Die Aufzeichnungen des Malte Laurids BriggeDie Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist der Titel eines 1910 veröffentlichten Romans in Tagebuchform von Rainer Maria Rilke. Der Roman wurde 1904 in Rom begonnen und reflektiert unter anderem die ersten Eindrücke eines Paris-Aufenthaltes des Autors von 1902/03. Das 1908–1910 in Paris vollendete Werk erschien 1910 und blieb Rilkes einziger Roman. Inhalt, Interpretationsansätze und WürdigungAufbauDas Werk, das sich als erstes innerhalb der deutschen Literatur radikal vom realistischen Roman des 19. Jahrhunderts unterscheidet, kennt keinen Erzähler im herkömmlichen Sinn, besitzt keine kontinuierliche Handlung und besteht aus 71 Aufzeichnungen, die oftmals Prosagedichten ähneln und meist unverbunden aufeinander folgen. Rilke selbst nannte das Werk stets „Prosabuch“ und niemals Roman. Dieser Umstand verweist auf die Sonderstellung des Werks in der deutschsprachigen Literatur. Seine äußere Form bildet das fingierte Tagebuch einer fingierten Figur namens Malte. Man begegnet ihm in der Gestalt des 28-jährigen Tagebuchschreibers aus einem mit ihm aussterbenden Adelsgeschlecht, der, nach dem frühen Tod der Eltern heimat- und besitzlos geworden, in Paris als Dichter zu leben versucht. Die fragmentarischen Aufzeichnungen bestehen aus einer assoziativen Folge meist eigenwertiger, teils schildernder, mitunter erzählender Abschnitte, die keinen durchgehenden Handlungsstrang aufweisen, aber dennoch durch die inneren Konflikte Maltes verbunden sind und vom Dichter zu einem erkennbaren Daseinsentwurf verwoben werden, der sich grob in drei Teile zusammenfassen lässt: 1. Maltes Pariser Erlebnisse, 2. Maltes Kindheitserinnerungen und 3. Maltes Bearbeitung von historischen Begebenheiten und Geschichten. Die Übergänge zwischen diesen Teilen sind fließend und nicht genau definierbar. Rilke setzt des Weiteren äußerst dezent einen fiktiven Herausgeber ein, der sich nur dann und wann durch unscheinbare Randnotizen bemerkbar macht. Viele Eintragungen der Aufzeichnungen sind ihrer Form nach Prosagedichte, die jedoch nicht willkürlich aufeinander folgen, da ihre Anordnung und die Motive, übergreifenden Prinzipien gehorchend, miteinander verkettet sind: So kommt es etwa im ersten Teil zu einer Konfrontation der Pariser Eindrücke mit denen aus der Kindheit, wobei die motivischen Bindungen der subjektiven Darstellung von Tod, Angst und Krankheit teils antinomisch, teils analog verknüpft sind. Der Kontrast, auch der harten und präzisen Prosa, und die Intensität der miteinander verschlungenen Themen und Motive erscheinen als die wichtigsten Kompositionsprinzipien dieses neuen Romantypus. ThemenkreiseDie Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lassen – im Entblößen von Grunderfahrungen des modernen Daseins – einige Themenschwerpunkte erkennen: Tod und Krankheit, Angst und Verzweiflung, Armut und Elend, Sprache und Wirklichkeit, Schicksal und Leben, Identität und Rollen, Künstler und Gesellschaft, Liebe und Einsamkeit, der einzelne Mensch und Gott. Malte nimmt sich vor, all diese Komplexe (die er jedoch nicht so deutlich benennt) neu zu durchdenken und für sich verständlich zu machen. Die Großstadt als Zentrum des FortschrittsDer Roman beginnt im Paris des Fin de siècle mit den Aufzeichnungen des jungen Malte, der die zu dieser Zeit drittgrößte Stadt der Erde vorfindet, wie er auch London und New York hätte vorfinden können – inmitten eines Prozesses der Industrialisierung. Diese birgt sowohl Glanz als auch Elend, die beide dicht beieinander liegen können. Der Fortschritt beruht auf der Technisierung, die in der damaligen Zeit oft mit Anonymität und einer größer werdenden Disparität zwischen Arm und Reich assoziiert wurde. Schon Maltes erste Eintragungen bezeugen, wie er von der Großstadtrealität, die ihm fast überall ihre hässliche und entsetzliche Seite darzubieten scheint, überwältigt wird:
Rilke beschreibt synästhetisch, wie der ›Geruch‹ der Armut und die Bilder des Ekels, der Krankheit, des Elends und des Sterbens in den schutzlos ausgesetzten Malte eindringen. Dies sind die Gerüche der Stadt – und sie scheinen den Betrachter zu umzingeln (»Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen«), sich zu einer paranoiden Wahnvorstellung zu erheben (»Alle Städte riechen im Sommer«). Sie sind der Kern der Sozialisation und somit unausweichlich (»Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst«), lassen als »schlafend eingeatmete« nicht einmal ihre Vergegenwärtigung zu, überantworten den Einzelnen der völligen Ohnmacht – und dem Kampf gegen alle anderen, denn »die Hauptsache war, daß man lebte« – wobei der Wechsel zum unpersönlichen »man« besondere Beachtung verdient. Schon im dritten Teil des Stunden-Buches – »Von der Armut und vom Tod« (1903) – fügt Rilke diese Erkenntnisse zusammen:
Die Verarbeitung unwürdiger Lebensumstände gedrängter, von Gerüchen und Lärm angefüllter Städte, die an Jacob Riis’ How the Other Half Lives. Studies Along the Tenements of New York (1890) erinnert, fokussiert so einen Prozess zunehmender Entindividualisierung. Werden Einzelne noch erfasst als »Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespien hat« (Malte, 37), so findet das betrachtende ›Ich‹, schutzlos und ausgeliefert, zunehmend gar nicht mehr jene anderen ›Ichs‹, zu denen dann in der Erkenntnis der Schicksalsverwandtschaft eine Solidarisierung entstehen könnte, sondern steht einer anonymisierten Masse gegenüber. Wo dann doch einzelne Wesen aus dieser Indifferenz heraustreten, da erscheinen sie als den Fließbändern nahe Maschinen (wie die Ärzte (48f.)) oder auffällig nur wegen ihrer autistischen Nebenwelten und Tics (wie der ›Hüpfer‹ (56ff.)). Malte als genauer Beobachter und VerfolgterFür den Erzähler bleibt nur das Beobachten, das Schauen. Doch dieses Schauen, poetische Forderung und poetologisches Programm gleichermaßen, wie es die Aufzeichnungen in Gänze durchwirkt, findet sich eben nicht mehr ungebrochen, nicht mehr als eine Meisterschaft in der Perzeption, die die Kunst der Natur nachbilden will, sondern – dies übersehen die Rilke-Interpretationen häufig – schon als Symptom eines Krankheitsbildes. Das wiederum entstand in einem Reflex der Notwehr: Wenn Malte in der Bibliothèque Nationale bei seinem Dichter sitzt (35f.), so ist ihm dies Rettung vor einer phantasierten Verfolgung, vor einer doppelten Paranoia sogar, wenn man genau hinschaut: nämlich vor der Angst, von den Elenden der Stadt verfolgt zu werden, und vor jener dahinter liegenden Angst, selbst schon dem Elend überantwortet zu sein, ein unsichtbares Stigma zu tragen, nach Armut zu riechen. Dennoch bleibt diese Position die einzige, die einzunehmen noch möglich ist – sowohl für Malte wie für Rilke. Wenn der junge Brigge von sich selbst fordert, er »müsste anfangen zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne« (21), so steht im Hintergrund stets der Zweifel: »[…] und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da sage?« (121). Eine Frage, die in einem Ambiente, in dem das nächste Elend doch fern genug zu sein scheint, es nicht wahrzunehmen, durchaus berechtigt ist. Die Antwort, die diese Frage fordert, gibt Rilke nun in den Aufzeichnungen in einer ebenso schlichten wie einzigartigen Weise: Das Abstrakte, das Metaphorische wird ebenso konkretisiert wie das Unbelebte. Dagegen wird das Lebendige, das Konkrete entrückt und abstrahiert:
Und während der Mann noch fahrig, in dahingestreuter Aufzählung von Merkmalen beschrieben wird, folgt direkt im Anschluss die Beschreibung eines Gebäudes:
Und innerhalb der maroden Architektur, als Erinnerungsfetzen hineingeprägt in das Steinwerk, entstehen so die Bilder der einstigen Bewohner, entsteht das Elend in seiner schillernden Konkretion auf:
Die Betrachtung endet nun in einer nahezu organisch nachfühlbaren Beschreibung des ›stickigen‹ Ambientes »immer in derselben Straße« bleibender »Hauswinde«, wie schon im Stundenbuch sich lesen ließ:
