Etienne Davignon studierte in Brüssel und Löwen zunächst Jura, Philosophie und Wirtschaftswissenschaft, bevor er 1959 in den diplomatischen Dienst seines Landes in Afrika als Attaché eintrat.
In der Regierung des Sozialisten Paul-Henri Spaak wurde er 1964 Kabinettschef im belgischen Außenministerium. Diese Funktion behielt er auch während der Amtszeit des belgischen Außenministers und späteren Regierungschefs Pierre Harmel. Er war an der Abfassung des Harmel-Berichts zur Zukunft der NATO beteiligt, der die Entspannungspolitik zwischen den Militärblöcken einleitete. 1970 legte er als Ausschussvorsitzender der politischen Direktoren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den „Davignon-Bericht“ zur Weiterentwicklung und politischen Einigung der Europäischen Gemeinschaften vor, in dem er einen Informations- und Konsultationsmechanismus auf dem Gebiet der Außenpolitik der damals noch sechs Staaten vorschlug. 1973 spielte er für sein Land bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki eine wichtige Rolle.
Zu Beginn der ersten Ölkrise wurde er 1974 zum ersten Präsidenten der Internationalen Energieagentur berufen. Dieses Amt bekleidet er bis 1977. Von 1977 bis 1985 war Davignon als Kommissar für Binnenmarkt, Verwaltung der Zollunion und der industriellen Angelegenheiten Mitglied der Europäischen Kommission. In dieser Eigenschaft war Davignon maßgeblich für die Schritte der Montanunion zur Beilegung der Stahlkrise zuständig. Von 1981 bis 1985 fungiert Davignon dabei als Vizepräsident der Europäischen Kommission. Das Angebot seiner christlich-sozialen Partei PSC (heute cdH) auf dem Höhepunkt des flämisch-wallonischen Konflikts zur Führung in Brüssel nahm er nicht an.
Nach dem Ende seiner politischen Karriere 1989 trat Davignon in den Verwaltungsrat der Société Générale de Belgique (SGB) ein, präsidierte am Runden Tisch europäischer Industrieller (ERT) und saß der Union Minière vor, einem traditionsreichen belgischen Bergbauunternehmen im Besitz der SGB, das in der Provinz der Demokratischen Republik KongoKatanga tätig ist. Davignon ist Vizepräsident des Hotelbetreibers Accor und beim mit der SGB verbundenen Energieversorger Tractebel, fungierte als Vizepräsident des Luxemburger Stahlproduzenten Arbed und der Fortis Bank Belgium. Er war Aufsichtsratsmitglied bei Anglo American, Fiat, beim französisch-belgischen Versorger Suez, der mit der belgischen Bank SGB fusionierte, dem deutschen Chemiekonzern BASF, dem belgischen Chemieunternehmen Solvay, beim Pharmazie- und Biotechnologieunternehmen Gilead Sciences, dem britischen Chemiekonzern Imperial Chemical Industries, Pechiney, den Schaumstoffproduzenten Foamex und Recticel, der Beratungsgesellschaft Kissinger Associates[1], der Investmentgesellschaft Sofina und der Compagnie Maritime Belge (CMB). Nach dem Bankrott des belgischen Luftfahrtunternehmens Sabena Ende 2001 setzte sich Davignon erfolgreich für die Gründung der Nachfolgegesellschaft SN Brussels Airlines ein.
Seit 1991 ist Davignon Präsident der Association pour l’union monétaire en Europe, Vorsitzender der Stiftung Fondation Paul Henri Spaak und Präsident des Royal Institute for International Relations sowie Präsident der Brüsseler Denkfabriken Friends of Europe (FoE) (Les amis de l’Europe) und des Egmont-Instituts.
Nollert, Michael: Unternehmensverflechtungen in Westeuropa. Nationale und transnationale Netzwerke von Unternehmen, Aufsichtsräten und Managern, Münster: LIT. 2005.