Siem entwickelt während und nach ihrem Studium in Hamburg zwischen 1983 und 1988 ihre ersten Kleider, Wandmalereien und die Serie der Hüte. Mit diesen Arbeiten verarbeitet Siem auf ironische Weise den Einfluss ihrer Lehrergeneration. Die Kleider der frühen 1980er-Jahre sind ihre Antwort auf die textilen Arbeiten Franz Erhard Walthers, es sind ebenfalls „Objekte zum Benutzen“. Die auffälligen applizierten Muster, die zum Teil auf der Oberfläche so versetzt sind, als hätte man das Kleid nachlässig zusammengenäht, schaffen eine Verfremdung, sie heben die Kleider, die man ganz normal trägt, optisch im Straßenbild ab. Die Wandmalereien, in derselben Zeit entstanden, nehmen Wandarbeiten Blinky Palermos auf und führen sie ad absurdum. Statt einer monochromen Malerei verwendet Siem eine Marmor-Steinimitation wie im Theater. Die Wandarbeiten werden im öffentlichen Raum platziert (Treppenhaus, Büroflur, Café) und verbleiben dort teilweise jahrelang, ohne dass sie als Kunstwerk gekennzeichnet werden. Auch die Hüte sind tragbar und unterscheiden sich kaum von Modeentwürfen. Siems Textilarbeiten werden erst Jahre später, 1995, in der Galerie Chantal Crousel in Paris erstmals als Kunstobjekte ausgestellt.
Die 4 Werkgruppen
1989 bis 1997 entstehen Siems 4 Werkgruppen, eine große zusammenhängende Arbeit, die einen zentralen Platz in ihrem Œuvre einnimmt. Die erste Werkgruppe, 1989 bis 1993 (Kleider, Hüte, Taschen, Schuhe) überschreitet wie die vorangegangenen Arbeiten die Grenze von der Kunst zur Mode. Kleider und Accessoires sind objektiv oder potentiell benutzbar. Sie sind eine Art Prototypen und werden wie eine Warenpräsentation in einer großen Modeboutique ausgestellt.
Die Objekte der 2. Werkgruppe (1991–1994) sind ambivalent. Die Bezeichnung Kleider, Frisuren, Tücher, Wagen (Katalog Portikus) lässt an Mode/Lifestyle denken, die Werkgruppe selbst erfüllt diese Erwartung nicht. Die Kleider ähneln eher Ritterrüstungen, die Frisuren sind Helme aus Hartgips, die man nicht tragen kann, die Wagen sind schwere Holzkarren, die an ein Bauernmuseum denken lassen, die Tücher sind dicke Wandbehänge aus Filz. Die Präsentation der Werkgruppe ähnelt eher der Sammlung eines kulturhistorischen Museums als der in einer Modeboutique. Das weibliche Rollenverständnis wird unterwandert und ad absurdum geführt.
Auch die 3. Werkgruppe (1993–1997) nimmt Bezug auf Museumssammlungen. Die 6 Pelze erinnern an die zotteligen Maskenanzüge aus dem Alpenraum (Klaubauf, Perchten), In der Gruppe der 7 Masken hat die Künstlerin ihr eigenes Gesicht in sieben verschiedenen Gesichtsausdrücken wiedergegeben. (Franz Xaver Messerschmidt ist die Referenz) Die Gruppe der 42 Steine nimmt Bezug auf die Feldsteinsammlung Henry Moores und spielt in 42 Einzelskulpturen gleichsam den Formenkanon modernistischer Skulpturen durch (Hans Arp, Henry Moore).
Die 4. Werkgruppe (1995–1997) entwickelt durch den in der Mitte liegenden Teppich eine häusliche Ausstrahlung, Die Installation wirkt wie ein riesiges Zimmer. Der übergroße Teppich lässt die lebensgroßen Puppen/Figurinen und Holzobjekte, die ihn umgeben, klein erscheinen wie Spielzeug. Die Puppen sind gleichzeitig eine Referenz auf klassische Puppenformen als auch auf Skulpturen und Theaterkostüme Oskar Schlemmers.
