KinderkreuzzugDer Kinderkreuzzug (lateinisch peregrinatio puerorum) soll laut verschiedener mündlicher Überlieferungen ein Ereignis gewesen sein, in dem sich im Frühsommer 1212 Tausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Deutschland und aus Frankreich veranlasst sahen, unter der Leitung visionärer Knaben in einem unbewaffneten Kreuzzug ins Heilige Land zu ziehen. Der Zug hatte sich teilweise schon vor Erreichen der Ufer des italienischen Mittelmeers aufgelöst; der Teil, der das Ufer trotzdem erreichte, wurde an sarazenische Sklavenhändler verkauft.[1] Begrifflichkeit: peregrinatio puerorumDer Name Kinderkreuzzug ist eine Übersetzung des in den Quellen oft verwendeten Begriffes peregrinatio puerorum. Sowohl peregrinatio (Kreuzzug) wie auch puer (Kind) lassen jedoch mehrere Deutungsmöglichkeiten zu. puerDie Teilnehmer des Kinderkreuzzugs waren nicht, wie der Name impliziert, ausschließlich Kinder, sondern zu einem großen Teil Jugendliche und Gruppen von Erwachsenen.[2] Es handelte sich bei ihnen überwiegend um Angehörige niederer sozialer Schichten. Eventuell beruht die Vorstellung eines Kinderkreuzzuges auf einem sprachlichen Missverständnis. Das lateinische Wort „puer“ kann nicht nur als „Kind“ oder „Knabe“ übersetzt werden, sondern auch als „Knecht“. Damit waren vor allem jüngste Kinder von Bauernfamilien bezeichnet, die oft höchstens eine Arbeit als Hirten oder Taglöhner fanden und so eine arme ländliche Unterschicht bildeten.[3][4] Diese Interpretation des Namens ist von mehreren neueren Forschungen zum Teil bestätigt worden.[5][6][7][8] Andere Forscher weisen auf eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes puer hin, die im 13. Jahrhundert eingesetzt hatte und in Beziehung zu der neuentstandenen freiwilligen Armutsbewegung steht.[9] peregrinatioWeniger umstritten als der Begriff Kind ist die Bezeichnung Kreuzzug. Der Begriff Kreuzzug wird im Deutschen erst ab dem 17. Jahrhundert verwendet. In den Quellen zum Kinderkreuzzug werden die Begriffe peregrinatio (Pilgerfahrt), iter (Weg) und expeditio (Feldzug) verwendet. Diese Begriffe mit der Angabe des Zieles Jerusalem und dem Hinweis auf das Tragen des Kreuzzeichens (crucisignati) ist durchaus die gängige zeitgenössische Bezeichnung für Kreuzzug. Obwohl die Teilnehmer des Kinderkreuzzuges unbewaffnet waren und kein päpstlicher Kreuzzugsaufruf vorhergegangen war, wird die Bezeichnung Kreuzzug in der Forschung als zutreffend betrachtet.[10] Auch hat der Begriff peregrinatio einen Deutungswandel von der ursprünglichen Bezeichnung einer Lebensform (Leben in der Fremde) zur Bezeichnung der christlichen Wallfahrt erfahren. Wenn in der Folge weiterhin von „Kinderkreuzzug“ die Rede ist, muss dies immer in der erweiterten Bedeutung von „puer“ und „peregrinatio“ verstanden werden. QuellenlageDie Quellenlage zu den Kinderkreuzzügen ist insofern dürftig, als kein einziger Augenzeugenbericht eines Teilnehmers erhalten geblieben ist. An die 50 zeitgenössische Quellen, vornehmlich Einträge in Kloster-Annalen, sind zu finden. Gemäß Peter Raedts können von diesen allerdings nur die 20 als relevant betrachtet werden, die vor 1220 entstanden sind.[6][11] Die Autoren der Quellen, die zwischen 1220 und 1250 entstanden sind, können immerhin noch als Zeitgenossen betrachtet werden. Die Quellen, die nach 1250 entstanden sind, stammen jedoch vorwiegend aus zweiter oder dritter Hand.