Schilf (Roman)Schilf ist ein Kriminalroman von Juli Zeh (* 1974), in dem zwei elitäre Physiker und ihre abstrakten Konzepte von Zeit und Wirklichkeit mit der Realität konfrontiert werden. Aus der abstrakten Kontroverse um Grundkonzepte der modernen Physik entwickelt sich ein Desaster aus Kindesentführung, Mord und zerstörten menschlichen Beziehungen. InhaltJuli Zeh stellt ihrem Roman einen „Prolog“ voran, der mit vagen Vorausdeutungen Spannung erzeugt.
– Juli Zeh: Schilf, Prolog Hauptfiguren des Romans sind die beiden elitären Physiker Sebastian und Oskar, die sich seit ihrem Studium in Freiburg im Breisgau kennen und lieben. Doch Sebastian fühlt sich am Ende des Studiums von der Dauerkonkurrenz mit dem genialeren Oskar überfordert und flüchtet in die Ehe mit der wunderschönen und erfolgreichen Galeristin Maike. Mit Maike und dem gemeinsamen Sohn Liam führt er ein glückliches Familienleben in Freiburg, wo ab und an Oskar als Gast auftaucht. Physikalisch hat sich Sebastian zum Ärger Oskars auf die exotische Viele-Welten-Theorie spezialisiert, die als wissenschaftliche Sackgasse gilt. Oskar haben seine bahnbrechenden Forschungen zum Wesen der Zeit an das berühmte Schweizer Forschungsinstitut CERN geführt, wo er daran arbeitet, „die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen“.[1] Aus dieser Figurenkonstellation entwickelt sich ein dramatischer Konflikt. Auf der Fahrt in ein Ferienlager wird Liam entführt und ein Erpresser fordert Sebastian scheinbar auf, einen Mediziner zu töten, wenn er seinen Sohn lebend wiedersehen will: „Dabbeling muss weg“ lautet die Aufforderung. Dieser Arzt Dabbeling ist nicht nur in einen Medizinskandal verwickelt, sondern als Freund der Frau Sebastians auch Gegenstand seiner Eifersucht. Nachdem Sebastian diesen Mord verübt hat, übernimmt der ebenfalls geniale Kommissar Schilf, der von einer tödlichen Erkrankung gezeichnet ist, die Ermittlungen. Schilfs Nachforschungen beginnen im Umfeld des Krankenhauses, in dem Dabbeling gearbeitet hat, verlagern sich aber immer mehr hin zu Sebastian. In Genf, wo Schilf Oskar besucht, löst er den Fall letztlich; Sebastian hatte die Aufforderung Oskars missverstanden: „Doublethink muss weg“ hatte sie gelautet, womit Oskar sowohl eine Kritik an der von Sebastian verfochtenen Viele-Welten-Theorie als auch ein Ausdruck seiner Eifersucht auf die Liebe Sebastians zu Liam ausdrücken wollte. Schilf inszeniert die Überführung Oskars als eine Reinszenierung des Mordes an Dabbeling, um Oskar seinem „inneren Richter“ zuzuführen. ThemenDas grundlegende Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Handlung zieht, ist der Einfluss des Beobachters auf den Gegenstand seiner Beobachtung.
– Juli Zeh[2] Im Roman sind es hauptsächlich Vögel, denen die Rolle des Beobachters zukommt. So sind es zu Beginn der Handlung die Berge, welche einige Vögel als Beobachter nach Freiburg entsenden, während vor Sebastians Haus zwei Enten, Bonnie und Clyde, stets das Geschehen im Blick haben. Rita Skura, die sich von den Vögeln beobachtet fühlt, hält sich eine Katze als Vogelscheuche. Der wichtigste auftretende Beobachter, der auch tatsächlich im Roman so genannt wird, ist eine Stimme in Schilfs Kopf, die Denken und Handeln des Kommissars kommentiert. Schilf findet nach einer medizinischen Untersuchung dessen „Sitz“ in Form eines Hirntumors, den er als Vogelei bezeichnet. Das „Schlüpfen“ des Beobachters, der als Vogel aufsteigt und zugleich Schilfs Tod bewirkt, kann so gedeutet werden, dass Schilfs Existenz von der Beobachtung abhängig war. Umgekehrt befürchtet Schilf kurzzeitig, dass sich seine Freundin bei der Begegnung mit Sebastian, einem unabhängigen Beobachter, spontan auflösen und verschwinden könnte. Klaus Zeyringer führt hierzu aus:
– Klaus Zeyringer[3] Nicht zuletzt tritt das Beobachtermotiv aber auch in einer für einen Kriminalroman ganz klassischen Form auf: Sebastian wird kurz vor dem Mord an Dabbeling von einem Insektenkundler gesehen. Ein weiteres wichtiges Thema des Romans ist „die Frage der Schuld“. Mit dem genialen Physiker Oskar entwirft Juli Zeh einen Menschen, der sich über alle moralischen Fragen stellt, und versucht, alle Entscheidungen aus einer Art von mathematischem Kalkül zu treffen. Dennoch ist es gerade sein kühl geplantes menschliches Experiment, das den Mord Sebastians und die Schuldverstrickungen auslöst. Ironischerweise ist es dabei auch Oskars Ziel gewesen, die Bedeutungslosigkeit von Begriffen wie Moral