Stammlinien finden sich bei allen Adelshäusern und Herrschergeschlechtern des europäischen Kulturraums (sowie weltweit), ebenso in vielen bürgerlichenFamilien. Eine Stammlinie verläuft in aufsteigender Reihe (Aszendenz) über den Vater, seinen Vater (Großvater), dessen Vater (Urgroßvater), und so weiter zurück bis zum Gründer dieser Linie, dem „Stammvater“ (Ahnherrn). Im Allgemeinen umfasst eine Stammlinie mindestens vier Vorfahren-Generationen bis zum väterseitigen Ururgroßvater, oft aber zehn und mehr Generationen; zum Nachweis der Ehelichkeit der Nachkommen werden meist auch die Ehefrauen der Vorväter namentlich genannt.
Für den Fall, dass es in der Stammlinie keinen männlichen Nachkommen gibt, entwickeln Adelsfamilien komplizierte Regelungen bezüglich der Erb- und Rechtsnachfolge, wie das Majorat (Ältestenrecht), oder in seltenen Fällen ein Erbtochter- oder Erbjungfernrecht; durch solche Abfolgen kann allerdings die als Mannesstamm bezeichnete Hauptlinie gänzlich „erlöschen“ (siehe dazu das Wappenrecht).[2]
Stammlinien beinhalten zumeist keineGeschwisterteile der Vorväter (Seitenverwandte wie Onkel, Großtanten oder Urgroßonkel), sowie keine Verwandten der Ehefrauen (affine Verwandte: Schwägerschaft). Die biblische Vätergeschichte beschreibt allerdings neben der Stammlinie des Erzvaters Abraham auch die jeweiligen Brüder – und manchmal auch Schwestern – der Vorväter und ihrer (teils mehreren) Ehefrauen. Anschauliche Beispiele für eine strikte, sehr lange Stammlinie bilden die beiden erfundenen „Stammbäume von Jesus Christus“ in den biblischen Evangelien: reine (Erbsohn-)Vater-Abfolgen bis zu 78 Generationen zurück („fiktive Genealogien“ zur Ansippung an Abraham und Noah).
Eine Stammlinie kann sich aufspalten und eine Seitenlinie bekommen, bei Adelsfamilien wird zwischen der Hauptlinie und möglichen Nebenlinien unterschieden. Die Stammlinie eines Hauses wird normalerweise vom ältesten Sohn fortgeführt (Primogenitur). Wird aber dieses Erstgeburtsrecht oder das Ältestenrecht (Majorat) nicht umgesetzt, kann ein jüngerer Sohn eine Nebenlinie begründen (Sekundogenitur), jeweils geregelt über ein familieneigenes Hausgesetz. Bei Anwendung dieser Form der Erbteilung erhält der jüngere Sohn keine normale Abfindung, sondern zusätzlichen Besitz und soziales Ansehen (siehe auch Minorat).
Stammlinien werden auch als agnatisch bezeichnet, eine Bezeichnung aus dem alten römischen Recht für ausschließlich männliche Blutsverwandte, die Agnaten (lateinischagnatus „der Hinzu-/Nachgeborene“). Die Agnation war Teil der römischen Vorstellung von „väterlicher Gewalt“ (patria potestas) und betrachtete männliche und weibliche Seitenverwandte als nur kognatisch („mitgeboren“). Agnatisch gesehen ist ein Sohn nicht mit den Schwestern seines Vaters (Tanten) verwandt, streng genommen nicht einmal mit seinen eigenen Schwestern.
Ethnologie
In der Ethnosoziologie wird die Abstammung und Erbfolge in rein männlicher Linie als patrilinear bezeichnet (lateinisch „in der Linie des Vaters“: Väterlinie). Fast 50 % der weltweit erfassten 1300 Ethnien und indigenen Völker ordnen sich patrilinear,[3] fast alle wohnen nach einer Heiratpatri-lokal beim Ehemann oder seinem Vater, die Ehefrau muss hinzuziehen.[4] Die eigenen Töchter heiraten hinaus (siehe Exogamie), während die Söhne ihre Ehefrauen aus anderen Familien hereinholen. Dieser Praxis folgen auch an Stammlinien ausgerichtete Familien. Den direkten Gegensatz zu einer Stammlinie bildet die matri-lineare Abstammungsfolge über die Mütterlinie, nach der sich 13 % aller ethnischen Gesellschaften organisieren;[3] oft wohnen sie matri-lokal bei der Familie der Ehefrau.[4] Neben diesen einlinigen Abfolgen gibt es gemischte Linien, die aus der väterlichen und der mütterlichen Herkunft gebildet werden, wie die auch in modernen Gesellschaften übliche kognatisch-bilaterale Abstammung von beiden Elternteilen.
Ahnenforschung
Die ältere Ahnenforschung beschränkte sich oft auf die männliche Stammreihe, allerdings sind vor allem für die medizinische Diagnose von vererbbaren Krankheiten sowohl die weibliche wie die männliche biologische Abstammungslinie entscheidend. Die neuere Genealogie strebt deshalb nach umfangreichen Ahnenlisten, die kognatisch-bilateral beide Abstammungslinien zusammenbringen, ohne Hervorhebung der Väterlinie. In der biologischen Vererbungslehre (Genetik) werden die beiden Abstammungslinien als paternal (vaterseitig) und maternal (mutterseitig) unterschieden.
↑ ab
J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damaligen 1267 Ethnien): „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal […] 349 Bilateral“ (= 46,1 % patrilinear; 12,6 % matrilinear; 27,6 % kognatisch-bilateral). Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt.
↑ abHans-Rudolf Wicker: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie. (PDF; 532 kB) Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 2005, S. 13, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 21. Oktober 2013; abgerufen am 12. März 2020.
Die Zahlen auf S. 13:
589 patrilineare Ethnien (46 %) – ihr Wohnsitz nach der Heirat (Residenzregel): 000563 (95,6 %) wohnen viri/patri–lokal beim Ehemann, dessen Vater oder Abstammungsgruppe (Familie, Lineage, Clan) 000025 0(4,2 %) wohnen neolokal („am neuen Ort“) 000001 0(0,2 %) wohnt matri–lokal bei der Mutter der Ehefrau
164 matrilineare Ethnien (13 %) – ihre eheliche Wohnsitzwahl: 000062 (37,8 %) wohnen avunku–lokal beim Bruder der Mutter des Ehemannes, seltener beim Bruder der Ehefrau-Mutter (Oheim) 000053 (32,3 %) wohnen uxori/matri–lokal bei der Ehefrau oder ihrer Mutter 000030 (18,3 %) wohnen viri/patri–lokal beim Ehemann oder seinem Vater 000019 (11,6 %) haben andere eheliche Wohnsitzregeln: neolokal, unverändert (natolokal) u. a.