KomplementaritätsprinzipDas von dem Physiker Niels Bohr aufgestellte Komplementaritätsprinzip besagt, dass zwei methodisch verschiedene Beobachtungen (Beschreibungen) eines Vorgangs (Phänomens) einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und einander ergänzen. Als Beispiel aus der Quantenmechanik dient vielfach der Sachverhalt, dass eine gleichzeitige Bestimmung von Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist, sondern je nach Versuchsanordnung die eine oder die andere Eigenschaft hervortritt. Wellen- und Teilcheneigenschaften können durch zwei verschiedene, komplementäre Beobachtungssätze (komplementäre Observablen, Welle-Teilchen-Dualismus) beschrieben werden. Bereits Bohr verallgemeinerte den Begriff Komplementarität auf fundamentale Gegensätze und Paradoxien in anderen Bereichen. Definition durch BohrNiels Bohr führte den Begriff der Komplementarität 1927 auf einem Physikerkongress in Como ein:
Bohr bezieht sich also in erster Linie auf die – mit der Entdeckung des Wirkungsquantums durch Max Planck – in der Quantenmechanik aufgetretene Unvereinbarkeit, dass „eine ins einzelne gehende kausale Verfolgung atomarer Prozesse nicht möglich ist, und dass jeder Versuch, eine Kenntnis solcher Prozesse zu erwerben, mit einem prinzipiell unkontrollierten Eingreifen in deren Verlauf begleitet sein wird“[3] Bohr sieht die Aufgabe, eine Theorie der Komplementarität zu entwickeln, und verweist bereits in diesen frühen Aufsätzen auf eine tiefreichende Analogie zwischen dem Komplementaritätsbegriff und den allgemeinen Erkenntnisschwierigkeiten, die in der Subjekt-Objekt-Unterscheidung begründet sind. Eine Entsprechung des Komplementaritätsprinzips findet sich in der von Werner Heisenberg im Jahr 1927 eingeführten, quantenphysikalischen Unschärferelation, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig zu erfassen sind.[4] Die physikalische Diskussion des Komplementaritätsbegriffs bezieht sich häufig auf eine Versuchsanordnung, die als Doppelspaltexperiment bezeichnet wird. Der Messvorgang ist eine entscheidende Bedingung des Experiments, denn durch die Detektion bzw. Messung des genauen Weges eines bestimmten Teilchens wird der Ausgang des Experimentes maßgeblich verändert (wobei dieser Effekt unter bestimmten Voraussetzungen durch einen Quantenradierer rückgängig gemacht werden kann). Demgegenüber wird das Ergebnis einer Messung in der klassischen Physik durch den Vorgang der Messung nicht in bedeutsamer Weise beeinflusst. Nach der ursprünglichen Auffassung war es unmöglich, gleichzeitig und innerhalb desselben Experimentes die Messung von Wellen- und Teilchencharakter vorzunehmen. In neueren Experimenten, z. B. von der Forschungsgruppe um Anton Zeilinger,[5] gelang es innerhalb eines Experimentes zwischen Wellen- und Teilcheneigenschaft eines Photonenpaares zu „wechseln“. Die Eigenschaft wird erst durch den experimentellen Eingriff in der Doppelspalt-Anordnung hergestellt. InterpretationsproblemeVon Anfang an, bereits in der Diskussion zwischen den theoretischen Physikern, vor allem Werner Heisenberg, Albert Einstein, Wolfgang Pauli, Carl Friedrich von Weizsäcker, ergaben sich beträchtliche Verständigungsschwierigkeiten hinsichtlich Bohrs Auffassungen, und seitdem hat das Komplementaritätsprinzip zahlreiche unterschiedliche Interpretationen gefunden (siehe Kopenhagener Deutung). Zu den wichtigen Gesichtspunkten gehören:
Die Ergebnisse aus den eigenständigen, einander ausschließenden Experimentalanordnungen ergänzen sich wechselseitig zum Gesamtbild der Wirklichkeit und überwinden ihre jeweilige „methodische Blindheit“. Die beiden paradoxen Aussagesätze werden auch als kontradiktorisch, d. h. widersprüchlich, als nicht-exhaustiv, d. h. den Bedeutungsinhalt nicht erschöpfend, als inkommensurabel, d. h. nicht mit der gleichen Einheit darstellbar, oder inkompatibel, d. h. nicht verträglich, nicht vereinbar, bezeichnet. Die häufige Formulierung „weder kompatibel noch inkompatibel, sondern nicht-kompatibel“ bedeutet, dass die Aussagesätze miteinander weder verträglich noch unverträglich, sondern in einer dritten Weise nicht-kompatibel, d. h. komplementär, sind. Zu den am häufigsten genannten Definitionsmerkmalen gehören:
Logische KomplementaritätDonald MacKay (1958) stellt sich auf den Standpunkt, dass Komplementarität nicht eine physikalische, sondern eine logische Grundbedeutung hat. Das Verlangen nach komplementären Beschreibungen entstehe auf einer rein logischen Ebene, "whenever certain pairs of descriptive concepts (frequency and time, or wave-number and position) are used to characterize a mathematical function such as a train of waves.”[7]
Als Synthese und höhere Repräsentation von zwei oder mehreren komplementären Beschreibungen sei das Prinzip nützlich und bilde zugleich eine Warnung, solche Relationen fehlzuinterpretieren, also zu meinen, dass diese komplementären Bestimmungen sich auf verschiedene Dinge beziehen, synonym sind, nicht erschöpfend und widersprüchlich sind. Wissenschaftstheoretische DefinitionEine wissenschaftstheoretisch fundierte Definition (Explikation) des Komplementaritätsprinzips wurde erst im Jahr 1963 von Hugo Bedau und Max Oppenheim versucht, nachdem sie sich mit einer Reihe bekannter Physiker und Wissenschaftstheoretiker abgestimmt hatten. Diese logische Analyse geschieht in „physikalischen Begriffen“ und stützt sich auf wichtige Unterscheidungen wie: Sätze der Beobachtung und Sätze der Interpretation, Phänomen und Interpretation, paradoxe Situation und deren Auflösung nach Bohr, nicht-kompatible (weder kompatible noch inkompatible) Sätze.
Jedes der sechs Definitionsmerkmale wird eingehend und auch in formaler Schreibweise erläutert. Der Aufsatz schließt mit der skeptischen Beurteilung:
Verallgemeinertes KomplementaritätsprinzipBohrs VerallgemeinerungenBohr wies auf die Unmöglichkeit einer strengen Trennung von Phänomen und Beobachtungsmitteln hin und bezog sich auch auf die Psychologie. „Mit der Notwendigkeit, zu einer in diesem Sinn komplementären oder besser reziproken Beschreibungsweise Zuflucht zu nehmen, sind wir wohl besonders durch psychologische Probleme vertraut“[12] ... wo „die Schwierigkeiten, die Definitions- und Beobachtungsprobleme bei wissenschaftlichen Untersuchungen darbieten, erkannt wurden, lange bevor solche Fragen in den Naturwissenschaften aktuelles Interesse fanden“[13] Die Abhängigkeit psychologischer Befunde von der Untersuchungssituation und der sozialen Interaktion zwischen Untersucher und Untersuchungsteilnehmer ist in der Psychologie ein zentrales Thema der Methodenlehre (siehe Reaktivität (Sozialwissenschaften)). Bohr hat sein Prinzip auf viele andere Bereiche übertragen, auf Fragestellungen der Biologie, der Psychologie und der Kultur, ohne jedoch hier die im Falle der Quantenmechanik angenommenen Voraussetzungen in entsprechender Weise zu definieren und konsequent zwischen physikalischen (und anderen) Beobachtungssätzen und den abgeleiteten Interpretationssätzen zu unterscheiden (Favrholdt, 1999, Plotnitsky, 2013). In Bohrs (1931, 1937) Darstellungen sind drei hauptsächliche Bedeutungen oder Stufen des Komplementaritätsprinzips zu unterscheiden (Fahrenberg, 2013): (1) die Komplementarität von Beobachtungen quantenmechanischer Sachverhalte in Form von zwei zusammengehörigen und doch einander ausschließenden, d. h. paradoxen Beobachtungssätzen über physikalische Sachverhalte in experimentellen Versuchs- und Messanordnungen; (2) die Komplementarität von zusammengehörigen und einander ausschließenden Beschreibungen wie in dem Gegensatz von Beobachter und Beobachtetem (Subjekt und Objekt der Wahrnehmung), Gehirnvorgängen und psychischem Geschehen, Kausalität der Gehirnvorgänge und Gefühl des freien Willens; (3) das Komplementaritätsprinzip als universale Erkenntnishaltung und als ein der Einheit des Wissens und der Wissenschaften dienliches Programm (nach Bohrs Motto: „contraria sunt complementa“ – Gegensätze ergänzen sich).[14] Die Unterscheidung von (1) und (2) folgt aus der zentralen Rolle der einander ausschließenden Beobachtungssätze im Zusammenhang ihrer objektiv-experimentellen Versuchsanordnungen, wie sie in einer formal gleichartigen Form weder in der Psychologie noch in anderen Humanwissenschaften gegeben sind. Fragwürdig bleibt auch das Kriterium, dass die Beobachtungen räumlich und zeitlich nicht zusammentreffen. Die Vielfalt der von Bohr zu (2) genannten Bezüge und Beispiele scheint deshalb nur Hinweise auf eine Analogie, eine Heuristik oder ein Paradox zu geben. Komplementaritätsprinzip (Psychologie)Im Bereich der Psychologie kann das vage Sowohl-als-auch auf eine striktere Fassung begrenzt werden: die Zuordnung von zwei in ihren Kategorien-Ebnen (Allgemeinbegriffen) grundverschiedenen, eigenständigen Bezugssystemen. Diese Auffassung lässt sich insbesondere im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem und auf die subjektive und die neurophysiologische Sicht der Willensfreiheit erläutern, betrifft jedoch auch viele Entscheidungen zur Forschungsmethodik und Praxis der Psychologie. Komplementarität nach Bohrs Fassung (2) besagt:
Die Idee der Komplementarität ist kein Lösungsversuch des zugrundeliegenden Gegensatzes, sondern eine Vermittlung in methodologischer Hinsicht. Das Prinzip würde im konkreten Forschungsfall eine ausdrückliche Begründung verlangen, wenn auf eines der beiden Bezugssysteme, dort wo es praktisch möglich ist, verzichtet wird. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Heisenberg hat der französische Anthropologe und Psychiater George Devereux in seinem Werk die Prinzipien der Ethnopsychoanalyse festgelegt, die auf dem Grundsatz der Komplementarität in der ethologischen Arbeit basieren.[16] Für die Methodenlehre der Psychologie und Neuropsychologie folgt, dass die introspektiv-bewusstseinspsychologischen Methoden gleichberechtigt mit den biologisch-verhaltenswissenschaftlichen Methoden sind: Nicht entweder Selbstberichte und Selbstbeurteilungen oder physiologische Funktions- und Verhaltensmessungen, sondern eine zielstrebige Nutzung beider Erkenntniswege. Das Komplementaritätsprinzip setzt jedoch voraus, dass es sich um denselben zugrundeliegenden Prozess, dasselbe Ereignis, handelt. Im Unterschied zum physikalischen Phänomen Licht sind bei solchen Übertragungen, beispielsweise auf den psychophysischen Prozess einer Emotion, Aussagen auf zwei kategorial verschiedenen Ebenen einander zuzuordnen, so dass sich empirisch-definitorische Schwierigkeiten einstellen können, das Zusammengehörige hinreichend zu identifizieren. Aus dieser kritischen Sicht ist der Begriff der Perspektivität vorzuziehen, d. h. der methodisch reflektierte Wechsel zwischen zwei koordinierten Perspektiven.[17] Die Diskussion über das Komplementaritätsprinzip wurde philosophisch insbesondere durch Hans-Ulrich Hoche (2008) zum „Anthropological complementarism“ erweitert sowie durch Helmut Reich (2002) über „Relational and Contextual Reasoning and the Resolution of Cognitive Conflicts“ und Harald Walach (2013) zur Wissenschaftstheorie der Psychologie weitergeführt. Aus philosophisch-sprachanalytischer Sicht setzt Hoche am Begriff der Identität an und legt dar, dass eine fundamentale Dichotomie der Perspektive der Ersten Person und der Dritten Person besteht, die er als kategoriale Differenz bezeichnet, d. h. die Gegebenheiten (Perspektiven) sind keine dualen Perspektiven, keine „zwei Seiten von ein- und derselben Gegebenheit“, sie sind weder numerisch identisch, noch sind sie numerisch verschieden, sondern sie stehen in einem komplementären Verhältnis. Aus entwicklungspsychologischer Sicht gelangt Reich zu einer allgemeineren Konzeption des relationalen und kontextuellen Denkens, wie es zur Lösung kognitiver Konflikte dienen kann. Ein Komplementärverhältnis wird dann angenommen, wenn zwei Aussagen weder kompatibel noch inkompatibel sind. Diese Bedingung sei bei verschiedenartigen Problemen, in der Psychologie, der Theologie und auf anderen Gebieten gegeben. Anstelle von Phänomensätzen im engeren Sinn werden generell Paare von Aussagesätzen (Interpretationssätzen), die keinen direkten Bezug mehr zu einer Versuchsanordnung haben, auf ihre Kompatibilität untersucht. Weitere Verallgemeinerungen und KritikBohrs Vorbild folgend wurde der Begriff Komplementarität auf Widersprüche und Dualismen vieler Gebiete übertragen: in die Biologie und Psychologie, in die Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften bis zur Philosophie und Theologie. Es gibt Vorläufer des Begriffs und ähnliche Konzepte. Häufig scheint es sich nur um ein unscharfes „Sowohl-als-auch“ und um kaum mehr als eine Metapher zu handeln. Literatur
Einzelnachweise
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