Für die SPD saß er von 1983 bis 1999 im Deutschen Bundestag. Erst im Dezember 1982 war Günter Verheugen, Vorstandsmitglied des SPD-Bezirks Franken, in den Unterbezirk Kulmbach der SPD aufgenommen worden, für die er bereits im März des folgenden Jahres im Wahlkreis 226 kandidierte. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt selbst hatte sich dafür eingesetzt, dass der bisherige Kulmbacher Bundestagsabgeordnete Philip Rosenthal auf eine weitere Kandidatur zugunsten Verheugens verzichtete.[1] Günter Verheugen errang zwischen 1983 und 1998 nie das Direktmandat in Kulmbach, sondern zog jedes Mal über die Landesliste Bayern in den Bundestag ein.[2] Verheugen war Mitglied der Grundwertekommission und der Kommission für internationale Beziehungen des SPD-Parteivorstands sowie Berater der Programmkommission. Von 1983 bis 1998 war er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Er war zudem stellvertretender Vorsitzender des Bundestags-Unterausschusses für auswärtige Kulturpolitik und 1992 war Vorsitzender des Sonderausschusses Europäische Union. Brandt machte Verheugen zudem 1987 zum Chefredakteur der Parteizeitung Vorwärts.[3]
Neben weiteren Ämtern innerhalb und außerhalb der SPD war er von 1994 bis 1997 der für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag.
In einer Laudatio zu seinem 80. Geburtstag erinnerte der SPD Landesvorsitzende in Brandenburg:
„Die EU-Osterweiterung war Ihr politisches Meisterwerk. Sie trug maßgeblich dazu bei, dass die Demokratie in der EU stabilisiert und der Wohlstand vermehrt wurde. Die bislang größte Erweiterung der EU wird verdientermaßen auf das Engste mit Ihrem Namen, mit Ihrer Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, verbunden bleiben.“
Verheugen verfügte als Kommissar nicht über ein Weisungsrecht in Bereichen der Industrie und Unternehmenspolitik gegenüber den anderen Kommissaren, wie dies der ehemalige BundeskanzlerGerhard Schröder ursprünglich vorgeschlagen hatte, um deutschen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der EU-Kommission nehmen zu können.
Zur Diskussion um das Demokratiedefizit der EU sagte Verheugen 2005:
„Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend.“
Allerdings schränkte er diese Sichtweise ein:
„Das große Missverständnis über Europa zeigt sich dann, wenn von der Europäischen Union verlangt wird, sie solle handeln wie ein Staat. Die EU ist aber kein Staat.“
Ehe, Affäre und Abberufung
Günter Verheugen ist evangelisch und war mit Helga Verheugen, geborene Wiegmann, verheiratet, die 1983 starb.[7]
Verheugens eigene Amtsführung geriet unter den Verdacht der Vetternwirtschaft, als in der deutschen Presse Urlaubsbilder vom Sommer 2006 veröffentlicht wurden, die ihn „händchenhaltend“ und nackt am Strand von Litauen mit seiner langjährigen[8] Mitarbeiterin Petra Erler abbildeten, die er erst im April 2006 zu seiner Büroleiterin befördert hatte.[9] Ende Oktober 2006 äußerte Verheugen gegenüber BILD, es habe zum Zeitpunkt der Berufung im Frühjahr 2006 und heute „keine über Freundschaft hinausgehende Beziehung“ zwischen ihm und Frau Erler gegeben.[10] Am 12. September 2007 wurde bekannt, dass Verheugen bereits seit 2005 ein Verhältnis mit Erler gehabt haben soll.[11] Am Tage darauf schlug Kommissionspräsident Barroso im Einvernehmen mit der deutschen Bundesregierung vor, die bisher von Verheugen wahrgenommene Zuständigkeit für den Bürokratieabbau an den CSU-Politiker Edmund Stoiber zu vergeben.[12] Erler blieb bis 2010 Verheugens Kabinettschefin.