in der Viele-Welten-Interpretation zu zeigen. Sebastian, sein Physikerfreund, wird durch Erpressung und durch ein Missverständnis zum Mörder. Auch hier stellt sich die Frage nach der ethischen Verantwortung. Was darf ein Vater tun, um das Leben seines Kindes zu retten? Darf er auch Unschuldige opfern? Die Schuldfrage hat hier noch einen Nebenaspekt: Die scheinbar ausschließlich aufgrund der Erpressung durchgeführte Tat hat durchaus emotionale Nebenaspekte, denn Sebastian hätte durchaus Grund zur Eifersucht auf das Opfer, das mit seiner Frau befreundet war. Ein beachtlicher Teil der Gespräche und Gedanken der Romanfiguren kreisen um Probleme der theoretischen Physik. Von Quantenmechanik ist die Rede und vom Wesen der Zeit. Insbesondere wird die von der Romanfigur Sebastian vertretene sogenannte Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik diskutiert. Diese von Hugh Everett entwickelte Interpretation besagt, dass für jede Möglichkeit des Universums eine eigene Welt entstehe, dass also jede mögliche Aktion im Universum geschehe und zugleich nicht geschehe. Der Physiker Stephen Hawking schreibt diesbezüglich:
– Stephen Hawking: Das Universum in einer Nußschale, Hamburg 2001, S. 88 Brigitte Helbling weist in ihrer Rezension auf die umfangreiche literarische Rezeption physikalischer Grundbegriffe von Thomas Pynchon bis zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen hin. Im Unterschied zu Juli Zeh hätten sich viele Autoren aber nicht wirklich mit der Physik auseinandergesetzt. Dass dies zu teilweise schwer verständlichen Passagen zur Welt der theoretischen Physik führe, hält Helbling für diese Materie für unvermeidlich.[4] Ein Nebenthema ist ein Medizinerskandal in Freiburg, in den auch das Mordopfer des Romans scheinbar verstrickt wird. Dieses Thema dient aber doch eher als falsche Fährte und wird am Ende des Romans beiläufig aufgeklärt. Literarische FormJuli Zeh setzt sich mit Schilf mit der Gattung des Kriminalromans auseinander, auch wenn sie selbst die Frage der Form herunterspielt.
– Juli Zeh[5] Sie gibt an, sich nur in der Jugend intensiver für Krimis interessiert zu haben und damals auch eher für die trivialen Al-Wheeler-Krimis von Carter Brown und dies vor allem aus sexuellem Nebeninteresse. „Bücher-Magazin: Diese schwarz-gelben Taschenbücher aus dem klapprigen Drehständer in der Bahnhofsbuchhandlung? Juli Zeh: Ja, ja, genau die. Geniale Sachen. Mein Vater hat die gesammelt. Gelesen habe ich das aber vor allem, weil da immer Sex vorkam. Heißer Stoff! Heute würde ich wahrscheinlich verstehen, dass das ironisch ist. … Damit habe ich mich aufgeklärt.“[2] An den meisten Krimis störe sie, dass man beim Lesen ohne Abwege der Auflösung des Falls folgen müsse, „ständig das Zielkreuz vor der Nase habe.“[2] Ihr Ansatz, die eigentliche Kriminalgeschichte zum Vehikel für die Vorstellung wissenschaftlicher Fragen oder kultureller und historischer Phänomene zu machen, ist durchaus nicht neu. Auch das Konzept, den Mord als Experiment erscheinen zu lassen, erinnert wie der vom Tode gezeichnete, geniale Kommissar an Dürrenmatts Klassiker Der Richter und sein Henker. Auch die Selbstreferenz des Textes durch wertende Kommentare des Autors zum eigenen Schreiben ist als literarisches Stilmittel bekannt. Dennoch gelingt es Zeh, literarisch eine eigenständige Form zu entwickeln. Ein Baustein sind die überraschenden und originellen literarischen Bilder. Als Beispiel sei die Schilderung Freiburgs als Ort der Handlung aus dem Eingangskapitel zitiert.
– Juli Zeh: Schilf, S. 9 Alexandra Mangel macht in ihrer Kritik diese Stilelemente, „die Gedankenspiele, ... die klare Konstruktion, ... die – mal geschliffen kühle, dann wieder blumig wuchernde – Dandy-Ästhetik und ... die groteske Überzeichnung der Figuren“[6] zum Maßstab, ob ein Leser Zehs Buch mag und zieht sogar – wie Wiebke Porombka[7] – den Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil zum Vergleich heran. Juli Zeh sieht ihren sprachverliebten Stil durchaus selbstkritisch: „Ich verstehe, dass mein Stil viele nervt.“[5] Dennoch: Obwohl der naturwissenschaftliche Kontext sie zu einer Reduktion von Sprachspielen gezwungen habe, sei ihr Hauptinteresse die „Potenz von Sprache“. Normalerweise gehe sie noch viel „barocker, ausschweifender und dreister mit Metaphern um“.[5] RezeptionJuli Zehs Konzept, mit den Kernfiguren des Romans auch zwei wissenschaftliche Konzepte miteinander zu konfrontieren, stößt nicht nur auf Zustimmung.
