Georges Perec war der einzige Sohn von Icek und Cyrla (Szulewicz) Peretz. Er wurde in einer Klinik im XIX. Pariser Arrondissement geboren und wuchs bis 1942 in Belleville auf – in der im XX.Arrondissement gelegenen Rue Vilin.[2] Seine Eltern, polnischstämmige Juden, waren in den Zwanzigerjahren nach Frankreich ausgewandert. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs trat sein Vater in die französische Armee ein; 1940 fiel er. Perecs Kindheit war geprägt durch die deutsche Besatzungszeit nach dem Waffenstillstand. Seine Mutter – sie wurde 1943 verschleppt – kam vermutlich im KZ Auschwitz-Birkenau ums Leben. Perec wurde 1942[3] von seiner Tante, einer älteren Schwester seines Vaters, und deren Mann aufgenommen, die in die zunächst unbesetzte Zone Frankreichs geflohen waren und die ihn, zurück in Paris, 1945 adoptierten.
Auf Anraten seiner Adoptiveltern und eines Schulpsychologen begann Georges Perec 1949 eine Psychotherapie bei Françoise Dolto.[4] Dank seines Philosophielehrers Jean Duvignaud konnte er schon Mitte der 1950er Jahre, während seines frühzeitig abgebrochenen Studiums der Geschichte und Soziologie an der Sorbonne, Artikel und Berichte bei so angesehenen literarischen Zeitschriften wie der Nouvelle Revue française und Les Lettres Nouvelles publizieren.[5]
Von 1958 bis 1959 leistete Perec in Pau bei den Fallschirmjägern seinen Militärdienst ab. Nach seiner Entlassung heiratete er Paulette Petras. Das Ehepaar lebte von 1960 bis 1961 in Sfax (Tunesien), wo Paulette als Lehrerin arbeitete. Seit 1961 arbeitete Perec für das Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), und zwar als Archivar beim Neurophysiologischen Laboratorium am Pariser Krankenhaus Saint-Antoine – eine schlecht bezahlte Stelle, die er aber bis 1978 beibehielt. Es bleibt dahingestellt, ob sich das tägliche Hantieren mit Aufzeichnungen und abgeänderten Datensätzen auf Perecs Schreibweise ausgewirkt hat; außer Zweifel steht jedoch seine Beeinflussung durch die von François Le Lionnais und Raymond Queneau ins Leben gerufene Gruppe Oulipo („Werkstatt für Potentielle Literatur“), der er ab 1967 angehörte. Es handelt sich dabei um einen Kreis von Autoren, die ihre Werke formalen Zwängen unterwerfen, wie zum Beispiel den Verzicht auf bestimmte Buchstaben (siehe Lipogramm).
Perec lehrte 1981 an der University of Queensland in Australien. Dort begann er sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk 53 Jours (dt. 53 Tage). Nach seiner Rückkehr aus Australien verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Wenige Tage vor seinem 46. Geburtstag verstarb Georges Perec 1982 an Lungenkrebs. Sein Nachlass wird heute in der Bibliothèque nationale de France in der Abteilung „L’Arsenal“ aufbewahrt.
Werk
Nach einigen ersten Romanen, für deren Veröffentlichung er keinen Verlag finden konnte und die erst posthum herausgegeben wurden, darunter L’Attentat de Sarajevo (dt. Das Attentat von Sarajevo) und Le Condottière (dt. Der Condottiere), erschien 1965 Georges Perecs erste Buchveröffentlichung Les choses (dt. Die Dinge). Für seinen Erstling erhielt er den renommierten Prix Renaudot.
In La Disparition (deutsche Übersetzung Anton Voyls Fortgang) verzichtete Perec auf den Buchstaben E, also auf den im Französischen (und Deutschen ebenso) am häufigsten vorkommenden Vokal. Diese oulipotische Beschränkung wurde in der deutschen Übersetzung von Eugen Helmlé beibehalten (allerdings unterlief dem Setzer der Rowohlt-Lizenzausgabe bereits auf der ersten Seite ein Fehler; desgl. auf Seite 134). – Im Roman Les Revenentes kehrte Perec dieses Prinzip um und nutzte den Buchstaben E als einzigen Vokal; was bereits der Titel zeigt, denn eigentlich müsste es Revenantes heißen. – Perec verfasste überdies ein Palindrom in Form eines Briefes an EDNA D’NILU mit mehr als 1300 Wörtern.[6] Dieser Brief ist von der Anschrift bis hin zur Unterschrift vollständig rückwärts lesbar.[7]
Das 1975 veröffentlichte W ou le souvenir d’enfance (dt. W oder die Kindheitserinnerung) gilt als Meisterwerk des (auto-)biografischen Romans. Der Autor schildert darin einzelne und in vielen Fällen unsichere Erinnerungen an seine Kindheit bis zum Jahr 1945 und verschränkt diese mit einer fiktiven Erzählung, die er schon als 13-Jähriger geschrieben hat, über das Leben auf der Insel W – ein Leben, das vollkommen einem mörderischen Sport untergeordnet ist. Im abschließenden Kapitel schreibt Perec, er habe später in David Roussets Buch Das KZ-Universum seine Fiktion wiedererkannt.
