuleAdolfinum, wo er auch Griechisch und Hebräisch lernte. Da seiner Mutter, Maria Cornelia Triboler, die Mittel für ein von ihm gewünschtes Theologiestudium fehlten, ging Tersteegen 1713 zu einem Schwager nach Mülheim, um Kaufmann zu werden. Nach Abschluss der Lehre im Jahr 1717 gründete er ein eigenes Geschäft. 1719 zog er sich wieder aus dem Beruf zurück, da er ihn nach seiner Erweckung mit 16 Jahren zu sehr zerstreute und vom Wachsen der Gnade abhielt. Er suchte sich ein stilleres Gewerbe zuerst als Leineweber, da ihm diese Arbeit nicht gesundheitlich zuträglich war, dann als Seidenbandweber in kärglicher Armut und Einsamkeit. Zugleich nahm er an den Übungen, den wöchentlichen Erbauungsstunden, des CandidatenWilhelm Hoffmann teil und ergriff hier auch selbst das Wort. 1728 gab er das Weben ganz auf und lebte von Gaben zu seinem Lebensunterhalt und für seine Mildtätigkeit. So wurde er Laienprediger und der einzige Mystiker des reformierten Pietismus, indem er unter anderem Schriften katholischer Mystiker, wie Teresa von Ávila, übersetzte. Er predigte auch am ganzen Niederrhein und in Holland. 1756 musste er dies wegen schlechter Gesundheit einschränken und im März 1769 erkrankte er an Wassersucht (Herzinsuffizienz). Er starb friedlich am 3. April.
Einfluss und Wirken
Gerhard Tersteegen beeinflusste maßgeblich die junge protestantischeErweckungsbewegung. Sein Büchlein Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen[2] von 1729 enthält Kirchenlieder, von denen manche noch heute gesungen werden: „Für dich sei ganz mein Herz und Leben“ (Strophe 4: „Ich bete an die Macht der Liebe“), „Gott ist gegenwärtig“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 165, Gotteslob Nr. 387), „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Engel in Chören“. Tersteegen gilt bis heute als ‚der‘ Liedermacher reformiert-pietistischer Mystik.[3]
„Ich bete an die Macht der Liebe“: Nachwirkung im Großen Zapfenstreich der Deutschen Bundeswehr
Die Melodie des heute beim Großen Zapfenstreich der deutschen Bundeswehr außer in Bayern regelmäßig gespielten Chorals Ich bete an die Macht der Liebe nach der 4. Strophe von Tersteegens Lied ist ursprünglich eine Komposition des in Sankt Petersburg wirkenden ukrainischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751–1825) zu dem von Michail Matwejewitsch Cheraskow (1733–1807) verfassten, später als Freimaurerlied bekannt gewordenen Text Kol' slaven naš Gospod' v Sione („Wie gepriesen ist unser Herr in Zion“). Diese Liedstrophe wurde am ZarenhofAlexanders I. von Russland eingeführt. Die Zuordnung der Melodie zu der Liedstrophe Gerhard Tersteegens findet sich zum ersten Mal in einem durch den ehemaligen katholischen Priester Johannes Evangelista Goßner (1773–1858), einen aus Bayerisch Schwaben stammenden, 1820–1824 an der Malteserkirche in Sankt Petersburg tätigen pietistischen Pfarrer, und durch den dort an der lutherischen St.-Katharinen-Kirche wirkenden russischen Organisten Iwan Karlowitsch Tscherlizki (1799–1865) bearbeiteten Choralbuch. Enthaltend die Melodieen zu der Sammlung auserlesener Lieder von der erlösenden Liebe und den Liedern im Schatzkästchen von Johannes Gossner. Mit Stereotypen gedruckt. Leipzig bei Karl Tauchnitz, 1825, S. 82, [Nr.] 86: Ich bete an die Macht der Liebe [...]. Durch seine Tätigkeit in Berlin (1826–1858) vermittelte Gossner die Melodie, die er in Sankt Petersburg kennengelernt hatte, samt pietistischem Text an den Hof des Königs Friedrich Wilhelms III. von Preußen und seiner Nachfolger.