– Alexandra Mangel[6] Alexandra Mangel sieht die Schwäche des Romans darin, dass die physikalischen Theorien weniger zum Konstruktionsprinzip des Romans werden als zum stetigen Redethema der Figuren, die sich in immer neuen Dialogen und inneren Monologen damit beschäftigten. Die Figuren werden dadurch aus Sicht von Mangel nicht zu lebendigen Menschen, sondern bleiben „hochbegabte Probanden in einer Versuchsanordnung“.[6] Zehs Versuch, dem Genre „Standardkrimi“ zu entkommen, wertet Mangel als gescheiterten Versuch, mit den Werkzeugen des Genres zu spielen, bei dem Zeh „gleich den ganzen Werkzeugkasten demontiert und jedes einzelne Werkzeug mit Fragezeichen verziert“.[6] Auch Sigrid Löffler erscheint der Roman als „komplizierte Versuchsanordnung“.[8] Sigrid Löffler sieht aber, anders als FAZ und Alexandra Mangel, das literarische Experiment als geglückt an:
– Sigrid Löffler[8] Die Glaubwürdigkeit der beiden Physikerfiguren ist ein zentrales Thema der Kritiken. Bernhard Fetz sieht in Oskar das „Klischeebild vom genialen, arroganten und seine Umwelt verachtenden Superforscher“[9], während er Sebastian als Gegenfigur für komplexer konstruiert und damit für interessanter hält. Juli Zeh erklärt zur Kritik an ihren Figuren, die einigen Rezensenten als stark holzschnittartig erscheinen, sie habe die beiden Physikerfiguren aus einem binären Schema entwickelt.
– Juli Zeh[5] Dagegen seien ihre Polizisten Rita und Kommissar Schilf eher „Comic-Figuren“, hätten „etwas Groteskes und Satirisches“.[5] Zugleich kennzeichnet sie ihren vom Tode gezeichneten Kommissar als einen literarischen Topos, da das Genre Kriminalroman eng mit den Themen Tod und Vergänglichkeit verkoppelt sei. Dennoch fällt der Kritik ins Auge, dass Juli Zehs „Figuren, auch in ihren vorherigen Romanen, stets Sonderbegabungen und Ausnahme-Talente sind“.[5] Den beiden genialen Physikern, von Kindheit an von der Dummheit der Welt gesonderten Hochbegabten, steht der ebenso geniale Kommissar Schilf gegenüber, wenngleich dieser auch eher meditativ und unkonventionell an strategische Fragen herangeht. Die Gattin Sebastians glänzt zwar weniger durch Intellekt, aber doch durch kulturelle Kompetenz und umwerfende Schönheit. Die Kritik koppelt dies regelmäßig mit Juli Zehs „Image einer Sonderbegabung, sogar einer Streberin“.[5]
– Brigitte Helbling[4] Brigitte Helbling nimmt in ihrer Rezension auch den metaphernreichen Stil Juli Zehs ironisch aufs Korn.
– Brigitte Helbling[4] Ähnlich sieht auch Bernhard Fetz die Metaphorik als teilweise missglückt, sieht einen zu starken „Willen zur Literarisierung“.
– Bernhard Fetz[9] Juli Zeh gibt an, ihre schrägen Metaphern bei der Arbeit am Roman bereits deutlich reduziert zu haben. Sie habe dazu eine Fassung des geschriebenen Textes auf Tonband gesprochen und dabei pathetisch klingende Stellen reduziert.[2] BühnenfassungDie Uraufführung einer Bühnenfassung des Romans fand am 13. Dezember 2007 unter der Regie von Bettina Bruinier am Münchner Volkstheater statt. Für die Textfassung war die Regisseurin und die Dramaturgin Katja Friedrich verantwortlich. Für ihre Inszenierung wurde Bettina Bruinier mit dem Stern des Jahres der Münchner Abendzeitung ausgezeichnet. Die österreichische Erstaufführung erfolgte 2012 am Wiener KosmosTheater unter Regie von Esther Muschol. Ausgaben
Hörbuch
FilmDer Roman wurde im Mai bis Juni 2011 in Weimar, Jena, Erfurt und Umgebung sowie in Genf von Claudia Lehmann verfilmt. Die Hauptrollen spielten Mark Waschke und Stipe Erceg.[10] Der Film wurde ab dem 8. März 2012 in deutschen Kinos gezeigt.[11] Das mit 800.000 Euro geförderte Werk wurde von 10.000 zahlenden Besuchern gesehen[12] und im Januar 2015 auf Einsfestival HD gezeigt.[13] Weblinks
Fußnoten
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