Bauernmöbel
Die Gruppe der Bauernmöbel erarbeitet Wiebke Siem bei ihrem ersten Aufenthalt in Großbritannien. In diesem Fall sind alle Objekte 1:1 Kopien von existierenden deutschen Bauernmöbeln des 18. und 19. Jahrhunderts in verschiedenen privaten und öffentlichen Sammlungen. Die Verfremdung liegt in diesem Fall darin, dass die nachgebauten Möbel samt Bemalung nagelneu sind. Sie erscheinen uns fremd, obwohl sie dem eigenen kulturhistorischen Hintergrund entnommen sind. Dadurch stellt sich die Frage, was fremd und was eigen ist.
Maskenkostüme
Die Maskenkostüme (2000/2001) größtenteils bei Siems zweitem Englandaufenthalt entstanden, beziehen sich auf Objekte außereuropäischer Kulturen in europäischen Museumssammlungen, Maskenkostüme des afrikanischen bzw. des pazifischen Raumes. Die geschnitzten Masken lassen aber auch Bezüge zur europäischen Moderne deutlich werden.(Modigliani, Schlemmer) Es geht um die Kunst des außereuropäischen Raumes als Ressource der europäischen Moderne.
Die Fälscherin
Zwischen 2005 und 2009 arbeitet Siem an einer Gruppe von größeren Rauminstallationen, die 2009 im Neuen Museum Nürnberg unter dem Ausstellungstitel Die Fälscherin gezeigt werden. In Zimmereinrichtungen und Mobiliar der Vor- und Nachkriegszeit sind in surrealen häuslichen Szenen große Stoffskulpturen als Akteure platziert. Angstvision und Komik liegen nahe beieinander. Die zentrale Installation, eine aus Haushaltsgegenständen zusammengefügte „Afrika-Sammlung“, die obsessiv das ganze Zimmer besetzt, gibt der Ausstellung den Titel.
Hot Skillet Mama
Mit den Skulpturen, die seit 2010 entstehen, befreit sich Wiebke Siem in ihrer Praxis von den handwerklich aufwendig hergestellten Skulpturen, die ihr Werk jahrzehntelang geprägt haben. Nun setzt sie ihre Skulpturen aus einfachen Haushaltsgegenständen zusammen und bearbeitet sie anschließend, sodass sie eine einheitliche Oberfläche erhalten. Es entstehen körperlose Skulpturen, Skeletten nicht unähnlich. In der Installation Hot Skillet Mama nach einem frühen Stück von Sun Ra benannt, hängen die Figuren wie Marionetten von der Decke. Wie bei vielen Arbeiten Siems geht es auch hier um Verfremdung, um die Umwandlung von etwas Vertrautem in etwas Fremdes.
In der Studio-Installation Der Traum der Dinge - The Dream of Things überlässt sie es 2016 den Besuchern, die Haushaltsgeräte zu immer neuen Figuren zusammenzustellen und aufzuhängen (K20 - Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf).
Stipendien und Auszeichnungen
1990
Stipendium für bildende Künstler der Kulturbehörde Hamburg
Wiebke Siem: Kleider, Hüte, Taschen, Schuhe, Texte von Wiebke Siem und Jean Paul; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung auf Schloss Solitude. Hrsg.: Jean-Baptiste Joly, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, 1991
1994
Wiebke Siem: Kleider, Frisuren, Tücher, Wagen, Texte von Wiebke Siem und Adelbert von Chamisso; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Portikus. Hrsg.: Kasper König, Portikus, Frankfurt am Main, 1994
1996
Wiebke Siem, Texte von Wiebke Siem und Annelie Pohlen; Broschur zur Ausstellung der Projektreihe Duchamps Urenkel. Hrsg.: Bonner Kunstverein 1996.
1997
Wiebke Siem – Kunsthalle Bern, Texte von Wiebke Siem und Ulrich Loock; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Hrsg.: Kunsthalle Bern, Schweiz, 1997
Turmzimmer, Text von Peter Herbstreuth; Faltblatt zur gleichnamigen Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, 1997
2000
Juliana Engberg und Wiebke Siem: A new Project by Wiebke Siem, Texte von Kay Campbell; Broschur zur gleichnamigen Ausstellung in Spike Island. Hrsg.: Spike Island, Bristol, England, 2000
2007
Wiebke Siem: Niema tego zlego coby na dobre nie wyszlo, Text von Jens Asthoff; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Hrsg.: Johnen Galerie, Berlin 2007
2013
Wiebke Siem: Arbeiten 1983–2013. Hrsg.: Melitta Kliege und Angelika Nollert, Verlag für Moderne Kunst Nürnberg, 2013