Johannes Frenzel hatte 1897 (u. a.) die Amöbengattung Saccamoeba mit der damaligen Typusart Saccamoeba punctata eingerichtet, weil die damals in der Gattung Amoeba zusammengefassten Arten augenscheinlich eine für diese taxonomische Rangstufe viel zu hohe Diversität zeigten; die Gattung war zu einem wastebin genus geworden, wie man heute sagen würde. Zitat:
Schon Hertwig und Lesser einerseits und F. E. Schulze anderseits hatten die Meinung vertreten, dass es angemessen sein würde, den so artenreichen und wenig charakterisirten (sic!) Begriff Amoeba in eine Anzahl wohl gekennzeichneter Gattungen aufzulösen. Ich möchte unter dem Genus Saccamoeba daher alle diejenigen Formen vereinigen, welche zwar grösserer Gestaltsveränderungen fähig sind, als das von mir begründete Genus Guttulidium, deren Pseudopodien jedoch als bruchsackartige Ausstülpungen zu betrachten sind und niemals fingerförmig oder gar strahlenförmig werden. Die S. punctata lebte in frischem Teichwasser an Wurzeln von allerhand Wasserpflanzen. … (Frenzel, 1897, S. 2)[2]
In den mehr als 125 Jahren seitdem ist zwar noch der Gattungsname geblieben, von den ursprünglich durch Frenzel in die Gattung gestellten Arten ist nichts oder fast nichts übrig geblieben (Ausnahme von S. lucens). Die Diskussion darum, welche Arten zugehörig sind, dauert dabei bis heute an, die von Smirnov et al. (2004) gelisteten Arten[3] sind in moderneren Aufstellungen schon nicht mehr vertreten,[1][4] der phylogenetische Baum von OneZoom zeigt eine hohe Polyphylie der Gattung (näheres im Abschnitt §Innere Systematik), ein Knoten für die Gattung fehlt.[5]
Die Gattung bekam in der letzten Zeit wieder erhöhte Aufmerksamkeit, seitdem entdeckt wurde, dass Mitglieder, darunter S. lacustris von Riesenviren der Familie Mimiviridae parasitiert werden.[6][7][8][9]
Fortbewegungsmethode
Die Fortbewegungsmethode von S. limax mit Hilfe der Pseudopodien (Scheinfüßchen) wurde in den 1980er Jahren von Andrzej Grebecki genauer untersucht.
Eine Aufeinanderfolge von spezifischen Veränderungen dieser Scheinfüßchen (Pseudopodienzyklen) ermöglicht der Amöbe die „unidirektionale“ Fortbewegung in eine bestimmte Richtung.
Jedes neue Scheinfüßchen entsteht dabei an der Spitze seines Vorgängers.
Es bildet damit eine neue Front mit einer (im Vergleich zum sonstigen körnigen Zytoplasma) weitgehend transparenten („hyalinen“) Kappe.
Während sich die neue Front an der Spitze weiter ausbreitet, ziehen sich alte Fronten und Ausstülpungen weiter hinten zurück. Damit die Zelle dabei nicht zurückgleitet, geht dieser Zyklus mit der Bildung einer neuen Befestigung am Substrat und späterer Ablösung (im hinteren Bereich) einher.
Wenn die Anheftung fehlt oder auf das hintere Körperende beschränkt ist, dann werden die sonst monopodialen Saccamöben (mit nur einem einzigen Scheinfüßchen) typischerweise polypodial (mit mehreren Scheinfüßchen versehen).[A. 1]
Das Vorpreschen an der Spitze und das Nachziehen auf der hinteren Seite geschehen abwechselnd, wodurch die genannten Pseudopodienzyklen entstehen. Dabei wird das Zurückziehen des hinteren Endes nie unterbrochen und ist viel gleichmäßiger als das Fortschreiten an der Vorderseite.