[12] Manche Historiker nahmen an, dass die Pastorellen-, die Flagellantenbewegung und die Kinderwallfahrten nach Mont-Saint-Michel mit dem Kinderkreuzzug in Verbindung stehen; aufgrund anderer Entstehungsbedingungen und abweichender Jahreszahlen gelten diese Zusammenhänge aber als wenig plausibel, auch weil diese Bewegungen nie die Befreiung Jerusalems zum Ziel hatten.[13] Die Sage vom Rattenfänger von Hameln gehört in den Kontext der Ostkolonisation und hat vermutlich mit dem Kinderkreuzzug nichts zu tun (vgl. Interpretation der Rattenfängersage). Die Sagen- und Legendenbildung zum Kinderkreuzzug hat schon sehr früh eingesetzt. In dieser Hinsicht sind vor allem drei Chronisten aus dem dreizehnten Jahrhundert von Bedeutung. Es handelt sich um Alberich von Trois-Fontaines,[14] Matthäus Paris[15] und Vinzenz von Beauvais.[16] Ihre Berichte zum Kinderkreuzzug sind sehr mythenumwoben und wurden in der späteren Historiographie stark rezipiert. Da sie als „Zeitzeugen“ gelten, wurden ihre Einträge bis weit ins 19. Jahrhundert als glaubwürdig betrachtet und oft unbesehen kopiert.[17] Anhand der als glaubwürdig eingestuften Quellen können die Chronologie und der Weg des Kinderkreuzzuges annähernd rekonstruiert werden. Gleichzeitig deutet das Fehlen von Quellen auf unplausible Interpretationen hin. So wurde für den französischen Zug, der laut Alberich von Trois-Fontaines von der Île-de-France nach Marseille geführt hatte, südlich der Loire kein einziger Chronikeintrag gefunden.[6][18][19] KontextKrise der KreuzzugsbewegungIm Jahr 1187 erlitten die Kreuzfahrer bei der Schlacht von Hattin eine massive Niederlage. Saladin eroberte das Königreich Jerusalem zurück und es gelang ihm, das Wahre Kreuz Christi zu erbeuten. Im darauf folgenden Dritten Kreuzzug (1189–1192) wurde zwar die Stadt Akkon zurückerobert, eine Rückgewinnung Jerusalems misslang jedoch. Der Vierte Kreuzzug von 1204 wurde zu einem völligen Misserfolg, da er nach dem christlichen Konstantinopel umgeleitet wurde und mit der Eroberung und Plünderung der Stadt endete. In dieser Krise des Kreuzzuges entstand im Norden Frankreichs eine Bewegung der freiwilligen Armut. Prediger wie Petrus von Blois, Alain de Lille, Fulko von Neuilly und andere vertraten die Ansicht, dass nur eine Bewegung von Unschuldigen und Armen fähig sein werde, das Grab Christi zurückzuerobern.[6] Kreuzzug gegen die AlbigenserIn der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts war die Laienbewegung der Katharer entstanden, die besonders in Okzitanien (Südfrankreich) große Verbreitung fand. Als alle Gegenmaßnahmen der Kirche gegen die Ketzer wenig fruchteten, rief Papst Innozenz III. 1208 nach der Ermordung von Pierre de Castelnau zum Kreuzzug gegen die Albigenser auf. Eine große Anzahl adliger und nichtadliger Leute aus dem Gebiet der Île-de-France folgte dem Aufruf und schloss sich unter dem Bischof von Chartres 1210 dem Kreuzzugsheer an. Schlacht bei Las Navas de Tolosa1211 überquerte ein Almohaden-Heer unter Sultan Muhammad an-Nasir die Straße von Gibraltar und eroberte christliche Gebiete Spaniens zurück, so unter anderem die Ordensburg des Ordens von Calatrava in Salvatierra (eine mittelalterliche Burg in der Provinz Ciudad Real in Spanien, um 1199–1211 Sitz des Ordens). Daraufhin rief Papst Innozenz III. zu einem Kreuzzug auf. Gleichzeitig forderte der Papst die ganze Christenheit auf, in Prozessionen für den Sieg gegen die inimicos Christianitatis (Feinde der Christenheit) zu beten. Das Unternehmen endete schließlich am 16. Juli 1212 mit dem Sieg der Christen über die Muslime in der Schlacht bei Las Navas de Tolosa.