Gerhard Tersteegen übte einen bedeutenden Einfluss auf den radikalen Pietismus aus. Seine Werke, vor allem das Predigtbuch Geistliche Brosamen, Von des Herrn Tisch gefallen, von guten Freunden aufgelesen und hungrigen Herzen mitgeteilt, wurden in diesen Kreisen viel gelesen. Da Tersteegen unverheiratet blieb, deckte sich sein Ideal der sexuellen Askese mit dem der Radikalpietisten. Er wandte sich aber gegen die Abkehr von der Staatskirche, trotz aller Versuche der Herrnhuter Brüdergemeine, ihn für sich zu gewinnen.
Ausübung der Heilkunst
Ein Teil seiner Nächstenliebe bestand in der Ausübung der Heilkunst. Tersteegen mischte Hausmittel zusammen und verteilte sie unentgeltlich an Bedürftige. 1723 forderte dann ein Gesetz, dass nur Fachleute Arzneien herstellen dürfen. Tersteegen gelang es, den Nachweis seiner Kenntnisse zu erbringen. Schwerere Fälle wurden von ihm aber an die Ärzte der Universität Duisburg verwiesen.
In vielen Städten, besonders in Nordrhein-Westfalen, tragen soziale Einrichtungen, wie Pflege- und Krankenhäuser, auch Altenheime und Gemeindehäuser den Namen von Gerhard Tersteegen. Das wohl bekannteste Tersteegen-Haus ist sein Wohnhaus in Mülheim an der Ruhr (Teinerstraße 1), das er 1746 erwarb und in dem er bis zu seinem Tod wohnte. Heute ist dort das Mülheimer Heimatmuseum angesiedelt. Es zeigt neben seinen Werken Exponate bekannter Mülheimer Künstler.
Lieder in kirchlichen Gesangbüchern
Tersteegen-Kirchengemeinde Düsseldorf, Relief vom Bildhauer Herbert Kühn mit dem Liedtext „Kommt, Kinder, lasst uns gehen“
Margret Birkenfeld: Gott ist gegenwärtig. Gerth Medien, 1981.
Gerhard Schnitter: Gott ist gegenwärtig. Hänssler Verlag, 2002.
Werke
Weg der Wahrheit, Die da ist Nach der Gottseligkeit. G. C. B. Hoffmann, Cleve 1768 (Digitalisat)
(Als Bearbeiter und Hrsg.): Außerlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen (In welchen nebst derselben Lebens-Historie / hauptsächlich angemerket werden die Innere Führungen Gottes über Sie / und die mannigfaltige Austheilungen seiner Gnaden in Ihnen / Wobei viele wichtige Nachrichten in allen Ständen des Christlichen Lebens vorkommen / Zur Bekräftigung der Wahrheit und Möglichkeit des Inwendigen Lebens / Aus verschiedenen glaubwürdigen Urkunden / in möglichster Kürze zusammen getragen.) 3 Bände, ca. 1500 S. 1785 Essen; Bd.2: digital bei archive.org
Gerhard Terstegen’s Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen. Frankfurt 1729. (Digitalisat in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern)
Gottesfürchtige und erbauende Briefe über verschiedene Gegenstände, die das innere Leben oder die fortwährende Ausübung des Christenthums betreffen. Essen 1836 (Digitalisat)
Gerhard Tersteegen: Geistliche Brosamen. Eine Sammlung verschiedener Erweckungsreden, gehalten zu Mülheim an der Ruhr. 3 Bände. Bad Liebenzell 1988.
Wir sind hier fremde Gäste. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Herausgegeben von Walter Nigg. 2. Aufl. Wuppertal 1980.
Briefe in niederländischer Sprache. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982.
Briefe. 2 Bände; hrsg. von Gustav Adolf Benrath. Texte zur Geschichte des Pietismus, Abteilung V, Band 7; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008.