Verheugen sprach sich dafür aus, Volksentscheide für Verträge abzuhalten, die den Charakter des Staates verändern, etwa durch Abgabe von Souveränität. „Gewiss, solche Referenden bergen Risiken. Dennoch bin ich dafür. Denn sie zwingen die Eliten, sich auch zu Hause mit der Europapolitik auseinander zu setzen und auf die Sorgen der Bevölkerung einzugehen. Und das ist bisher nicht der Fall. Allerdings ist ein solches Referendum derzeit in Deutschland nicht möglich. Dazu müsste die Verfassung geändert werden.“[18] Damit löste Verheugen eine Kontroverse über Motive und Hintergründe aus. Unter anderem wurde der Vorschlag von Peter Ludlow als Direktor des Centre for European Policy Studies als Zeichen eines geringen Rückhalts der Erweiterung in der Bevölkerung, aber auch als Ausdruck mangelnder Urteilskraft eingeschätzt, da in Deutschland noch nicht einmal über die EMU abgestimmt worden sei.[19] Die Unklarheiten führten am 6. September 2000 zu einer Debatte im Europäischen Parlament.[20]
Nach dem Votum zum Brexit des Vereinigten Königreichs aus der EU im Juni 2016 zeigte sich Verheugen schockiert und kritisierte die EU mit den Worten: „Es geht in der EU seit einiger Zeit alles schief, was schiefgehen kann. Wir erleben eine Serie von Rückschlägen in der europäischen Integration. Wir erleben eine Erosion des Gemeinschaftsgedankens.“[22]
Im August 2023 mahnte Verheugen an, Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland anzustreben. Um die großen, überlebensbedrohlichen Krisen der Menschheit zu bewältigen, müssten alle Kräfte konzentriert werden. Da könne man keinen „Staat ausschließen, weil einem die Zustände dort nicht gefallen“. Auch wenn Russland zweifelsfrei der Aggressor sei, habe der Krieg eine Vorgeschichte, die aber in der „offiziellen westlichen Darstellung“ fehle. Er glaube, „dass die Option einer engen Kooperation mit der EU für Russland immer noch attraktiv“ sei. Schließlich sei auch Deutschland „nach 1945 wieder die Hand gereicht“ worden. In allen europäischen Ländern wachse die öffentliche Skepsis gegenüber der jetzigen Ukraine-Politik und auch die Mehrheit der Deutschen wünsche, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werde und man in Friedensverhandlungen eintrete.[25][26]
Bei der Präsentation des Buches war Hans-Dietrich Genscher geladen, der das Buch Verheugens lobte, da es zur richtigen Zeit angesichts den gescheiterten Verfassungsreferenden bis zu den Auseinandersetzungen über eine zukünftige Finanzplanung die richtigen Signale setze und realistische Wege aus der derzeitigen Krise aufzeige. Verheugen räume schon im ersten Kapitel mit dem Vorurteil auf, dass die EU ein Heer von Beamten beschäftige. Es sei kleiner als die Kölner Stadtverwaltung.[28] Wie kaum ein zweiter deutscher Politiker kennt Günter Verheugen, so Hans-Jürgen Fink von Deutschlandfunk Kultur, den Brüsseler Apparat, das Beziehungsgeflecht und die Politik. Seine souveräne Darstellung komme im letzten Kapitel der Frage der Überalterung zu, die womöglich für die künftige Existenz des Kontinents entscheidend sei. Die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen sehe Verheugen als schwierig und die Mühe der Überwindung des angstbesetzten gesellschaftlichen Bewusstseins der Menschen „muss sich die Politik schon selbst machen.“ Verheugen verteidige die EU auch vor den üblichen Schuldzuschreibungen an Brüssel und gegen Vorwürfe der Überreglementierung, des Demokratiemangels und Geldverschleuderung.[29]
Der lange Weg zum Krieg, 2024
Der Band entstand gemeinsam mit Petra Erler und beschreibt die Osterweiterung der Nato als zentrales Moment, das Putin zum Krieg in der Ukraine veranlasst haben soll. Von daher betonen die Autoren zwar die Unrechtmäßigkeit des Krieges, bestehen aber gleichzeitig darauf, dass zumindest eine Mitschuld des Westens bestehe. Daraus leiten sie ab, dass der Westen keine kriegsintensivierendem Maßnahmen leisten solle; vielmehr bestehe eine Verpflichtung, zu einem Friedensprozess beizutragen.