[20] Entstehung: Étienne de Cloyes (Stefan von Cloyes)Als in der Oktave nach Pfingsten 1212 Papst Innozenz III. auch Prozessionen im Raume von Chartres angeordnet hatte, schienen einige dieser Prozessionen sich der Kontrolle des Klerus entzogen und verselbstständigt zu haben. Mit Fahnen, Kreuzen, Kerzen und Weihrauchfässern seien diese Prozessionen durch verschiedene Städte des Pariser Beckens gezogen und hätten gesungen: Domine deus, exalta Christianitatem et redde nobis veram crucem (Herr Gott, erhöhe das Christentum und gib uns das wahre Kreuz zurück).[21] Ein Chronist aus Laon berichtet, dass fast gleichzeitig ein junger Hirte namens Étienne (deutsch: Stefan) in Cloyes, einem Dorf in der Nähe von Vendôme, aufgetreten sei, der behauptet habe, Jesus sei ihm in der Gestalt eines armen Pilgers erschienen und habe ihm einen Brief für den französischen König gegeben. Von ganz Frankreich seien ihm Anhänger zugeströmt. Die bis auf 30.000 Personen angewachsene Schar sei Étienne nach St. Denis gefolgt, wo dieser etliche Wunder gewirkt habe und als Anführer anerkannt worden sei. Doch der König Philippe Auguste habe die Bewegung aufgelöst, nachdem er die Magister von Paris befragt habe. Étienne de Cloyes habe ihm gehorcht und die große Menge habe sich zerstreut.[22] Das ist die letzte Nachricht von Étienne de Cloyes. Doch nicht alle Teilnehmer scheinen nach Hause gegangen zu sein. Ende Juni, Anfang Juli 1212 war eine Gruppe von pueri in Rocourt nahe bei Saint-Quentin anzutreffen. Sie waren dort an sozialen Unruhen beteiligt oder sogar deren Auslöser (occasione puerorum). Es ging in dieser Auseinandersetzung zwischen dem Klerus und den Laien offenbar um die Verteilung der Almosen.[23] Danach verlieren sich die Spuren der pueri. Möglicherweise zogen sie nach Lüttich weiter. Darauf deutet der Eintrag Reniers von Lüttich, vermutlich eines Zeitgenossen, in den Annalen seines Klosters hin. Jener Chronist erwähnt eine erstaunliche Bewegung von pueri aus Frankreich und Deutschland (de Romano quam Teutonico regno), in der Mehrheit Schäfer, die die Absicht zeigten, das Meer zu überqueren, um das zu erreichen, was den Mächtigen und Königen nicht gelungen war, nämlich das Heilige Grab zurückzugewinnen.[24] Renier fixiert das Ereignis auf Anfang Juli 1212. Von Lüttich zogen die jungen Kreuzfahrer (vermutlich über Aachen) nach Köln weiter, wo sie sich mit dem deutschen Zug vereinigten. Deutscher Zug: Nikolaus von KölnZwischen Ostern und dem Weißen Sonntag des Jahres 1212 sammelten sich in den Rheinlanden und in Niederlothringen Scharen von „pueri“, um sich auf den Weg nach Jerusalem zu begeben. Aus den Quellen ist kein äußerer Anlass ersichtlich. In einigen Quellen wird ein gewisser Nikolaus, ein Junge aus Köln, als Anführer genannt. Diesem sei ein Engel erschienen, der ihn aufgefordert habe, das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien. Gott werde den Zug unterstützen und das Meer teilen, so dass sie wie die Israeliten (vgl. Exodus, Kapitel 13–15) trockenen Fußes in das Heilige Land gelangen würden.[25] Die Chronik von Trier berichtet, dass Nikolaus ein Kreuzzeichen in der Form eines Taus als Zeichen seiner Auserwählung auf sich getragen habe.[26] Anhand der Einträge in verschiedenen Chroniken kann der Zug ungefähr rekonstruiert werden. Von Köln zog die Gruppe über Trier nach Speyer und von da weiter Richtung Süden. Die Reise wird ziemlich erschöpfend gewesen sein. Eine Chronik aus Köln berichtet, dass bereits vor der Überquerung der Alpen viele der Teilnehmer durch Hunger und Durst gestorben seien.