Røde MorRøde Mor (deutsch Rote Mutter) war ein dänisches Künstlerkollektiv mit erklärtem sozialistischen Standpunkt. Es wurde im Jahr 1968 gegründet und bestand aus einer Musikgruppe und einer Grafikgruppe, die auf ihrem jeweiligen Kunstgebiet kollektiv arbeiteten. 1978 löste sich das Kollektiv auf. – Røde Mors Ziel war, politische, proletarische Kunst zu schaffen. Das Kollektiv produzierte in den zehn Jahren, in denen es existierte, hunderte von Plakaten und Illustrationen, dazu Bücher, Flugblätter und Ausstellungen mitsamt einer Reihe von Schallplatten und Rockzirkusvorstellungen und veranstaltete Ausstellungen mit seinen grafischen Werken. 2002 startete die Musikgruppe ein Comeback mit Konzerten und neuen Schallplatten. Manifest und KonzeptIm Frühjahr 1969 präsentierte sich das neu gegründete Künstlerkollektiv mit einem „Manifest“ in Gedichtform. Übersetzt aus dem Dänischen lautet es folgendermaßen: Røde Mor ist die Mutter der Revolutionen Die erste Prosa-Fassung ihres Manifests veröffentlichte Røde Mor 1970. Der Text wurde mehrmals geändert. In jedem Jahr gab die Gruppe einen Katalog heraus, in dem über die Arbeit – auch mit Beispielen – berichtet wurde und in dem Zeugnis davon abgelegt wurde, wo die Gruppe stehe mit ihrer politischen Kunst – und mit der eigenen Entwicklung. Das folgende Manifest stammt aus dem Katalog von 1972:
– Røde Mor: Katalog Nr 2, 1971 (dänisch) Schon im ersten Katalog vom Juni 1970 nannte die Gruppe zwei Künstler aus den 1920er und 1930er Jahren als ihre Vorbilder und ihre tägliche Inspiration: den russischen Futuristen und Theatermacher Wladimir Majakowski und den belgischen Clartéisten[A 1] und Maler Frans Masereel. Ihre politische Arbeitsgrundlage beschrieb die Gruppe so:
– Røde Mor: Katalog Nr. 1, 1970 (dänisch) Im Herbst 1970 startete Røde Mor Agit-Prop. Die Erklärung dieses Konzepts findet sich auch im Katalog Nr. 1: AGITPROP bedeutete danach AGITation und PROPaganda und war Vorgabe für die sowjetischen Künstlerkollektive während der Oktoberrevolution gewesen und Vorbild für Røde Mor. – Sämtliche Mitwirkende von Røde Mor arbeiteten im AgitProp mit. Einige spielten, sangen und lasen vor, andere schauspielerten und tanzten, während wieder andere Lichtbilder zeigten. Røde Mor benutzte eine Mischung aus Musik und Lichtbildern, um ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen, das den politischen Inhalt unterstreichen sollte.[2]
– Jens Jørn Gjedsted: Rock in Dänemark.[3] Gründungsmitglieder waren neben dem Musiker, Grafiker und Keramikkünstler Troels Trier (* 1940) und seiner zweiten Ehefrau, der Künstlerin und Autorin Dea Trier Mørch (1941–2001), drei weitere Künstler: der Maler Ole Finding (* 1937), der Bildhauer, Grafiker, Maler und Schlagzeuger John Ravn (* 1943,) sowie die Grafik-Künstlerin Yukari Ochiai (* 1938). Troels Trier war der Kopf des Kollektivs insgesamt und zugleich der späteren Musikgruppe. Eine formelle personale Hierarchie hatte das Kollektiv aber nicht. Dea Trier Mørch führte den Teil des Kollektivs an, der sich mit Grafik beschäftigte und trug selbst viele eigene Arbeiten zu deren Erfolg bei. Ab 1972 wurde Røde Mors Organisationsform im Lauf der folgenden Jahre zu zwei professionellen Gruppen fortentwickelt: eine Grafikgruppe und eine Musikgruppe (Rockband). Beide waren organisatorisch und personell durch eine Basisgruppe verbunden. Diese Basisgruppe war das Führungsorgan des Kollektivs, in dem die prinzipiellen Diskussionen geführt, Beschlüsse gefasst und die jährlichen Kataloge entwickelt wurden, die über die Arbeit des gesamten Künstlerkollektivs Rechenschaft ablegten. Außer den oben genannten sind folgende Personen für kürzere oder längere Zeit Mitglieder im Künstlerkollektiv Røde Mor gewesen (in alphabetischer Reihenfolge):