Die Fronten reagieren negativ auf die Stimulation durch Licht (Kontraktion) und positiv auf den entspannenden Einfluss des Schattens.[10][11]
Derzeit (Stand Mai 2023) gibt es noch keine einheitliche Auffassung über die innere Systematik der Gattung Saccamoeba, d. h. darüber, welche Arten und Stämme Mitglieder der Gattung sind.
Typusart ist Saccamoeba limax mit Referenzstamm NTSHR,[14] nachdem sich die enge Verwandtschaft des früheren Referenszstamms ATCC:30942[15][16] mit der nicht-klassifizierten Harmanellidae-Spezies Hartmannellidae sp. LOS7N/I (Stamm LOS7N)[17] gezeigt hatte.[18]
Der nachfolgenden Artenliste umfasst eine Auswahl von Spezies, die als Mitglieder der Gattung diskutiert wurden. Quellen sind:
Wie bei OneZoom zu sehen, sind die dort geführten fünf Saccamoeba-Arten an ganz verschiedenen Stellen im Stammbaum der Amoebozoa angesiedelt. d. h. die Saccamoeba sind – in diesem Umfang – polyphyletisch.[A. 2] Selbst die beiden in der NCBI-Taxonomie geführten Spezies mit offiziellem Namen, S. lacustris und S. limax liegen nur nahe beieinander, in der gemeinsamen Klade gibt es aber noch andere, nicht als Saccamoeba identifizierte Vertreter:[A. 3]
Candidatus Metachlamydia lacustris (alias Parachlamydiaceae bacterium CHSL).[20] Daniele Corsaro, Gilbert Greub et al. (2010)[19] gehört das Bakterium zur Variovorax-paradoxus-Gruppe.[21]
Endosymbiont of Saccamoeba sp. SC007 (Saccamoeba-Endosymbionten-Spezies SC007)[22]
Wenn solche Bakterien nicht nur die Amöben, sondern auch menschliche Zellen befallen können, dann können diese auf den Menschen überspringen, wenn dieser mit infizierten Amöben in Berührung kommt; ein Phänomen, wie es bei Acanthamoeba und Vermamoeba beispielsweise mit Legionellen beobachtet wird.
Viren
In den 2010er Jahren entdeckte das Team um Bärbel Hauröder und Rolf Michel, dass Saccamoeba-Arten von Riesenviren aus der Verwandtschaft der Gattung Mimivirus parasitiert werden.[6][23] Nach Acanthamoeba und Vermamoeba ist dies die dritte Amöbengattung, die von Viren der Familie Mimiviridae befallen wird.
Die Viren wurden aus einem natürlich vorkommenden Stamm von S. lacustris isoliert, der seinerseits vorher von der Rinde eines Platane (Platanus occidentalis) isoliert wurde.
Für die Virenart hat man daher die Bezeichnung „Platanovirus saccamoebae“ vorgeschlagen, die identifizierten Viren sind KSL-5 und (mit etwas weniger Sicherheit) KSL-5x. Eine Bestätigung durch das International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) steht derzeit noch aus (Stand 17. Mai 2023).[7][8][9][24]
„Platanovirus saccamoebae virophage“ (alias „Comedo Virophage“ bzw. „Comedo virus“), ist ein (ebenfalls noch unbestätigter) Virophage, der KSL-5 parasitiert.[25][26]
Giselle Walker, Richard G. Dorell, Alexander Schlacht, Joel B. Dacks: Eukaryotic systematics: a user's guide for cell biologists and parasitologists. In: Cambridge University Press: Parasitology, Band 138, Special Issue 13: Systematics as a cornerstone of parasitology, 15. Februar 2011. Siehe Fig. 3 f) Saccamoeba sp.
↑Das dürfte erst recht für die bei Smirnov et al. (2004) gelisteten sieben Saccamoeba-Arten gelten.
↑Die in der NCBI-Taxonomie offiziell geführten Spezies sind hervorgehoben (darunter neben der Typusspezies S. limax die für die Virologie bedeutsame Spezies S. lacustris).
↑ abcdeWoRMS: Saccamoeba Frenzel, 1897. Environment: marine. Anm.: Bitte Schieber 'marine only' und ggf. 'extant only' aus 'off' setzen.