Und doch findet sich hier schon der Übergang zu den Neuen Gedichten, zu jenem Dinggedicht, das dann (auch) mit Rilkes Namen untrennbar verbunden sein sollte. Eine schöne Auskleidung dessen bietet auch die Beschreibung des Büchsendeckels (144–146), die gleichzeitig als eine dichterische Reflexion gelesen werden kann. Dem voran geht (134–140) – als weiteres Beispiel für den Blick Rilkes auf seine Mitmenschen – eine Beschreibung eines Nachbarn, der sich vornimmt, seine Zeit im materiellen Wortsinn zu sparen, indem er allerlei Tätigkeiten auf den geringsten Aufwand beschränkt, dann aber zum Ende der Woche doch feststellen muss, die ihm zur Verfügung gestandene Zeit restlos aufgebraucht zu haben – so dass er schließlich, demoralisiert von der Leichtigkeit, mit der einem die Zeit durch die Hände rinnt, im Bett bleibt und Puschkin und Nekrassow laut rezitiert. Denn lediglich Gedichte sind zeitlos – auch dies eine poetologische Aussage. Maltes Kindheit als Kontrapunkt zum GroßstadtlebenDem verdorbenen und anonymisierten Großstadtleben nun steht in den Aufzeichnungen die Kindheit des Malte gegenüber, die in zwei großen Passagen (71–106 u. 110–130) und mehreren kleinen Kapiteln aufgesucht wird. Hier stehen die Aufzeichnungen noch vielfach im Gedankenkreis des Stundenbuches. Auf dem Land – denn hier wuchs Malte auf – stirbt man noch einen ›richtigen‹ Tod:
Und dennoch, bei all der Kontrastschärfe, mit der der Moloch Stadt hiervon abgehoben wird, bleibt auch diese Kindheit vage: Sie ist keineswegs das üppige Paradies, das einst verloren wurde, sondern eher eine letzte Trutzburg, die in höchster Not aufgesucht werden musste. Autobiografische ZügeInwieweit des Dichters eigene Kindheit in dem Werk wiedergefunden werden darf, muss offenbleiben. Rilke selbst hat sich des Öfteren gegen eine allzu leichtfertige Parallelisierung verwahrt – auch wenn diese oft nahezuliegen scheint. Schon die Beschreibung der Mutter Maltes, mehr aber noch die der Großmutter (98ff.) lassen hier Einblicke zu. Offensichtlich ist jedoch die Verarbeitung der vielen und langen Paris-Aufenthalte Rilkes (seit 1902) in den Aufzeichnungen. Einige Passagen finden sich fast wörtlich in Briefen an seine Frau Clara Rilke-Westhoff vorformuliert. Literarische EinordnungRilkes Werk formiert den Beginn einer Betrachtung der Wirklichkeit, die in Zügen an die zur gleichen Zeit schreibenden Robert Walser und Franz Kafka sowie den späteren James Joyce erinnert, wenngleich in Technik und Darstellung doch gänzlich verschieden. Einflüsse der Gedichte Baudelaires und der Décadence-Literatur sind feststellbar, ebenso verwendet Rilke Montagetechniken, indem er den Erzähler in Erinnerungen oder Reflexionen berichten lässt. Äußerlich ist das Werk in Tagebuchform angelegt, doch die Erzählstruktur ist nicht linear, die Eintragungen folgen einer thematisch-motivischen Anordnung und sind dabei analog oder antinomisch verknüpft. Ulrich Fülleborn bezeichnet sie als »Prosagedichte«. Damit kann der Roman als Wegbereiter des modernen Romans angesehen werden, vergleichbar etwa mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ein Begriff, den Ziolkowsky für Joyces’, erstmals jedoch bei Schnitzler vorfindbaren Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) prägte, darf auch auf Rilke angewandt werden: Die Welt wird zur »Epiphanie«, zur Offenbarung und zum Immer-schon-Offenbartsein in all ihrem Elend – allein das Schauen ist zu lernen:
RezeptionDas Buch wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher und auch in die 100 Bücher des Jahrhunderts von Le Monde aufgenommen. ÜbersetzungenDas Werk wurde bereits ein Jahr nach seiner Veröffentlichung 1911 teilweise ins Französische übertragen. Eine komplette Übersetzung erfolgte 1926 durch Maurice Betz. 1927 wurde das Buch von Witold Hulewicz ins Polnische, 1930 von Mary D. Herter Norton ins Englische und 1933 von Jan Zahradníček ins Tschechische übersetzt. Die vorerst letzte Übersetzung erfolgte 2017 ins Arabische.[1] Ausgaben
Literatur
Weblinks
Anmerkungen
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