MusikgruppeDie Musikgruppe des Kollektivs existierte von 1969 bis 1978 und wurde 2002 wieder aktiv. Treibende inhaltliche Kraft war am Beginn der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen die NATO, gegen die EWG, gegen die Atomwaffen und gegen Kernkraftwerke. Ihre Musik war Rock'n Roll. Ihre Spezialität waren Protestlieder. Die Gruppe war anfänglich ein Trio, bestehend aus Troels Trier, Gesang, Lars Trier, Gitarre und Ole Thilo, Klavier. Sie trat zuerst nur bei den Vernissagen der Bildkünstler des Kollektivs auf und veröffentlichte bereits 1970 ein Liederbuch mit ihren Texten sowie am Ende des Jahres die erste Schallplatte, eine EP mit dem Titel Johnny gennem ild og vand (Johnny zwischen Feuer und Wasser). Im Jahr 1971 vergrößerte sich die Gruppe zu einem Septett, erweitert um Finn Sørensen, Bass, Michael Boesen, Gitarre, Jens Asbjørn Olesen, Harmonika und Klavier und Peter Vangkilde, Schlagzeug. Bereits im selben Jahr veröffentlichte sie unter dem neuen Namen Røde Mor Rok Ork ihre erste LP Rok Ork. 1972 kam es zu Intrigen im Künstlerkollektiv, die in Abgängen und Neuaufnahmen endeten. Die Musikgruppe verkleinerte sich auf fünf Personen: Jens Asbjørn Olesen, Klavier, Poul Poulsen, Bass und Gesang, Lars Trier, Gitarre und Banjo, und Troels Trier, Gitarre, Violine, Mundharmonika und Gesang. In dieser Besetzung entstanden die LPs Ta hva' der er dit (Nimm dir, was deins ist; 1972) und Grillbaren (Die Grillbar; 1973). 1974 änderte sich die musikalische Besetzung der Gruppe erneut: Neben Troels und Lars Trier spielten jetzt Peter Ingemann, Bass und Texte und Henrik Strube, Gitarre. Durch die Zusammenarbeit mit dem Künstlerduo Leif Sylvester Petersen und Erik Clausen, die Clausen & Petersens Straßenzirkus erfolgreich auf die Straße gebracht hatten, resultierte eine neue Richtung für Røde Mors musikalische Abteilung. Das Ergebnis war 1974 die Gründung und Marktplatzierung von Røde Mor Rock-Cirkus mit verstärkt politischen Texten, grotesken und clowneresken Figuren und Szenarien auf der Bühne und erhoffter stärkerer musikalischer Durchschlagskraft. Das bedeutete, ökonomisch gesehen, dass das Kollektiv zwar auch einen größeren wirtschaftlichen Erfolg anstrebte, aber dabei, kalkuliert oder nicht, in Kauf nahm, sich dadurch ein Stück weit von seinen sozialistischen Idealen abzusetzen.
– Røde Mor: Katalog Nr. 6, 1975 (dänisch)
– Jens Jørn Gjedsted: Rock in Dänemark, S. 100 1974 wurde Røde Mors illustreret sangbog 2 (Røde Mors illustriertes Liederbuch 2) veröffentlicht und es entstanden die LPs Linie 3 (1975), Betonhjertet (Betonherz, 1975), Hjemlig hygge (Heimatliche Gemütlichkeit, 1976) und Sylvesters drøm (Sylvesters Traum, 1978). Ihre bekannteste Veröffentlichung ist Hjemlig hygge, eine Platte mit Musikstücken, in denen Røde Mor mit Ironie und grotesker Verzerrung und Troels Trier mit rauher Stimme der saturierten dänischen Gesellschaft ihre ihr lieb gewordenen spießbürgerlichen Gewohnheiten und ihre Sucht nach heimeligem Glück den Spiegel vorhält. 1974 trat Røde Mor auch auf dem Roskilde-Festival auf. 1978 löste sich die Gruppe auf. Im Jahr 2002 trafen sich Troels Trier, Peter Ingemann, Henrik Strube und Lars Trier und starteten eine Jubiläumstournee unter dem Namen RØDE MORs Rollende Rollator Show.[4] 2006 wurde die EP Røde Mor aufgenommen und veröffentlicht. Im selben Jahr unternahm die Gruppe eine Reihe von Abschiedskonzerten. 2007 wurde Røde Mor der Ehrenpreis der International Federation of the Phonographic Industry beim Dänischen Musik Award verliehen. Im selben Jahr spielte die Band auch auf dem Skanderborg Festival. Røde Mor gibt weiterhin Konzerte.
