Strukturelle GewaltStrukturelle Gewalt bezeichnet die Vorstellung, dass Gewaltförmigkeit auch staatlichen bzw. gesellschaftlichen Strukturen inhärent sei – in Ergänzung zum klassischen Gewaltbegriff, der einen unmittelbaren personalen Akteur annimmt. In besonderer Weise formulierte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung ab 1971 eine solche Theorie. Beispiele für strukturelle Gewalt im Sinne Galtungs sind Altersdiskriminierung, Klassismus, Elitarismus, Ethnozentrismus, Nationalismus, Speziesismus, Rassismus und Sexismus. Der Ansatz von GaltungJohan Galtung ergänzte den traditionellen Begriff der Gewalt, der vorsätzlich destruktives Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe bezeichnet, um die strukturelle Dimension:
Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist das Zurückbleiben der aktuellen Selbstverwirklichung hinter der in einer Gesellschaft möglichen Selbstverwirklichung eine Form von Gewalt. Wenn Menschen im Mittelalter an Tuberkulose stürben, wäre dies nicht unbedingt Gewalt, weil die Medizin noch nicht weit genug entwickelt war. Wenn heute Menschen an Tuberkulose sterben, könne dies hingegen auf strukturelle Gewalt zurückgeführt werden.[1] Unter Strukturelle Gewalt fallen alle Formen der Diskriminierung, die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Auch eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert. Gewalt kann in dieser umfassenden Definition, die allein die Effekte benennt, nicht mehr konkreten, personalen Akteuren zugerechnet werden.[2] Sie basiere nurmehr auf Strukturen einer bestehenden Gesellschaftsformation, insbesondere auf gesellschaftlichen Strukturen wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Machtverhältnissen. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert seien. Galtung stellte sein Verständnis von „struktureller Gewalt“ erstmals 1971 in einem längeren Aufsatz vor. 1975 erschien ein Buch zum Thema.[3] 1996 fügte er die strukturelle Gewalt als neben personaler und kultureller Gewalt als einen der drei Pole in sein Konzept eines interdependenten Gewaltdreiecks ein. BegriffsgeschichteVor und nach Galtung gab es weitere Autoren, die eine Gewaltförmigkeit staatlicher bzw. gesellschaftlicher Strukturen beschrieben. Bertolt Brecht interpretierte den im 5. Jahrhundert vor Christus lebenden chinesischen Philosophen Me-Ti:
Der Gedanke, dass Gewalt auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst begründet sein kann, findet sich auch bei Karl Marx. So schreiben die Postmarxisten Michael Hardt und Antonio Negri:
Ähnlich die Kritische Theorie, vor allem Herbert Marcuse und sein 1964 erschienenes Werk Der eindimensionale Mensch. Hier werden die pluralistischen Demokratien der westlichen Welt als repressive, ja „totalitäre“ Gesellschaften beschrieben, die sich auf Indoktrination, Manipulation, Ausbeutung und Krieg gründeten. Kritik bleibe fruchtlos, da sie in das „eindimensionale“ System von Politik, Wirtschaft und Kulturindustrie integriert würde. Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault, dessen Anfang der 1970er Jahre entstandene Diskurs-Theorie strukturalistisch und apersonal geprägt ist, entwickelte in seinem Werk Überwachen und Strafen (1975) ebenfalls sozialkritische Gedanken, die auf strukturelle Gewalt abzielen. Auf Foucaults Theorie der Gouvernementalität beziehen sich heute zahlreiche Philosophen, so auch Giorgio Agamben. Legitimation von GegengewaltSchon vor Galtung wurde die Vorstellung von den gesellschaftlichen Strukturen inhärenter Gewalt zur Legitimation von Widerstand und Gegengewalt herangezogen. Herbert Marcuse betonte, dass es für unterdrückte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gebe: Wenn diese Minderheiten Gewalt anwendeten, so begönnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrächen die etablierte. Dabei ist er der Ansicht, dass eine Überwindung der entsprechenden Zustände im Wege der Reform nicht möglich sei. Wenn die strukturelle Gewalt den kritisierten Gesellschaftsformen wesenshaft inhärent ist, so bedarf es eines revolutionären Prozesses, um sie aufzubrechen. Der Vordenker der Studentenbewegung Rudi Dutschke erklärte nach der Erschießung von Benno Ohnesorg bei der Demonstration am 2. Juni 1967 in West-Berlin:
Die RAF rechtfertigte revolutionäre Gewalttaten mit der vorgängigen „Gewalt des Systems“. Ulrike Meinhof schrieb im Gründungsmanifest der RAF, „Das Konzept Stadtguerilla“ 1971:
Albert Fuchs, Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung, schrieb:
RezeptionGaltungs Ansatz wurde in der wissenschaftlichen Literatur vielfach rezipiert.[3] In den 1970er und 1980er Jahren wurde er verschiedentlich herangezogen, etwa zur Analyse des Imperialismus und des Nord-Süd-Konflikts.[7] Viele Richtungen der Soziologie und Politikwissenschaft zögerten allerdings, den Begriff zu übernehmen, einerseits wegen des Verdachts seiner ideologischen Verwendung, andererseits fürchtete man, dass er von dem eingeführten und wohldefinierten Begriff „Herrschaft“ fast ununterscheidbar sei. 2017 hat Peter Imbusch eine Revitalisierung des Konzepts der strukturellen Gewalt vorgeschlagen.[8][9] KritikDer Staatsrechtler Josef Isensee sah in der „Lehre von struktureller Gewalt, die von der neomarxistischen Richtung der sog. Friedensforschung vertreten wird“, ein „Legitimationsschema zum Bürgerkrieg gegen das ‚kapitalistische‘ System“:
Gustav Däniker, ehemaliger Stellvertretender Chef des Generalstabs der Schweizer Armee, schrieb in einer Analyse des Terrorismus im Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik:
Laut dem Soziologen Helmut Willems werden linksextremistisch motivierte Gewalttaten mit Verweis auf eine „strukturelle Gewalt des Systems“ gerechtfertigt.[12] Der Politikwissenschaftler Dieter Nohlen kritisiert, dass der Begriff schwammig bleibe, da Galtung sich dagegen gewehrt habe, ihn präzise zu explizieren. Seine Inhalte blieben daher fließend. Mehr als dass strukturelle Gewalt schlecht sei, bewusst gemacht und so überwunden werden müsse, sage der Begriff letztlich nicht aus.[13] Der Soziologe Andreas Braun (Universität Bielefeld) hat 2021 gegen das Konzept der strukturellen Gewalt eingewendet, dass es gar nicht auf Gewalt (violentia), sondern auf Macht (potestas) abziele. In seinem Beitrag widersprach er auch Imbusch, der das Konzept 2017 wiederzubeleben versucht und dabei postuliert hat, dass die Engfassung des Gewaltbegriffs auf explizite physische Gewalt und damit verbundenen Leids eine nicht zu rechtfertigende Fokussierung darstelle. Braun hielt dagegen, dass gerade diese enge Definition es erlaube, Gewalt und Macht analytisch trennscharf zu behandeln, was auch der Friedens- und Konfliktforschung zugutekomme.[14] Literatur
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Einzelnachweise
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