Alle zehn Steine liegen auf dem Bürgersteig vor dem Haus Mitteltor 3 (⊙49.563318.247496); dort, links neben dem Alten Rathaus, wohnte die Mehrzahl der neun jüdischen Opfer. Direkt neben ihren Steinen wurde derjenige für den Briten Cyril William Sibley eingesetzt; er konnte nicht an der mutmaßlichen Stelle des Mordes (⊙49.5672098.247988) verlegt werden, weil diese in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Ausfallstraße nach Offstein (Landesstraße 455) überbaut wurde.
1933, zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus, lebten in Dirmstein 15 jüdische Bürger und ein sogenannter „jüdischer Mischling zweiten Grades“.[1] Elf von ihnen gehörten zur Großfamilie Hirsch, deren Oberhaupt Salomon Hirsch zusammen mit Adolf Liebmann auch Gemeindevorsteher war.[2]
Obwohl Karoline Hirsch 1934 in die Niederlande emigriert war, fiel sie 1942 dem Holocaust zum Opfer.[3] Familie Liebmann mit ihrer neunjährigen Tochter gelang 1937 die Flucht nach Argentinien.[4] Frieda Hirsch emigrierte im gleichen Jahr ebenfalls dorthin, konnte aber ihren neunjährigen Sohn David nicht nachholen, den sie bei den Großeltern zurückgelassen hatte.[4]
Die 1940 noch in Dirmstein verbliebenen acht Juden, die sämtlich den Nachnamen Hirsch trugen, wurden bei der Wagner-Bürckel-Aktion ins Lager Gurs deportiert. Dort, in Südfrankreich, konnten 1941 unabhängig voneinander David Hirsch, inzwischen 13 Jahre alt, sowie die weitläufig mit ihm verwandten Elisabeth Klara Hirsch und deren Tochter Ella fliehen. Die beiden Frauen emigrierten in die USA, wohin schon Ellas älterer Bruder Julius – wahrscheinlich 1938 – ausgereist war.[5] David Hirsch folgte 1947 seiner Mutter von der Schweiz aus nach Argentinien.[6] Die restlichen fünf Verschleppten fielen dem Holocaust zum Opfer; zwei starben bereits in Gurs, die drei Überlebenden wurden zwei Jahre später ins KZ Auschwitz transportiert und kamen unmittelbar nach der Ankunft in die Gaskammer.[1]
Am 21. Februar 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, überlebte Cyril William Sibley, Sergeant der britischen Royal Air Force, als Besatzungsmitglied den Abschuss seines Flugzeugs über Dirmstein, wurde jedoch anschließend Opfer eines sogenannten Fliegermordes durch Adolf Wolfert, den Dirmsteiner Ortsgruppenleiter der NSDAP, und dessen Mittäter Georg Hartleb.
Gedenken
Mit einer Reihe von Veranstaltungen gedachte Dirmstein in der zweiten Märzhälfte 2009 der Opfer des Naziregimes.[7] Den zentralen historisch-literarischen Gedenkabend anlässlich der Stolpersteinverlegung am 27. März 2009 gestalteten die Dirmsteiner Autoren Jürgen Bich, Albert H. Keil, der zudem für die Moderation verantwortlich war, Walter Landin sowie Otfried K. Linde.[8] Ehrengast der Gemeinde war David Hirsch (1928–2019) als einziger damals noch Lebender von den deportierten Juden Dirmsteins, der aus Argentinien angereist war.[6] Zwei Tage vor der Feier hatte er sich in Dirmstein mit Paul Niedermann, seinem fast gleichaltrigen Fluchtgefährten von 1941, getroffen.[9]
Hier wohnte Dina Hirsch geb. Strauss Jg. 1872 deportiert 1940 Gurs tot im Lager 27.10.1941
27. März 2009
geboren am 14. April 1872 in Dirmstein[13] Ehefrau von Salomon Hirsch
Sarah Strauss
Hier wohnte Sarah Strauss Jg. 1874 deportiert 1940 Gurs tot im Lager 16.11.1940
27. März 2009
geboren am 21. Juli 1874 in Dirmstein[14] Schwester von Dina Hirsch Hinweis: Abweichung zwischen Steininschrift und Bundesarchiv bei Vorname (Sarah/Sara) und Geburtsjahr (1874/1875)
Irma Hirsch
Hier wohnte Irma Hirsch Jg. 1905 deportiert 1940 Gurs ermordet 1942 in Auschwitz
27. März 2009
geboren am 24. August 1905 in Dirmstein[15] Tochter von Salomon und Dina Hirsch
Lilli Hirsch
Hier wohnte Lilli Hirsch Jg. 1909 deportiert 1940 Gurs ermordet 1942 in Auschwitz
27. März 2009
geboren am 16. Mai 1909 in Dirmstein[16] Tochter von Salomon und Dina Hirsch
David Hirsch
Hier wohnte David Hirsch Jg. 1928 deportiert 1940 Gurs Flucht 1941 überlebt in Schweiz
geboren am 15. Mai 1928 in Mainz[18] Sohn von Frieda Hirsch, Enkel von Salomon und Dina Hirsch 1947 Auswanderung aus der Schweiz nach Buenos Aires, Argentinien[19] 2005 und 2009 Besuche in Dirmstein[20][6] verstorben 2019 in Buenos Aires
geboren am 15. August 1892 in Dirmstein[3][21] Verwandtschaftsverhältnis unbekannt Hinweis: Schreibung des Vornamens auch „Carolina“
Elisabeth Klara Hirsch
Hier wohnte Elisabeth Klara Hirsch geb. Lorch Jg. 1866 deportiert 1940 Gurs Flucht 1941 überlebt in USA
27. März 2009
geboren am 13. April 1866 in Laumersheim[18] Mutter von Julius und Ella Hirsch 3. November 1941 Flucht nach Südfrankreich 1942 Auswanderung in die USA verstorben 1958 in Brookline (Mass.)[5]
Ella Hirsch
Hier wohnte Ella Hirsch Jg. 1899 deportiert 1940 Gurs Flucht 1941 überlebt in USA
27. März 2009
geboren am 5. September 1899 in Dolgesheim[18] Tochter von Elisabeth Klara Hirsch 3. November 1941 Flucht nach Südfrankreich 1942 Auswanderung in die USA verstorben am 3. Februar 1975[22] in Brookline (Mass.)[5]
Tochter von Adolf und Emilie Liebmann 1. Juni 1937 Auswanderung mit den Eltern nach Argentinien[1] weitere Lebensdaten unbekannt
Literatur
Michael Martin: Juden in Dirmstein. In: Michael Martin (Hrsg.): Dirmstein – Adel, Bauern und Bürger. Chronik der Gemeinde Dirmstein. Selbstverlag der Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Neustadt an der Weinstraße 2005, ISBN 3-9808304-6-2, S.327–338.