↑ abcd
Johannes Frenzel (1858–1897): Untersuchungen über die mikroskopische Faune Argentiniens. I. Theil: Die Protozoen: IV. Abtheilung. In: Bibliotheca Zoologica, Band 4, Nr. 12 (1). Stuttgart, Verlag Erwin Nägele, 1897; doi:10.5962/bhl.title.12189, Biodiversity Library 12189, Epub 19. März 2009. Zitate:
S. 2: … Saccamoeba punctata nov. gen. nov. spec. Allbild. Taf. III. Fig. 5 und 6. …
S. 4: … Saccamoeba verrucosa (Ehrbg.) [Amoeba verrucosa]
S. 7: … Saccamoeba lucens n. sp.
S. 8o: … Saccamoeba magna nov. spec.
S. 8u: … Saccamoeba villosa Wallich [Amoeba villosa]
S. 11: … Saccamoeba cirrifera n. sp. (?)
S. 13: … Saccamoeba cubica nov. spec.
S. 14: … Saccamoeba morula n. spec.
S. 16: … Saccamoeba renacuajo nov. spec.
Dazu kommen einige Saccamoeba spp. ohne ausgewiesenes Artepitheton.
Anm.: Das Erscheinungsjahr 1897 ist offenbar mancherorts als 1892 verlesen.
↑ ab
Alexey V. Smirnov, Susan Brown: Guide to the methods of study and identification of soil gymnamoebae. In: Protistology, Band 3, Nr. 3, Januar 2004, S. 148–190; ResearchGate, SemanticScholar, DocsLib.
↑ abOneZoom: Es gibt im phylogenetischen Baum keinen Knoten für die Gattung Saccamoeba. Die unter dem Gattungsnamen Saccamoeba zu findenden Spezies sind hier an ganz verschiedenen Stellen zu finden (d. h. die Gattung ist polyphyletisch):
↑ abc
Rolf Michel, Bärbel Hauröder: Saccamoeba sp. harbouring both Mimivirus-like polyhedral virions and cuboidal intravacuolar bacteria. In: Journal of Endocytobiosis and Cell Research, 2015, S. 63–66; ResearchGate, Uni Jena, PDF.
↑ abcd
Bärbel Hauröder, Liane Junglas, Silke Loch, Rolf Michel, Karl-Dieter Müller, Claudia Wylezich: Experimental co-infection of Saccamoeba lacustris with Mimivirus-like Giant virus and a small Satellite virus. In: Endocytobiosis and Cell Research, Band 29, 15. Mai 2018; OpenAgrar, ResearchGate, Uni Jena.
↑ abcd
Bärbel Hauröder, Claudia Wylezich, Liane Junglas, Silke Loch, Jenny Eisenkolb, Rolf Michel: New Giant Virus in Free-Living Amoeba. In: Wiley Analytical Science: Imaging & Microscopy / Mikroskopie — Ionen- und Elektronenmikroskopie, 20. Juli 2018; Wiley,
imaging-git.
↑ ab
Khalil Geballa-Koukoulas, Bernard La Scola, Guillaume Blanc, Julien Andreani: Diversity of Giant Viruses Infecting Vermamoeba vermiformis. In: Frontiers in Microbiology, Band 13, 22. April 2022, S. 808499; doi:10.3389/fmicb.2022.808499, PMID 35602053, PMC 9116030 (freier Volltext), PDF.
↑
Andrzej Grebecki: Locomotion of Saccamoeba limax. In: Archiv für Protistenkunde, Band 134, Nr. 4, 1987, S. 347–365; doi:10.1016/S0003-9365(87)80008-8.
↑
Andrzej Grebecki: Bidirectional Transport of Extracellular Material by the Cell Surface of Locomoting Saccamoeba limax. In: Archiv für Protistenkunde, Band 136, Nr. 2, 1988, S. 139–151; doi:10.1016/S0003-9365(88)80002-2.
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