Unpartheiischer Abriß christlicher Grundwahrheiten. 1724; posthum 1801 Spelldorf/Mülheim, digital bei archive.org
Gerhard Tersteegen: Nachgelassene Aufsätze und Abhandlungen. Herausgegeben aus Anlaß der Einweihungsfeier des am 6. Apr. 1838 zu Mülheim a. d. Ruhr gesetzten Denkmals. Essen 1842.
Der Weg in die Weite. Aus dem Leben und den Schriften Gerhard Tersteegens. Hrsg. von Edgar Schacht. Hamburg 1938.
Gerhard Tersteegen: Gott ist gegenwärtig. Eine Auswahl aus seinen Schriften. 2. Aufl. Stuttgart 1963.
Gerhard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hrsg. von Johannes Burkardt. Edition Pietismustexte, Bd. 12; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018.
Übersetzungen
Thomae a Kempis Bücher von der Nachfolge Jesu Christi : auffs neue, nach einer der allerältesten Handschrifften, treulich übersetzet, und an statt des vierten Buchs vermehret mit denen Göttlichen Hertzens-Gesprächen des gottseligen Gerlachs, insgemein genandt der andere Thomas a Kempis, nun erstlich verteutschet ... van der Smissen, Düsseldorf 1730. (Digitalisat)
Madame Guyon: Die Heilige Liebe Gottes, Und die Unheilige Natur-Liebe. Schmitz, Solingen 1751 (L’Ame amante de son Dieu) (Digitalisat)
Johannes Burkardt: Gerhard Tersteegen. Die Bernières-Louvigny-Übersetzungen. (=Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung Bd. 5). Luther-Verlag, Bielefeld 2023.
„Ein Freund“: Gerhard Tersteegens Lebensbeschreibung. Solingen 1775, Digitalisat (112 S.)
Historisch bedeutsame Persönlichkeiten der Stadt Mülheim a. d. Ruhr. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der heimatkundlichen Vereine in Mülheim an der Ruhr. Mülheim an der Ruhr 1983, S. 75–78.
Friedhelm Ackva u. a.: Geschichte des Pietismus. Band 2, S. 390–410: online bei google-books
Karl Barthel: Leben Gerhard Tersteegens. Bielefeld 1852. Digitalisat
Thomas Baumann (Hrsg.): In Gottes Gegenwart. Gedanken zum geistlichen Leben. Neufeld Verlag, Schwarzenfeld 2011, ISBN 978-3-86256-012-7. (Auswahl an Schriften mit Einführung in Leben und Werk)
Johannes Burkardt: „Anweisung“ – „Aanwyzing“ – „Unterricht“. Drei bislang nicht bekannte Frühformen von Gerhard Tersteegens „Anweisung zum rechten Verstand und Gebrauch der Heiligen Schrift“ aus den Jahren 1731 bis 1734. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 111 (2015), S. 57–77. Erweitert: „Anweisung“ – „Aanwyzing“ – „Unterricht“. Three previously unknown early forms of Gerhard Tersteegen’s Anweisung zum rechten Verstand und nützlichen Gebrauch der Heiligen Schrift (A guide to the right understanding and profitable use of Holy Scripture), in: Journal for the History of reformed Pietism (JHRP), ISSN2405-755X, Jg. 2 (2016), Heft 1, S. 1–22 (online).
Johannes Burkardt: Verborgene Botschaften aus Mülheim an der Ruhr: Tersteegenzitate im Kommentar der Berleburger Bibel. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 119 (2023), S. 197–214.
Manfred Kock, Jürgen Thiesbonenkamp (Hrsg.): Gerhard Tersteegen – evangelische Mystik inmitten der Aufklärung.Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 126. Habelt, Köln/Bonn 1997, ISBN 3-7927-1680-1.
Albert Löschhorn: Gott ist gegenwärtig – Eine Anleitung zu geistlichen Übungen für evangelische Christen. Verlag Linea, Bad Wildbad 2009, ISBN 978-3-939075-35-6.