Ortsgemeinde Dirmstein (Hrsg.): „Dirmstein erinnert sich“. Tage des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Dirmstein 2009 (Online [PDF; 336kB] Redaktion: Albert H. Keil).
Hannes Ziegler: Dirmstein im Nationalsozialismus. In: Michael Martin (Hrsg.): Dirmstein – Adel, Bauern und Bürger. Chronik der Gemeinde Dirmstein. Selbstverlag der Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Neustadt an der Weinstraße 2005, ISBN 3-9808304-6-2, S.197ff.
↑ abc
Entgegen den Angaben in der Ortschronik und der darauf basierenden Aufschrift auf dem Stolperstein wurde Karoline Hirsch nicht 1940 von Dirmstein nach Gurs deportiert; denn sie war bereits am 6. Februar 1934 in die Niederlande emigriert. Nach deren Okkupation durch die deutsche Wehrmacht (1940) wurde Hirsch am 15. August 1942 aufgespürt, zwei Tage lang in Westerbork eingesperrt und dann nach Auschwitz verschleppt. Später wurde der 28. August 1942 als Todesdatum festgehalten.
↑ abcde
Archiv der Gemeinde Dirmstein: Auswanderungsregister. 1708–1812 lückenhaft, 1812–1905 sorgfältig, 1905–1937 lückenhaft. In: Dirmstein – Adel, Bauern und Bürger. Chronik der Gemeinde Dirmstein. 2005, S.442.
↑ abcd
Generallandesarchiv Karlsruhe: Brief. 6. April 2004.
↑ abc
Christian Oldekop (col): Fünfte Etappe des Erinnerns. In: Die Rheinpfalz, Lokalausgabe Frankenthaler Zeitung. Ludwigshafen 31. März 2009 (online).
↑David Hirsch: Betrogen um Jugend und Heimat. (PDF; 336 kB) Brief vom 8. Dezember 2000. In: „Dirmstein erinnert sich“. Tage des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Ortsgemeinde Dirmstein, März 2009, S. 51 f., abgerufen am 7. Februar 2015 (Dirmstein 26. bis 29. März 2009, Redaktion: Albert H. Keil).
↑
Jürgen Bich (bjg): Wir werden 120 Jahre alt. In: Die Rheinpfalz, Lokalausgabe Frankenthaler Zeitung. Ludwigshafen 28. März 2009 (online).
↑
Marie-Christine Werner: Der englische Flieger. Der Mord an Cyril William Sibley. Mainz 2001 (Typoskript der Sendung des Südwestrundfunks vom 10. Februar 2001, 21 bis 22 Uhr).
↑Auf dem Bild von links: Arthur Mauer (Gründer des Kulturvereins St. Michael Dirmstein), David Hirsch (Holocaust-Überlebender aus Dirmstein) und Paul Niedermann (Holocaust-Überlebender aus Karlsruhe) am 25. März 2009 in Dirmstein
↑ abcDavid Hirsch: Betrogen um Jugend und Heimat. (PDF; 336 kB) Brief vom 8. Dezember 2000. In: „Dirmstein erinnert sich“. Tage des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Ortsgemeinde Dirmstein, März 2009, S. 3 f., abgerufen am 7. Februar 2015 (Dirmstein 26. bis 29. März 2009, Redaktion: Albert H. Keil).
↑David Hirsch: Betrogen um Jugend und Heimat. (PDF; 336 kB) Brief vom 8. Dezember 2000. In: „Dirmstein erinnert sich“. Tage des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Ortsgemeinde Dirmstein, März 2009, S. 5 f., abgerufen am 7. Februar 2015 (Dirmstein 26. bis 29. März 2009, Redaktion: Albert H. Keil).
↑ abRoland Paul: E-Mail an User Mundartpoet, von diesem weitergeleitet an User Chronist 47. Hrsg.: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern. 18. Juli 2011.