Alice Herz-SommerAlice Herz-Sommer (* 26. November 1903 in Prag, Österreich-Ungarn; † 23. Februar 2014 in London[1]) war eine ursprünglich österreichische deutschsprachige Pianistin und Musikpädagogin aus Prag, die später die israelische Staatsbürgerschaft annahm. Sie war Überlebende des KZ Theresienstadt, in dem sie über 100 Konzerte gegeben hatte. LebenJugend in PragAlice Herz-Sommer wurde 1903 mit ihrer Zwillingsschwester Marianne in Prag geboren. Als Tochter jüdischer deutschsprachiger Eltern, des Fabrikantenehepaares Sofie und Friedrich Herz, wuchs sie im Umfeld eines aufgeklärten und liberalen Bürgertums auf. Bereits in frühen Jahren entdeckte das Mädchen seine Liebe zur Musik. Mit drei Jahren saß Alice das erste Mal vor dem Klavier, mit fünf Jahren bekam sie Klavierunterricht. Zudem erlernte sie mehrere Fremdsprachen. In ihrem Elternhaus in Prag verkehrten bekannte Wissenschaftler, wie etwa Sigmund Freud, sowie Musiker, Schauspieler und Schriftsteller wie Franz Werfel und Franz Kafka, der für Alice wie ein älterer Bruder war und oft mit ihr spazieren ging.[2] Kafka war ein Freund ihres Schwagers, des Journalisten, Schriftstellers und Philosophen Felix Weltsch. Kafka, Weltsch, der Journalist Oskar Baum und der Schriftsteller, Übersetzer und Komponist Max Brod kamen jeden Sonntag zusammen, um über das Tagesgeschehen und Politik zu sprechen und sich gegenseitig vorzulesen, was sie unter der Woche geschrieben hatten.[3] Die zehnjährige Alice durfte oft mitkommen. Ihre Eltern waren zudem eng mit Gustav Mahlers Eltern befreundet.
Nach dem Ersten Weltkrieg, mit sechzehn Jahren, wurde sie das jüngste Mitglied der Deutschen Musikakademie Prag. Sie wurde Schülerin des deutschen Pianisten Conrad Ansorge. Bereits wenige Jahre später war sie eine der bekanntesten Pianistinnen der Stadt und zu Beginn der 1930er Jahre war sie auch im Rest Europas als Pianistin bekannt.[4] Als Alice Herz-Sommer dem österreichisch-jüdischen Pianisten und Komponisten Artur Schnabel vorspielte, um seine Meisterschülerin zu werden, lehnte dieser ab, denn er könne ihr weder technisch noch musikalisch etwas beibringen.[3] Im Jahr 1931 heiratete sie den Geiger Leopold Sommer. Die beiden bekamen 1937 ihren Sohn Raphael. Als die deutsche Wehrmacht im März 1939 Prag besetzte, begann auch dort die Verfolgung der jüdischen Bürger. Einige Bekannte, Freunde und Verwandte wie ihre Schwester Irma sowie ihr Schwager Felix Weltsch und Max Brod konnten mit dem letzten Zug am 14. März 1939 fliehen. Alice Herz-Sommer wurde aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mit einem öffentlichen Auftrittsverbot belegt. In Prag, wie auch in zahlreichen anderen von den Nazis besetzten Städten, entwickelte sich aus der Not ein reges Hauskonzertleben. Alice und ihre Freundin Edith Kraus, ebenfalls eine Pianistin, veranstalteten und spielten viele solcher Hauskonzerte. Aufgrund der zunehmenden Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung und anderer Minderheiten konnten die Freundinnen Alice Herz-Sommer und Edith Kraus sich nach Einbruch der Dunkelheit jedoch nicht mehr gegenseitig besuchen, da sie zu weit voneinander entfernt wohnten und es den Juden der Stadt verboten war, nach 20 Uhr noch auf der Straße zu sein. Somit lud man überwiegend Freunde aus der direkten Nachbarschaft ein. Zu Herz-Sommer kam der Komponist, Dirigent und Pianist Viktor Ullmann.[5] Den Lebensunterhalt der Familie konnte sie mit Klavierunterricht finanzieren. Durch die deutsche Besatzung wurde dies jedoch auch von Tag zu Tag schwieriger, denn Juden durften keine Nicht-Juden mehr unterrichten. Somit wurde vielen Juden auch die letzte Lebensgrundlage genommen. Dennoch setzte sich Herz-Sommer über die Bestimmungen hinweg und unterrichtete weiter.
