Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl
Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2005 das (erste) Gesetz zum Europäischen Haftbefehl, EuHbG von 2004 für nichtig. Das Gesetz greife unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit (Art. 16 Abs. 2 GG) ein, da der Gesetzgeber die ihm durch den EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl eröffneten Spielräume nicht für eine möglichst grundrechtsschonende Umsetzung in nationales Recht ausgeschöpft hatte. Zudem verstoße das EuHbG aufgrund der fehlenden Anfechtbarkeit der (Auslieferungs-)Bewilligungsentscheidung gegen die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG). Damit war die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers erfolgreich, der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung an das Königreich Spanien ausgeliefert werden sollte. Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz erließ – was mittlerweile geschehen ist –, war die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen daher nicht möglich. Neu ist durch diese Rechtsprechung die Definition des Schutzbereichs von Art. 16 GG als ein Grundrechtskomplex aus Staatsbürgerschaft und Auslieferungsschutz, ein Maßstab woran auch die Gesetzgebung zur deutschen Staatsangehörigkeit künftig gemessen wird. KernaussagenDer Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
2. Durch den Ausschluss des Rechtsweges gegen die Bewilligung einer Auslieferung verstößt das Haftbefehlsgesetz gegen Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsweggarantie). Die Ergänzung des Bewilligungsverfahrens um sachliche Ablehnungsgründe führt dazu, dass die Bewilligungsbehörde bei Auslieferungen nicht mehr lediglich über außen- und allgemeinpolitische Aspekte des Auslieferungsersuchens entscheidet. Es handelt sich nicht um eine politische Entscheidung, es ist eine Rechtsentscheidung. Daher muss die Auslieferungsbehörde in einen Abwägungsprozess eintreten, der insbesondere die Strafverfolgung in Deutschland zum Gegenstand hat. Diese Abwägungsentscheidung dient dem Schutz der Grundrechte des Verfolgten und darf richterlicher Prüfung nicht entzogen werden. Schutzbereich von Art. 16 GGDas Gericht sieht in der Staatsangehörigkeit und dem Auslieferungsverbot einen zusammenwirkenden Grundrechtskomplex und beschreibt ihn orientiert am völkerrechtlichen Heimatbegriff. Sie begründet einen umfassenden Status Negativus und einen Status Activus: Die Staatsangehörigkeit ist eine dauerhafte Verbindung zwischen Bürger und Staat. Einmal begründet, darf sie grundsätzlich nicht gelöst werden, denn gerade die Dauerhaftigkeit ist ideales Element. Gerade aus der Erfahrung im Dritten Reich darf auch nicht eine Gruppe von Staatsbürgern durch Gesetz wegdefiniert und von dieser Verbindung ausgeschlossen werden. Auch verbietet das Demokratieprinzip, Staatsbürger auf eine andere Rechtsordnung zu verweisen, möge diese rechtsstaatlich sein und mögen sie auch einen Bezug dazu haben, denn diese andere Rechtsordnung haben sie meist nicht mitgestaltet und sie dürfen auf den beständigen Effekt der deutschen vertrauen. Einschränkungen duldet dieses Grundrecht nur in den eng definierten und gegeneinander abgegrenzten Möglichkeiten des Art. 16, die alle grundrechtschonend und unter lückenloser Rechtskontrolle durch die Justiz sowie Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auszugestalten sind. RechtsfolgenDas Haftbefehlsgesetz war nichtig. Der Gesetzgeber hatte die Gründe und das Verfahren für Auslieferung Deutscher neu zu gestalten. Hierzu durfte ihm das Verfassungsgericht keine weiteren Vorgaben machen. Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz erlassen hat, war die Auslieferung eines Deutschen nicht möglich. Auslieferungen konnten aber auf der Grundlage des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) erfolgen. Sondervotum des Richters BroßRichter Broß folgt der Senatsmehrheit im Ergebnis, nicht aber in der Begründung. Das Haftbefehlsgesetz sei bereits deshalb nichtig, weil es nicht dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung trage. Eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger komme nur insoweit in Betracht, als eine Verwirklichung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs im Inland aus tatsächlichen Gründen im konkreten Einzelfall zum Scheitern verurteilt wäre. Nur dann sei der Weg für eine Aufgabenwahrnehmung durch die nächsthöhere Ebene – die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – frei. Der Senat verkenne die Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes der Subsidiarität, wenn er es für statthaft erachtet, bei Straftaten mit Auslandsbezug eine Auslieferung Deutscher ohne jede materielle Einschränkung vorzusehen. Das Vertrauen des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung sei gerade dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Handlung maßgeblichen Auslandsbezug aufweist. Vor allem hier müssten sich die Schutzpflicht des Staates und der Grundsatz der Subsidiarität beweisen – nicht erst bei Straftaten mit Inlandsbezug. Sondervotum der Richterin Lübbe-WolffDie Richterin Lübbe-Wolff teilt die Auffassung der Senatsmehrheit nur insoweit, dass das Haftbefehlsgesetz den Grundrechten nicht hinreichend Rechnung trägt, folgt aber dem Rechtsfolgenausspruch nicht. Um Verfassungsverstöße auszuschließen, hätte die Feststellung genügt, dass für bestimmte näher bezeichnete Fälle Auslieferungen auf der Grundlage des Gesetzes bis zur verfassungskonformen Neuregelung nicht zulässig sind. Mit der Nichtigerklärung des ganzen Gesetzes werde dagegen die Auslieferung auch in verfassungsrechtlich völlig unproblematischen Fällen ausgeschlossen – beispielsweise sogar die Auslieferung von Staatsangehörigen des ersuchenden Staates wegen in diesem Staat begangener Taten. Die Bundesrepublik Deutschland werde so zu Verstößen gegen das Unionsrecht gezwungen, die ohne Verfassungsverstoß hätten vermieden werden können. Auf der Grundlage eines engeren Rechtsfolgenausspruchs müsste auch die erneute Entscheidung der Auslieferungsbehörde nicht notwendigerweise zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Sondervotum des Richters GerhardtNach Auffassung des Richters Gerhardt wäre die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen gewesen:
Auswirkung: neues GesetzBundestag und Bundesrat reagierten auf das Urteil mit einem Gesetzgebungsverfahren für ein neues EuHbG. Dabei wurden die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig monierten Punkte überarbeitet, die übrigen Regelungen weitgehend aus dem ursprünglichen Gesetz übernommen. Das neue Gesetz ist am 2. August 2006 in Kraft getreten.[2] Einzelnachweise
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Literatur
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