GrafikgruppeDas Manifest war Røde Mors gemeinsame ideologische Plattform im Licht der gesammelten Erfahrungen. Im Jahr 1971 wurde es mit einem belehrenden Arbeitsprogramm über Røde Mors Bildarbeiten, das die Mitglieder noch zusätzlich motivieren sollte, ausgebaut.
– Røde Mor: Katalog Nr. 2, 1971 (dänisch) Die Gruppe arbeitete mit Linolschnitten, weil Linoleum nicht nur ein weiches und leicht zu schneidendes, sondern auch ein billiges Material ist, das leicht zum Drucken verwendet werden kann. Es bot dem Kollektiv den Vorteil, Vorlagen im Vorbereitungsprozess zu Hause relativ einfach zu erstellen. Außerdem kann ein Linolschnitt auch leicht im Buchdruck benutzt werden. Seine Erstellungskosten sind gering, entsprechend preiswert konnten Drucke von Linolschnitten vom gewünschten Arbeiterpublikum erstanden werden. Da Linolschnitte meist grob strukturiert sind, eigneten sie sich damit nach Auffassung des Kollektivs gut für agitatorische Zwecke. Hergestellt wurden vornehmlich Plakate zu allen möglichen politischen Themen aus der Welt der Arbeiterklasse. In den Vordergrund gerückt wurden dabei Probleme, die die Arbeit und das Leben dieser Menschen beeinträchtigten und gesellschaftlich verbessert werden müssten. Es wurden aber auch Illustrationen für Bücher und Buchumschläge als Linolschnitte hergestellt, beispielsweise für die Bücher von Dea Trier Mørch. Kollektives Arbeiten bedeutete für die Gruppenmitglieder lange Diskussionen über das Motiv oder die Motive für ein Plakat oder eine Buch-Illustration. Darauf folgte eine Phase des individuellen Arbeitens an Vorschlägen, die in Form von einzelnen Linolschnitten zusammengetragen wurden. In einem weiteren Diskussionsprozess wurden die einzelnen Schnitte zu einem Bild zusammengefügt, das inhaltlich und grafisch eine Einheit ergeben sollte. Dieser Prozess war sehr zeitaufwändig, wurde aber auch als inspirierend und lehrreich empfunden. Wenn die Gruppenmitglieder über ein kollektives Werk einig geworden waren, wurden die Linoleum-Platten entweder in die Buchdruckerei geschickt oder die einzelnen Abdrucke auf Papier geklebt, gegebenenfalls retuschiert und abfotografiert, um mit anderen Techniken, z. B. im Offset-Druck gedruckt zu werden.
– Røde Mor: Katalog Nr. 2, 1971 (dänisch)
1972 zählte der Katalog Nr. 3 einige der Schwierigkeiten auf, das Manifest zu befolgen. Eines der großen Probleme war, mit der Arbeiterklasse in Kontakt zu kommen. Røde Mor steckte im traditionellen Gegensatz zwischen Arbeitern und Intellektuellen und erkannte, dass die einseitige politische Schulung in der Gruppe dazu geeignet sei, Sektierertum zu fördern. Gleichzeitig wollte sich das Kollektiv frei machen von der „elitären Kultur und der bürgerlichen Kunst“.[5] Das konnte aber nicht gelingen, da die Ausstellungen mit den Werken der Gruppe von Kunstgalerien veranstaltet wurden und den Regeln des herrschenden Kunstbetriebs unterlagen. Damit war das Ziel, ein proletarisches Publikum zu erreichen, weit in die Ferne gerückt. Dem versuchte das Kollektiv mit einer Fokussierung auf eine sowohl künstlerische als auch politische Lösung zu begegnen.
