Quock Walker
Der Fall Quock Walker ging ein in die US-amerikanische Geschichte als Impuls für mehrere prägende Rechtsentwicklungen und trug sich zu vor Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten. Er gilt als Beginn der tatsächlichen Umsetzung des Rechtsstaatsprinzips und die erste Bewährungsprobe für die junge Verfassung von Massachusetts. Quock Walker wurde 1753 in Worcester County, Province of Massachusetts Bay als Sklavenkind auf dem Gut der bekannten Familie Caldwell geboren und wuchs dort auf. Sein Herr versprach ihm die Freiheit mit Vollendung des 25. Lebensjahres, verstarb jedoch später. Dessen Witwe erneuerte dieses Versprechen für die Vollendung des 21. Lebensjahres, heiratete jedoch einen gewissen Nathaniel Jennison. Dieser betrachtete Walker fortan als seinen Sklaven. Als Walker 21 Jahre alt wurde, forderte er erfolglos seine Entlassung in Freiheit und floh darauf. Unterschlupf fand er auf dem Gut der Brüder seiner früheren Besitzerin, der Caldwells. Jennison und seine Männer ergriffen Walker jedoch, verschleppten ihn zurück und nachdem sie ihn auspeitschten und ihn schwer misshandelten, wurde er wieder versklavt. Dies führte zu mehreren Gerichtsverfahren, in denen sich die Beteiligten wechselseitig verklagten. HintergründeEs war die Zeit der Amerikanischen Revolution und der Lösung von Großbritannien. 13 englische Kolonien hatten sich in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 separiert. Nach ersten Einschränkungen des Sklavenhandels durch Connecticut und Rhode Island 1774 und einem Totalverbot der Sklaverei in Vermont 1777 mittels Verfassungsänderung gab sich auch Massachusetts eine Verfassung[2], die mit einem Grundrechtskatalog begann:
– Verfassung von Massachusetts von 1780 Es stellte sich mithin die Frage, wie wirksam diese Rechte sein würden. Prozesse vor ZivilgerichtenIn Sklavereifällen hatten in den Jahren zuvor die Gerichte in Neuengland meist zu Gunsten von Sklaven entscheiden, wenn einem Sklaven die Entlassung in Freiheit nachweislich vertraglich zugesichert war. Im Walker-Fall stellte sich die Frage, wie zu verfahren sei, wenn der Entlassungsverpflichtete stirbt und der Sklave in das Vermögen eines Dritten übergeht. Hinsichtlich der Witwe Caldwell, nunmehr Jennison, mochte die erbrechtliche Universalsukzession greifen und die Rechtsverhältnisse unverändert belassen. Jedoch warf der Effekt des ehelichen Güterstandes eine eigenständige Rechtsfrage auf. Walker klagte 1781 auf Feststellung seiner Eigenschaft als freier Bürger und auf Schadenersatz von £300 für erlittene Körperschäden. Das Zivilgericht (Court of Common Pleas) gab dem statt und sprach ihm nur £50 zu. Jennison verklagte die Caldwells wegen Einmischung in Eigentumsrechte und eigennütziger Anstiftung. Auch ihm gab die Jury des Zivilgerichts recht und sprach ihm £25 zu. Gegen diese separaten, jedoch sich widersprechenden Entscheidungen ergriffen die unterlegenen Parteien den Rechtsbehelf der Appellation. Entscheidung des Obersten Gerichts von Massachusetts1783 erreichten die zwei Appellationsverfahren das Oberste Gericht (Supreme Judicial Court of Massachusetts). Zudem erhob der Generalstaatsanwalt Anklage gegen Jennison wegen Misshandlung und Körperverletzung. Auch hatte ein anderer prominenter Fall das Gericht erreicht: die Appellation in der Sache Brom und Bett gegen Ashley von 1781.[3] In diesem hatte ein Gericht in erster Instanz zwei andere Sklaven wegen Verfassungsverstoßes für frei erklärt. Das Gericht war in den Zivilverfahren besetzt mit dem Obersten Richter und einer Jury. In der Sache von Quock Walker gelangte es zum gleichen Urteil und bestätigte seine Freiheit. Es erließ auch ein Säumnisurteil gegen Jennison. In seinen Instruktionen an die Jury führte es aus:
– William Cushing[4] In der Strafsache war das Gericht mit 4 Berufsrichtern besetzt und verurteilte Jennison zu einer Strafe von 40 Shilling nebst Verfahrenskosten. Die Appellation in der Sache Brom und Bett gegen Ashley wurde angesichts dieser Entscheidung zurückgenommen, womit auch diese zwei Sklaven endgültig frei waren. Wirkung und BedeutungBedeutsam ist dieser Fall in vielerlei Hinsicht. Sein historischer Kontext zeigt, dass hier etwas zur praktischen Anwendung gebracht wurde, was man zuvor nicht tat, worüber allenfalls Gelehrte sprachen und sich in den Schriften europäischer Aufklärungsphilosophen wie Locke oder Montesquieu fand: Zum einen handelt es sich hierbei um die ersten Sklaven in Nordamerika, die auf Grund eines Gesetzes und durch Hoheitsakt befreit wurden. Zweitens zeigt die Entscheidung in struktureller Hinsicht die Tragweite einer konsequenten Umsetzung des Rule of Law, einer Idee, die im Rechtsstaat ihr späteres europäisches Gegenstück finden sollte. Massachusetts definierte sich demonstrativ als eine Staatsform, in der Gesetze regieren und nicht einzelne Personen. Die Handschrift von John Adams ist unverkennbar:
– Constitution of the Commonwealth of Massachusetts In einem gewohnheitsrechtlich geprägten Rechtssystem – als Mischung aus ungeschriebenen Traditionen, kodifizierten Statuten und ihrer Weiterentwicklung mittels Rechtspraxis und Amendments – verwarf das Oberste Gericht von Massachusetts eine althergebrachte Praxis nicht bloß auf der Grundlage einer zeitlichen Normkollisionsregel, was zu erwarten gewesen wäre und wonach neues Recht das alte verdrängt.[5] Es sah nicht nur eine Änderung, ein Amendment des alten Statuts, die wechselseitig mit der Tradition zu interpretieren gewesen wäre. Es erkannte einen Vorrang der Verfassung und damit eine qualitative Normhierarchie. Der tragende Gedanke war, dass Sklaverei einen Verfassungsverstoß darstellte. Das Gericht sah auch die Verfassung nicht als politisches Programm, sondern als unmittelbar geltendes und einklagbares Recht, das nicht erst durch einen legislativen Akt und weitere Vorschriften zur Geltung und Anwendung gebracht werden braucht.[6] Damit verpflichtet die Verfassung den einfachen Rechtsanwender zur Gesetzmäßigkeit wie es das kleine Gericht auf dem Lande ist, das Court of Common Pleas. Es etablierte damit das Prinzip der gerichtlichen Überprüfung von Rechtsnormen, das so genannte Judicial Review. In letzter Konsequenz bedeutet das Gesetzmäßigkeitsprinzip auch ein Gebot zur Verwerfung präkonstitutionellen (Gewohnheit-)Rechts im Falle eines Widerspruchs zur Verfassung.[7] Hierzu bedarf es nicht eines Zuwartens auf eine legislative Korrektur, das Gericht sah vielmehr einen eigenen Auftrag begründet durch die Gewaltentrennung. Immerhin hatte der beklagte Sklavenhalter Jennison sich drauf berufen, die neue Verfassung oder die Staatsgesetze hätten nie die Sklaverei abgeschafft oder verboten. Mit der Invollzugsetzung von Verfassungsnormen durch exekutive oder rechtsprechende Organe begann auch die Abkehr von der Parlamentsprärogative (Supremacy of Parliament). Auch in der später entworfenen Verfassung der Vereinigten Staaten und in der europäischen Staatsorganisationsentwicklung lassen sich diese Ideen wieder finden:
Sowohl in personeller als auch in inhaltlicher Hinsicht wurde der Geist dieser Entscheidung in die Verfassungspraxis des späteren Bundes getragen. Der vorsitzende Richter Cushing diente lange im Obersten Gericht der Vereinigten Staaten, das aus dem Rule of Law die Verfassungsgerichtsbarkeit ableitete – auch gegen Parlamentsakte. Selbst ohne eine Erwähnung in der Bundesverfassung wurde spätestens 1803 mit der Entscheidung Marbury gegen Madison[8] das Judicial Review erweitert auf die Kompetenz zur materiellen Normenkontrolle von Gesetzen, als man die bekannte Formel hörte:
Die Verfassung von Massachusetts hat die Impulse des Quock-Walker-Falls nur konserviert. Sie ist bis heute die älteste geschriebene Verfassung, die in Kraft ist. Sie wurde nicht verändert, um die Sklaverei zu verbieten, denn dessen bedurfte es nicht. Siehe auchLiteratur
WeblinksEinzelnachweise
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