[27] Wo genau die Alpen überquert worden sind, ist aus den Quellen schwer ersichtlich. Die Häufung von Einträgen in bayerischen und österreichischen Chroniken lässt die Vermutung zu, dass der Zug über den Brenner in die Lombardei gelangte.[6] Über Cremona und Piacenza kamen die Kreuzzugteilnehmer schließlich am 25. August in Genua an. Der Stadtchronist von Genua vermerkte, dass an die 7000 Männer, Frauen und Kinder („pueros et puellas“) in die Stadt gelangt seien. Einige hätten die Stadt bereits anderntags verlassen, offensichtlich enttäuscht darüber, dass das Wunder der Meeresteilung ausgeblieben war.[28] Nach dem „Debakel von Genua“[6] scheint sich der Zug aufgeteilt zu haben. Ein Teil zog weiter nach Marseille, ein anderer Teil zog Richtung Rom. Dort sollen sie gemäß den Annalen von Marbach Papst Innozenz III. aufgesucht haben, damit sie von dem Kreuzzugsgelübde entbunden würden.[29] Eine größere Gruppe soll versucht haben, in Pisa und Brindisi Schiffe nach Palästina zu besteigen. Die wenigen, denen dies gelang, seien schließlich als Sklaven an die Sarazenen verkauft worden.[25] Keiner der Kreuzzugsteilnehmer scheint das Heilige Land je erreicht zu haben. Einige sind wohl in Italien geblieben, wo sie sich als Knechte und Mägde verdingten. Alle Quellen sind sich einig, dass von den Tausenden, die die Alpen überquert hatten, nur wenige den Weg zurückfanden. Auf dem Heimweg wurden sie nicht selten hämisch empfangen. Der Marbacher Annalist vermerkt nicht ohne Hohn, dass diejenigen, die auf der Hinfahrt singend in Scharen gegen Süden gezogen seien, nun kleinlaut, barfüßig, hungrig und von allen verlacht nach Hause gekommen seien.[30] Französischer Zug laut Alberich von Trois-FontainesVon Alberich, einem Mönch aus dem Kloster Trois-Fontaines, stammt eine Erzählung über den Kinderkreuzzug, die an die Ereignisse um Stefan von Cloyes anknüpft, wegen fehlender Vergleichsquellen von den meisten Forschern heute als unplausibel bezeichnet, aber teilweise immer noch kolportiert wird.[31] Die Erzählung, die neben Mythen auch viel Geschichtliches enthält, fand große Verbreitung und ist Grundlage für die weitere Entwicklung des sogenannten „französischen Zugs“.[14]
Nach Alberich zog der Kreuzzug der kleinen Kinder (expeditio infantium) von Vendôme nach Paris. Als sie zu 30.000 zusammen waren, zogen sie nach Marseille, um das Meer zu überqueren und gegen die Sarazenen zu kämpfen. Die Kinder seien von zwei übelgesinnten Kaufleuten und Kapitänen, Hugo Ferreus („der Eiserne“) und Wilhelm Porcus („das Schwein“), auf sieben große Schiffe gelockt worden. Nach zwei Tagen seien sie in einen Sturm geraten, und zwei der Schiffe seien vor Sardinien gesunken. Papst Gregor IX. (1227–1241) habe später diesen Kindern zu Ehren eine Kirche der Neuen Unschuldigen auf der Insel San Pietro gestiftet. Die restlichen fünf Schiffe seien nach Bejaia und Alexandria weitergefahren, wo die Kinder den Sarazenen als Sklaven verkauft worden seien. Unter diesen Sklaven hätten sich auch vierhundert Kleriker befunden. Obendrein seien die Kinder noch im selben Jahr weiter nach Bagdad verkauft worden, wo achtzehn von ihnen als Märtyrer gestorben seien. Achtzehn Jahre nach dem Kinderkreuzzug (1230) hätten sich immer noch siebenhundert Kinder, jetzt im Mannesalter, als Sklaven in Alexandria befunden. LiteraturWissenschaftliche Literatur
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