– Røde Mor: Katalog Nr. 3, 1972 (dänisch) Über die Grafikgruppe heißt es im Katalog von 1975, das Kollektiv verfolge nun die Zusammenarbeit mit Leuten aus beruflichen und politischen Organisationen, die auf der linken Seite des politischen Spektrums agierten. Damit sollte eine größere Nähe zur arbeitenden Bevölkerung hergestellt werden. Diese Zusammenarbeit habe das Kollektiv viel darüber gelehrt, was gewöhnliche Menschen von der Kunst verlangen und was keine Kunstakademie erreichen könne. Die Arbeitsweise vor allem an Plakaten wurde umgestellt zugunsten eines einzigen, gemeinsam bewerkstelligten Handlungsablaufs – wie bei der Erarbeitung einer Zeichenserie. Røde Mors letzter Katalog von 1976/77 enthält auch das Programm für die Rockzirkusvorstellungen mit dem Titel „Hjemlig Hygge“, die im Haus der Bauarbeiter in Kopenhagen stattfinden sollten und für die die Grafikgruppe eine Reihe von großformatigen Linolschnitten als Vorlage für 21 Großplakate erarbeitete. Mit ihnen sollten die verschiedenen Fachgruppen in diesem Haus gewürdigt und die „Parolen der Arbeiterklasse und deren Ideologie“[6] herausgestellt werden. Im selben Jahr gab die Grafikgruppe noch einen Bildroman heraus, ein Buch mit drei Bildererzählungen ohne Worte über Vietnam, Chile und Dänemark. Abschließend wurde erklärt:
– Røde Mor: Katalog Nr. 7, 1976 (dänisch) Zu der angekündigten Fortsetzung der künstlerischen Arbeit des Grafik-Kollektivs kam es nicht mehr. Røde Mors grafische Arbeiten werden weiterhin in Ausstellungen gezeigt, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Dänischen Plakatmuseum in Århus. Auflösung1978 beschloss Røde Mor, die künstlerische Produktion einzustellen und stattdessen eine Stiftung zu errichten, in deren Fonds die Einkünfte vom Verkauf von Platten und Plakaten fließen sollten. Der Fonds sollte politische Kunst der Linken in Dänemark unterstützen. Dem Røde-Mor-Stiftungsrat gehören oder gehörten seither folgende Mitglieder der Røde-Mor-Grafikgruppe beziehungsweise des Røde-Mor-Rockcirkus an: Erik Clausen, Peter Ingemann, Thomas Kruse, Peter Mogensen, Andreas Trier Mørch, Dea Trier Mørch, Yukari Ochiai, Leif Sylvester Petersen, Henrik Strube und Troels Trier. Im Jahr 1979 verteilte der Fonds der Røde-Mor-Stiftung am Muttertag – dem ersten Sonntag im Mai – erstmals Preise an eine Reihe von Künstlern, Gruppen und Einzelpersonen, die der politischen Linken im dänischen Sprachraum zuzurechnen sind.[A 5] Für die Auflösung der Gruppe waren persönliche, künstlerische und politische Gründe entscheidend. Auf der persönlichen Ebene hatten sich einige Mitglieder in den intensiven Arbeitsverläufen aufgerieben, die Gruppendynamik war gestört und die Produktivität hatte gelitten. Es gab einen starken Druck, sich auch individuell künstlerisch auszudrücken, um von den Gruppenmitgliedern anerkannt zu werden. Auf der künstlerischen Ebene erlebte die Gruppe eine Abnutzung der politischen Metaphern und Klischees, mit denen sie gearbeitet hatte. Jede künstlerische Ausdrucksform, die individuell oder kollektiv eingebracht wurde, musste permanent in den Diskussionen durch die kollektiven politischen Filter der Gruppe gepresst werden. Das erlebten die Mitglieder nach zehn Jahren als Belastung (dänisch som snærende), sowohl zeitlich in der Arbeit mit dem Kollektiv, als auch persönlich in ihrer Kreativität. Auf der politischen Ebene sahen immer mehr Mitglieder Risse im Lack der sozialistischen Ideologie und die dadurch wachsende Kritik an den sozialistischen Ländern. Røde Mor hatte in der Zeit des Studentenaufruhrs begonnen – und zeitgleich während einer Phase der Hochkonjunktur. 1978 waren die Arbeitslosigkeit und die Gesellschaftskrise auch in den Köpfen des Volkes angekommen. Die Parteien des linken Lagers formulierten hingegen keine klare und durchsetzungsfähige Alternative zur Krise. Und gleichzeitig hatte sich die politische Szenerie geändert. Politik war nicht länger parteigebunden und in Christiansborg, [dem Regierungssitz], regte sich nichts. In der „Bewegung“ war Alltag. Die Kinder waren erwachsen. Was man im Supermarkt kaufte, der Abfall, den man produzierte und auch die Zweierbeziehung: alles war politisch geworden. Die Folge war Orientierungslosigkeit. Und in dieser gesellschaftlichen Szenerie wollten die Mitglieder von Røde Mor sowohl als individuelle politische Künstler, als auch als Kollektiv auftreten – wie sollten sie das in den vor ihnen liegenden Jahren schaffen? Mit dieser offenen Frage endete der letzte Katalog und bald darauf die Arbeit auch der Grafik-Gruppe. Diskografie
Veröffentlichungen
Anmerkungen
Einzelnachweise
Literatur
WeblinksCommons: Røde Mor – Sammlung von Bildern
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