Ausgehend von der Beschreibung des Lebens in einem Pariser Mietshaus entfaltet er in seinem 1978 veröffentlichten Roman La Vie mode d’emploi (dt. Das Leben Gebrauchsanweisung) ein breites Geschichtenpanorama. Perec springt im Erzählen wie die Pferdfigur auf einem Schachbrett systematisch von Wohnung zu Wohnung beziehungsweise von Zimmer zu Zimmer, wodurch ein riesiges Geflecht von Geschichten und Begegnungen entsteht. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines Mannes, der Aquarelle malt, diese von einem Puzzlehersteller in Puzzles zerlegen lässt, um sie schließlich wieder zusammenzusetzen. Die Idee des Puzzles steht dabei auch programmatisch für das Bauprinzip des Romans. Perecs Werke sind überdies gespickt mit Wortspielen und Listen. Dieses Raymond Queneau gewidmete Werk gewann den Prix Médicis und gilt als Perecs Hauptwerk. Dieser finanzielle Erfolg erlaubte ihm, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen.
In Ein Kunstkabinett sind Beschreibungen fiktiver Gemälde realer Maler als Auszüge eines Auktionskatalogs eingefügt. Auch die Frage der Intertextualität in der Literatur ist für Perec von großer Bedeutung. In Die Winterreise geht es um ein Buch aus dem 19. Jahrhundert, aus dem alle großen Autoren der Weltliteratur zitieren, ohne ihre Quelle zu nennen.
Seit den späten 1960er Jahren arbeitete Perec, teilweise zusammen mit dem Musiker Philippe Drogoz und dem Übersetzer Eugen Helmlé, an einer Reihe von Hörspielen.[8] Später wandte er sich als Drehbuch- und Dialogautor auch dem Film zu. Un homme qui dort, zu dem er auf Basis seines gleichnamigen Romans das Drehbuch schrieb und bei dem Bernard Queysanne Regie führte, gewann 1974 den Prix Jean Vigo. Bei dem 1978 entstandenen Les Lieux d’une fugue führte er selbst Regie.
„Undeutlich spüre ich, daß die Bücher, die ich geschrieben habe, ihren Sinn aus einem alles umfassenden Bild beziehen, das ich mir von der Literatur mache, doch ich habe das Gefühl, daß ich dieses Bild wohl nie genau zu greifen vermag, daß es für mich etwas ist, das jenseits des Schreibens steht, ein ,Warum ich schreibe‘, auf das ich nur schreibend antworten kann, wobei ich unaufhörlich den Augenblick hinausschiebe, in dem dieses Bild, weil ich aufhöre zu schreiben, sichtbar werden würde, ähnlich wie ein Puzzle, das ein für alle Mal abgeschlossen ist.“[9]
„Mein Ehrgeiz als Schriftsteller ist es also [...] ein Schreibprojekt zu realisieren, bei dem ich nie zweimal das gleiche Buch schreibe, oder besser, bei dem ich zwar jedes Mal das gleiche Buch schreibe, es jedoch jedes Mal in einem neuen Licht erscheinen lasse.“[9]
Bibliografie
Les Choses. Une histoire des années soixante. Julliard, Paris 1965.
Deutsch: Die Dinge. Eine Geschichte der sechziger Jahre. Übers. Eugen Helmlé. Stahlberg, Karlsruhe 1966; Klett-Cotta, Stuttgart 1984.
Oulipo. Créations, Re-créations, récréations. In Zusammenarbeit mit Raymond Queneau, Paul Fournel und den Mitgliedern des Oulipo. Gallimard, Paris 1972.
La Boutique obscure. 124 rêves. Denoël, Paris 1973.
Deutsch: De iaculatione tomatonis (in cantatricem). Praktische Versuche zum Nachweis des Tomatotopischen Organisationsmusters bei Sopranistinnen (Cantatrix sopranica L.) Zweisprachige Ausgabe. Übers. Gerald Pilzère. Faude, Konstanz 1987, ISBN 3-922305-26-1.
Le Voyage d’hiver. Seuil, Paris 1993 (frz. Neuauflage; zuerst erschienen in limitierter Novellen-Sammlung Saisons, Hachette 1979, 1000 Exemplare).
