Zeus, Herrscher des Götterbergs Olymp, hatte zuvor Dionysos’ werdende Mutter getötet, seine Geliebte Semele. Sie war die Tochter der Göttin der Eintracht (Harmonia) und des Königs von Theben (Kadmos). Semele hatte Zeus in seiner wahren Gestalt sehen wollen, um zu prüfen, ob er wirklich er selbst sei. Dazu war sie angestachelt worden von Hera, der eifersüchtigen Gattin (und Schwester) von Zeus. Semele wusste allerdings nicht, dass die eigentliche Erscheinungsform von Zeus der Blitz ist. Als Zeus sich ihr schließlich in seinem „vollen Glanz“ zeigt, verbrennt Semele, wie von einem Blitz getroffen, und mit ihr auch ihr Palast in der Stadt Theben. Das Kind in ihrem Leib wird jedoch vom Schutzgott Hermes gerettet, und Zeus näht sich seinen Sohn in seinen eigenen Oberschenkel ein, um ihn auszutragen.[1]
Die Schenkelgeburt wird dem Weingott entsprechend als mythologisches Bild für das Veredeln des Weinstocks gesehen, bei dem ein neuer Edelzweig mit einem alten Pflanzenstamm zusammengefügt wird (Aufpfropfen).[2] Das Eingenähtwerden von Dionysos entspricht einem seiner Beinamen: Eiraphiotes „der eingenäht wurde“,[3] beispielsweise in lederne Weinschläuche.
Der Religionswissenschaftler Karl Kerényi unterschied 1975 verschiedene mythologische Schichten bei der Schenkelgeburt. Grundlegend sei die Symbolik des Oberschenkels als männlicher Phallus, der im Rahmen jährlicher Fruchtbarkeitskulte zur Verbindung mit dem Weiblichen zu opfern sei: „Die Erfindung einer Geburt aus dem Schenkel […] betonte grausam die ewige, notwendige Selbstopferung der männlichen Lebenskraft an das weibliche Geschlecht: ein Opfer, das dem ganzen Menschengeschlecht galt.“[3][4]
Siehe auch
Dionysiaka (spätantike „Geschichten von Dionysos“, siehe 9. Gesang)
Literatur
Heinrich Heydemann: Dionysos’ Geburt und Kindheit. Niemeyer, Halle an der Saale 1885 (ordnet und erläutert viele Kunstdarstellungen der dionysischen Geburtslegende; PDF-Datei; 9,5 MB; 59 Seiten als Scans bei tpsalomonreinach.mom.fr).
Karl Kerényi: Die Schenkelgeburt und das Idol mit der Maske. In: Derselbe: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens. 2. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91686-5, S. 170–179 (erstmals 1975; vertiefende Analyse der mythologischen Schichten der Schenkelgeburt; Seitenansichten in der Google-Buchsuche).
Aaron J. Atsma: Birth & Nursing Of Dionysus Baccheus. In: Theoi Project. Neuseeland, abgerufen am 21. November 2013 (englisch, viele übersetzte Originalquellen zu Dionysos’ Geburt; 2000–2011).
↑Herbert Bannert: Valdis Leinieks, The City of Dionysos. A Study of Euripides’ Bakchai. Stuttgart – Leipzig: B. G. Teubner 1996. In: Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition: Rezensionen.Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Wien, abgerufen am 21. November 2013 (deutsch, das folgende Zitat ist der einzige Bezug auf die Schenkelgeburt in der sehr fachbezogenen Buchbesprechung): „Die Deutung der Schenkelgeburt als eines Symbols für das Veredeln des Weinstocks, das Pfropfen eines neuen Reises auf einen alten Stamm mit Hilfe des Winzermessers und des Okulierschnitts, ist eine plausible, weil vordergründig stimmige und unmittelbar verständliche Erklärung. Sie geht auf die Erklärung von Vasenbildern zurück, die K. Kerényi herangezogen hat. Alle anderen Deutungen sind unbefriedigend (193 f.).“
↑ abKarl Kerényi: Die Schenkelgeburt und das Idol mit der Maske. In: Derselbe: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens. 2. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91686-5, S. 172 (erstmals 1975; Seitenansicht in der Google-Buchsuche): „Die Geburt aus dem Schenkel des Vaters wurde an das Beiwort des Dionysos Eiraphiotes angeknüpft und zum Leidtragenden nicht er selbst, sondern Vater Zeus gemacht. Eiraphiotes bedeutet tatsächlich einen, »der eingenäht wurde«. […] Die Erfindung einer Geburt aus dem Schenkel hatte in Griechenland ihre Funktion: die Verheimlichung dessen, was der Gott als verschwenderische Gabe am eigenen Leib vornahm. Der Mythos betonte grausam die ewige, notwendige Selbstopferung der männlichen Lebenskraft an das weibliche Geschlecht: ein Opfer, das dem ganzen Menschengeschlecht galt.“
↑
Max Ortner: Griechisch-römisches Religionsverständnis und Mysterienkulte als Bausteine der christlichen Religion. Universität Wien 2009, S. 84 (Doktorarbeit; das folgende Zitat ist im Buch der einzige Bezug auf die Schenkelgeburt; online bei readbag.com; PDF-Download; 2,4 MB): „Das ungeborene Kind wird sodann im Schenkel des Zeus (als einem männlichen Mutterleib) ausgetragen und ein zweites Mal aus dem Schenkel geboren. […] Die Schenkelwunde des Gottes steht in Beziehung zu Kastration und Tod im Kontext von Initiationen.“
Siehe auch die Vorlage von 1977: Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2011, S. 254–255 (erstmals 1977; das folgende Zitat ist im Buch der einzige Bezug auf die Schenkelgeburt; online@1@2Vorlage:Toter Link/de.scribd.com (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. bei scribd.com): „[…] das ungeborene Kind wird im Schenkel des Zeus als in einem »männlichen Mutterleib« ausgetragen und ein zweites Mal aus dem Schenkel geboren. […] der Schenkel bringt erotische, auch homoerotische Assoziationen. Die Schenkelwunde steht in Beziehung zu Kastration und Tod, offenbar auch im Zusammenhang mit Initiationen. […] Die Geburt des Dionysos, gefeiert im Dithyrambos, seine erste Epiphanie fällt zusammen mit einem »unsagbaren Opfer«, dem in der kultischen Realität das Stieropfer entspricht.“