1942 deportierten die Nationalsozialisten ihre kranke 72-jährige Mutter. Die Mutter, wie später auch Alices Ehemann Leopold, kam in einem KZ ums Leben. Herz-Sommer verfiel daraufhin in Depressionen. Ein prägendes Erlebnis hatte sie, als sie durch die Straßen von Prag ging:
Ein Jahr später hatte sie die Etüden zur Konzertreife gebracht. Im Jahr 1943 wurde Alice Herz-Sommer deportiert.
Drei Tage wurde die Familie Sommer in einer großen Halle festgehalten. Angesichts tausender Matratzen und den Aufmärschen unter freiem Himmel wurde Alice klar, was auf die Familie zukommen würde. Sie selbst, ihr Mann und ihr sechsjähriger Sohn wurden in das KZ Theresienstadt deportiert. TheresienstadtIm Juni 1940 begannen die Nationalsozialisten damit, aus Theresienstadt ein Konzentrationslager zu machen. In der Kleinen Festung richteten sie am 10. Juni 1940 ein Gefängnis der Gestapo ein, in dem bis 1945 etwa 32.000 tschechische Oppositionelle, Mitglieder des Widerstandes gegen die Besatzung und Kriegsgefangene eingesperrt wurden. Im November 1941 entstand in der Garnisonsstadt ein Sammel- und Durchgangslager für die jüdische Bevölkerung Böhmens und Mährens. Am 16. Februar 1942 wurde die städtische Gemeinde aufgelöst, die einheimische Bevölkerung musste die Stadt verlassen, und in den folgenden Jahren kamen neben einheimischen Juden auch Juden aus Deutschland und anderen europäischen Ländern in das von den Nazis sogenannte „Altersghetto“. Um der Öffentlichkeit ein normales Leben mit zufriedenen Einwohnern vorzuspielen, die menschenfeindliche Ideologie der Nazis dadurch zu verschleiern und die internationale Öffentlichkeit über die mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbundenen Ziele zu täuschen, ließ die SS ein von den Lagerhäftlingen selbst organisiertes Kulturleben zeitweilig zu.
Tagsüber mussten Alice Herz-Sommer und ihre Freundin Edith Kraus Glimmer mit einem kleinen Messer spalten. Aus dem Material wurden Sichtfenster für Öfen hergestellt.
Sie spielte in einer Welt von Hunger, Leid und Tod. Ihr Sohn Raphael war fünfzigmal einer der Hauptdarsteller in der Kinderoper Brundibár des Komponisten Hans Krása. Unter anderem spielten die Häftlinge weitgehend ohne Partituren bzw. aus dem Gedächtnis Beethoven, Bach, tschechische Komponisten und die 24 Etüden Chopins. Alle halbe Stunde wechselten sich die Konzertpianisten des Lagers ab, um in einem Zimmer auf dem Piano des Lagers zu üben. An einigen Tagen waren bis zu vier Konzerte angesetzt. Die Namen der Musiker verschwanden von den Transportlisten, die in andere Vernichtungslager führten.[3] Auf die Frage hin, wie Herz-Sommer es geschafft habe, das Leben im Konzentrationslager auszuhalten, antwortete sie:
Ihr Mann, Leopold Sommer, wurde Ende September 1944 in das KZ Auschwitz verbracht, danach in das KZ Buchenwald, darauf folgte das KZ Flossenbürg. Er starb kurz vor der Befreiung 1945 im KZ Dachau an Flecktyphus. Alice und ihr Sohn Raphael, eines von nur 130 überlebenden Kindern, überlebten das KZ Theresienstadt.[2] Ihr Mann rettete ihr und dem gemeinsamen Kind Raphael durch seine Warnung, nichts freiwillig zu machen, vor seinem Abtransport das Leben.