Hansgünter Ludewig: Gottes Gegenwart erleben. Das Herzensgebet einüben mit Gerhard Tersteegen. (Reihe Geistlich Leben). Gießen 2005.
Dietrich Meyer: Pietismusforschung im Rheinland 1965–1985. In: Martin Brecht (Hrsg.): Forschungsberichte über den Pietismus in deutschen Territorien (= Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 13). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, ISBN 3-525-55885-6, S. 163–172. (guter Literaturüberblick)
Dietrich Meyer: Die Spiritualität des reformierten Pietismus am Beispiel Gerhard Tersteegens (1697–1769). In: Peter Zimmerling (Hrsg.): Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, ISBN 978-3-525-56719-7, S. 419–437.
Jost Müller-Bohn: Gerhard Tersteegen – Leben und Botschaft: Eine Herausforderung für unsere Zeit.Telos-Dokumentation, 2360; St. Johannis, Lahr 1993, ISBN 3-501-01202-0.
Kurt Pfeifle: Gotteszeugen / Gerhard Tersteegen. Eine Schriftenreihe aus dem Verlag Junge Gemeinde, Heft 16. Verlag Junge Gemeinde, Stuttgart 1955.
Werner Raupp: Gerhard Tersteegen. In: Werner Raupp: Werkbuch Kirchengeschichte. 52 Personen aus der Kirchengeschichte. Giessen/Basel 1987, S. 284–288 (Einführung) u. S. 40–41 (Quiz: Steckbrief).
Richard Reschika: Ich will ins Meer der Liebe mich versenken. Die Mystik Gerhard Tersteegens für heute. Claudius Verlag, München 2013, ISBN 978-3-532-62448-7.
↑Zum historischen Vorbild des Titels Geistliches Blumen-Gärtlein vgl. ein Sammelwerk mit fünf Abhandlungen des von Andreas Karlstadt und Thomas Müntzer beeinflussten TäufersHans Denck und einer seines Anhängers Jörg Haugk von Juchsen: (H[ans] D[enck]:) Geistliches Blumengaertlein / bestehend In sechs erbaulichen alten Theologischen Tractaetlein [...]. Amsterdam / Gedruckt im Jahr 1680. – Der Titel stellt möglicherweise eine Hommage an die „Taufgesinnten“ dar, also an Täufer, die die Notwendigkeit einer bewussten Glaubensentscheidung betonten. Vgl. Reinhard Breymayer: „Ja alle Wissenschaft / sie nutzt auch hier und dort.“ Der Pietismus und die Schatzkammern des Wissens. In: Barock und Pietismus. Wege in die Moderne. (Katalog: Werner Unseld und Renate Föll), (Ludwigsburg 2004) (Kataloge und Schriften des Landeskirchlichen Museums [Ludwigsburg], Bd. 12, <hrsg. von Werner Unseld|), S. 57–65, hier S. 60 f. mit Anm. 16 auf S. 65. – Der Titel begegnet aber bereits bei dem reformcalvinistischen Hofprediger Johannes Neomenius (Johann Neumond) in Brieg (Schlesien): Geistliches Blumengärtlein [Leichenpredigt auf Prinz August Herzog zu Brieg (1618–1619). Brieg 1620] und fügt sich in eine lange Reihe ähnlicher floraler Barocktitel.
↑Martin Evang: Das liebevolle Herze des Vaters. Vor 250 Jahren starb der pietistische Liederdichter Gerhard Tersteegen. In: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, Heft April 2019, S. 46–48, hier S. 48.
↑Vgl. Reinhard Breymayer: Freimaurer vor den Toren des Tübinger Stifts: Masonischer Einfluss auf Hölderlin? In: Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Hrsg. von Sönke Lorenz und Volker [Karl] Schäfer. Thorbecke, Sigmaringen 2008, S. 355–395, hier S. 360.
↑Frieder Schulz: Das Gedächtnis der Zeugen – Vorgeschichte, Gestaltung und Bedeutung des Evangelischen Namenkalenders. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, Band 19. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975, S. 69–104, Namenliste S. 93–104 (Digitalisat)