Deutsch: Die Winterreise. Übers. Eugen Helmlé. Edition Plasma, Berlin 1990.
81 fiches-cuisine à l’usage des debutants. Seuil, Paris 2003.
Deutsch: 81 Küchenzettel für Anfänger in der Kochkunst. Übers. Peter Ronge. Helmut Lang, Münster 2010, ISBN 978-3-931325-36-7.
L’art et la manière d’aborder son chef de service pour lui demander une augmentation. Hachette Littératures, Paris 2008.
Deutsch: Über die Kunst, seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Übers. Tobias Scheffel. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-608-93706-0.[11]
Le Condottière. Seuil, 2012.
Deutsch: Der Condottiere. Übers. Jürgen Ritte. Hanser, München 2013, ISBN 978-3-446-24442-9.
Judith Heckel & Olaf Kistenmacher: Im Labyrinth der Wörter („… einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur“). In: Dschungel. Beilage zur Jungle World, Heft 37/38, 13. September 2012, S. 8–11 (mit 2 Abbildungen).
Artikel von Eugen Helmlé und Eric Beaumatin in: Kritisches Lexikon der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), Edition text + kritik, München (fortlaufend).
Judith Kasper: Sprachen des Vergessens: Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken. Wilhelm Fink, München 2003, ISBN 3-7705-3817-X.
Bernard Magné: Tentative d’inventaire pas trop approximatif des écrits de Georges Perec. Bibliographie. Presses Universitaires du Mirail, Toulouse 1993 (französisch).
Timo Obergöker: Écritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire: Romain Gary, Patrick Modiano et Georges Perec. Lang, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-631-52613-X (französisch).
Renate Overbeck: Perec. Das Leben Gebrauchsanweisung. Exemplarische Reihe Literatur und Philosophie, 13. Sonnenberg, Annweiler 2002, ISBN 978-3-933264-22-0.
Muriel Philibert: Kafka et Perec. Clôture et lignes de fuite. École normale supérieure ENS de Fontenay-St. Cloud 1993, 2. Aufl. 1995 Reihe: Cahiers de Fontenay: Hors collection ISSN0395-8418.
Jürgen Ritte: Das Sprachspiel der Moderne. Eine Studie zur Literaturästhetik Georges Perecs. Janus, Köln 1992, ISBN 3-922977-41-3.
Ralph Schock (Hrsg.): «Cher Georges» – «Cher Eugen». Die Korrespondenz zwischen Eugen Helmlé und Georges Perec 1966–1982. Buch + CD (Lesung Perec/Helmlé im Funkhaus Halberg, SR vom 24. Juni 1969; 60 Minuten). Conte Verlag, St. Ingbert 2015, ISBN 978-3-95602-033-9.
Cahiers Georges Perec, Online-Publikation der Association G. P., seit 1984 (erste Ausgaben auch als Print). In Frz. - Wissenschaftliche Betrachtungen, Kongresse usw. zu P.[14]
↑Siehe Informationen zum Film En remontant la rue Vilin von Robert Bober auf der Website menil.info (französisch; abgerufen am 17. Februar 2023).
↑Zum „Sammeltransport des Roten Kreuzes“, der ihn von Paris nach Grenoble brachte, schreibt Perec in W oder die Kindheitserinnerung: „Ich war sechs Jahre alt.“; demnach war es im Jahr 1942. In der Perec-Biographie von David Bellos (s. Literatur) wird Perecs Zugfahrt in den unbesetzten Süden Frankreichs auf Herbst 1941 datiert.
↑David Bellos: Georges Perec – Ein Leben in Wörtern, S. 99 (s. Literatur).
↑Jacques Leenhardt, Nachwort Les Choses, Taschenbuchausgabe, Paris 1981.
↑ abPerec nach Eugen Helmlé: Marginalien zu Georges Perec. Beiheft zur 5. Auflage von Das Leben Gebrauchsanweisung. Zweitausendeins, Frankfurt 2002, S. 22f.
↑Vor und nach dieser Ausgabe mit Puzzle häufige Ausgaben ohne Puzzle in verschiedenen Verlagen. Das Beiheft Marginalien zu Georges Perec des Übersetzers erschien mit den Ausgaben von 1982 und 2002.
↑Als Theaterstück La poche Parmentier siehe oben Théâtre I, deutsch.
↑auch als Heft erschienen, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1972; Gollenstein Verlag, Blieskastel 2001 (mit CD).
↑auch als Schallplatte veröffentlicht, Seite A. - Auf Seite B: Sprechen wir von Charles oder Das Bankett der Quallen. Hörspiel von René de Obaldia