Die Rezension Russland und Europa: Rückkehr zu der gemeinsamen Sicherheit von Hellmut Hoffmann (Berliner Zeitung) hebt hervor, dass die beiden Autoren von Der lange Weg zum Krieg die komplexen Ursachen und Entwicklungen analysieren, die zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine führten. Der Krieg sei nicht plötzlich ausgebrochen, sondern sei das Ergebnis jahrzehntelanger politischer Fehlentscheidungen und Missverständnisse. Sie kritisieren scharf die deutsche und europäische Außenpolitik, die ihrer Meinung nach maßgeblich zur Eskalation beigetragen hat. Seit den 1990er Jahren sei die einst erfolgreiche Entspannungspolitik zunehmend durch Konfrontation und Machtstreben ersetzt worden. Diese Entwicklung habe letztlich zu einem neuen Kalten Krieg geführt, der jederzeit in einen heißen Krieg umschlagen könne. Das Buch wird von Hoffmann als akribisch und furios beschrieben, da es die Fehler der amerikanischen und europäischen Anti-Russland-Politik in furchterregender Klarheit aufzeige. Es entlarve die Kriegslügen aller Seiten und beklage, wie bereitwillig sich auch Deutschland in den Ukraine-Krieg hineingeworfen hat. Verheugen und Erler fordern eine Rückkehr zu Dialogbereitschaft, vertrauensbildenden Maßnahmen und einer neuen Entspannungspolitik. Besonders hervorgehoben wird die außenpolitische Erfahrung und das diplomatische Geschick der Autoren, die ihre Analyse fundiert und detailliert darlegen. Das Buch wird als Standardwerk bezeichnet, das Denkfehler aufzeige, Mythen entlarve und eine Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten biete. Es sei ein leidenschaftliches Plädoyer für Frieden und Verständigung und ein Lehrbuch der Staatskunst, das die Fehler auflistet, die nicht gemacht werden dürfen, wenn man den Frieden will. Insgesamt biete, so Hoffman, das Buch eine umfassende und kritische Analyse der geopolitischen Entwicklungen und ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die zukünftige Sicherheitspolitik in Europa.[30] In einem Interview mit dem Herausgeber der BZ, Michael Maier, hatte Verheugen am 11. Februar 2023 seine Vorstellungen bereits erläutert, die er in seinem Buch später darstellte.[31]
Bibliografie (Auswahl)
als Hrsg.: Das Wichtigste ist der Frieden. Dokumentation des Verteidigungspolitischen Kongresses der Freien Demokratischen Partei am 27./28. April 1979 in Münster. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1980, ISBN 3-7890-0541-X. (Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung)
Verheugen, Günter. In: Walter Habel (Hrsg.): Wer ist wer? Das deutsche Who’s who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985, ISBN 3-7950-2005-0, S. 1278.
↑Ausgerechnet Kulmbach. In: Der Spiegel. Nr.51, 1982, S.33 (online – 20. Dezember 1982).
↑Deutscher Bundestag: Wahlkreis 226 Kulmbach. In: webarchiv.bundestag.de. 6. Februar 2007, abgerufen am 27. November 2016.
↑Olaf Opitz: Scharpings General. Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen ist ein Sozialdemokrat der anderen Art. In: FOCUS Magazin. Nr.21, 21. Mai 1994 (online [abgerufen am 27. November 2016]).
↑Referat PI 4 des Deutschen Bundestages: Verheugen Günter. In: webarchiv.bundestag.de. Abgerufen am 27. November 2016.
↑Am 26.04.2024 gratulierte Dietmar Woidke, SPD-Vorsitzender in Brandenburg, zu Verheugens 80. Geburtstag [1]
↑Verheugen, Günter. In: Walter Habel (Hrsg.): Wer ist wer? Das deutsche Who’s who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985, ISBN 3-7950-2005-0, S. 1278.
↑Günter Verheugen: wortlaut. In: Die Tageszeitung: taz. 5. September 2000, ISSN0931-9085, S.3 (taz.de [abgerufen am 19. August 2024]).
↑Ahto Lobjakas: EU: Enlargement Commissioner Still Mired In Controversy. In: Radio Free Europe/Radio Liberty. 9. April 2008 (rferl.org [abgerufen am 19. August 2024]).
↑Reinhard Bingener: Verheugen wirft Grünen „fundamentalistische Außenpolitik“ vor. Der langjährige SPD-Politiker und frühere EU-Kommissar Verheugen übt scharfe Kritik an der aktuellen Russlandpolitik – und zieht Parallelen zu 1945. In: FAZ. 29. August 2023, abgerufen am 30. August 2023.