Kriegsende und NachkriegszeitAm 8. Mai 1945 befreite die Rote Armee das Theresienstädter Konzentrationslager. Zuletzt erfüllte die „jüdische Mustersiedlung“ drei Aufgaben. Sie war Transitlager, sie diente der Vernichtung von Menschen und zeitweilig der Propaganda.
Nach der Befreiung sah Alice Herz-Sommer sich und andere jüdische Mitbürger diesmal dem tschechischen Antisemitismus ausgesetzt und sie hatte in der Nachkriegs-Tschechoslowakei unter dem stalinistischen Terror und tschechischen Nationalismus zu leiden. In einem Klima der politischen Unterdrückung herrschten zu dieser Zeit Angst und Misstrauen in der Gesellschaft. Im Jahr 1947 emigrierte sie mit ihrem Sohn zu ihrer Zwillingsschwester und Freunden, die sich schon in den 1930er Jahren nach Palästina hatten retten können, nach Jerusalem, ein Jahr bevor der Staat Israel entstand. Herz-Sommer unterrichtete am Jerusalemer Konservatorium und arbeitete als Musikpädagogin. Sie war Gründungsmitglied der Akademie in Jerusalem. Ihre Freundin Edith Kraus war Gründungsmitglied der Akademie in Tel Aviv. Alice besuchte sonntags ihre Schwester Irma, Frau ihres guten Freundes Felix Weltsch, die ihre Wohnung in der Nachbarschaft in Jerusalem hatte. Die Freundinnen Kraus und Herz-Sommer hatten beide einen großen Teil ihrer Familien verloren und hatten miterleben müssen, wie ihre Männer nach Auschwitz deportiert wurden. Aus der Zeit in Prag und im KZ Theresienstadt waren sie persönlich bekannt mit Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása, Hans Winterberg und Karel Reiner. Viktor Ullmann schätzte beide Pianistinnen sehr. Alice Herz-Sommer widmete er seine 4. Sonate; Edith Kraus spielte die Uraufführung der 6. Klaviersonate in Theresienstadt. Herz-Sommer war auch mit dem Hauptrichter der Nürnberger Prozesse befreundet, mit dem sie vierhändig Klavier spielte. Dank ihm konnte sie den Prozess gegen einen der Haupttäter des Holocausts, Adolf Eichmann, ansehen. Alice Herz-Sommer fühlte Mitleid mit ihm und keinen Hass.[4] 1986 übersiedelte Alice Herz-Sommer zu ihrem Sohn Raphael Sommer (* 21. Juni 1937; † 26. November 2001) und seiner Familie nach London. Er war Cellist, Dirigent und Mitglied des Solomon Trios. Ab 1993, als sie den Geiger Tony Strong traf, übte sie auch neue Stücke ein, u. a. von Debussy, Poulenc und Ravel. Zweimal im Monat traf sie sich mit ihm zum Spielen. Bis in ihr 92. Lebensjahr beherrschte sie ihr gesamtes Repertoire auswendig. Nachdem ihre beiden Zeigefinger steif geworden waren, studierte sie einen Teil der Stücke mit einem Acht-Finger-System neu ein. Die Musik hatte bis zuletzt eine besondere Bedeutung für sie:
2013 wurde ein Dokumentar-Kurzfilm mit dem Titel The Lady in Number 6 veröffentlicht, in dem Herz-Sommer über ihr Leben und ihre Liebe zur Musik spricht. Der Film gewann 2014 einen Academy Award als bester Dokumentar-Kurzfilm. Alice Herz-Sommer starb im Februar 2014 im Alter von 110 Jahren in London.[1] Literatur
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