Karl AchamKarl Acham (* 15. November 1939 in Leoben, Steiermark) ist ein österreichischer Soziologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker. BiografieNach dem Besuch des Bundesrealgymnasiums Leoben belegte Acham an der Universität Graz die Fächer Philosophie, Geschichte und Germanistik, promovierte hier 1964 im Fach Philosophie (Zum Problem des Historismus bei Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger) und habilitierte sich 1971 im Fach Philosophie (über Grundlagenprobleme der Gesellschaftswissenschaften). Nach Vertretungs- und Gastprofessuren in Hamburg und Bern sowie einem ersten Listenplatz für eine ordentliche Professur im Fach Philosophie an der Universität Bern war er seit Dezember 1974 als ordentlicher Professor und Leiter der Abteilung für Soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre, und von 2005 bis zu seiner Emeritierung im September 2008 als Sprecher des Forschungsbereichs „Geschichte und Theorie der Soziologie“ am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz tätig. Einem weiteren Ruf auf eine ordentliche Professur für Wissenschaftstheorie an der Universität Bochum im Jahr 1977 leistete er nicht Folge. Von 1983 bis 1985 war er Dekan der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und 2004–2008 Mitglied des Akademischen Senates der Karl-Franzens-Universität Graz. Acham nahm mehrfach ausländische Gastprofessuren wahr, so vor allem an der University of Waterloo, Ontario (1987 und 1991), an der Wuhan-Universität (1991), an der Universität São Paulo (1992), an der Tsinghua-Universität in Peking (1997), an der Universität Kyōto (2004), an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking (2005), an der Universität Mumbai (2019), ferner war er 1995 als Vortragender und Research Fellow der Japan Society for the Promotion of Science an der Frauenuniversität Nara, an der Keiō-Universität in Tokio sowie an den Universitäten Kyōto und Kobe tätig. Er hielt zahlreiche Auslandsvorträge, so auf ausgedehnten Vortragsreisen als Gast des Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico in Brasilien sowie in Indien. Acham war unter anderem von 1974 bis 1987 Mitglied der Studiengruppe „Theorie der Geschichte“ der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, von 1984 bis 1990 Mitglied des Vorstandes der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, von 1998 bis 2007 Mitglied des Kuratoriums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Historische Institut beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, 1990 Sachverständiger der Arbeitsgruppe „Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ des deutschen Wissenschaftsrats in Köln, von 1990 bis 1992 ebenda Gutachter der Arbeitsgruppe „Geisteswissenschaften“, von 1991 bis 1998 Mitglied des Vorstandes des Europäischen Forums Alpbach, von 2001 bis 2005 Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt der Republik Österreich und von 2006 bis 2010 Mitglied der Projektgruppe und der Jury (Review Panel) des HERA Joint Research Programme Humanities as a Source of Creativity and Innovation. Acham ist seit 1992 korrespondierendes und seit 1994 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte
Karl Acham ist Philosoph, Soziologe, aber auch Wissenschaftshistoriker und „Methodologe der historischen Erkenntnisgewinnung“, so der Historiker Jürgen Osterhammel. Insofern ist er ein Grenzgänger zwischen traditionellem und neuem Denken in Philosophie und Wissenschaftslehre. Acham hat sich international als Kritiker einer bestimmten Variante des Szientismus, aber auch des Postmodernismus profiliert – in seinen eigenen Worten: sowohl eines „geschichtsfernen Hyperrationalismus“ als auch „einer ordnungsfeindlichen Fetischisierung des Beliebigen“. Zum Gegebenen meint Acham: „Die Meinung, man könne auf die sogenannten Fakten als objektive und unbezweifelbare Dinge, auf ein ursprünglich ‘Gegebenes’, zurückgreifen, hält nicht stand.“ Daher gelange man zur „Einsicht, daß es einen standortfreien Historiker, einen Historiker ohne jede Perspektive, nicht gibt. Daraus folgt, daß der Versuch, jeweils eine einzige Perspektive als die allein ‘objektive’ anzugeben, als gescheitert anzusehen ist.“[1] In seinem Bestreben, die Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts mit der Sozialtheorie und der analytischen Philosophie der Folgezeit in eine fruchtbare Wechselbeziehung zu setzen, schließt er verschiedentlich an ähnlich geartete Bestrebungen von Max Weber, Heinrich Gomperz und Ernst Topitsch an. Trotz sich ändernder Schwerpunkte in seinem umfassenden wissenschaftlichen Wirken bleibt Acham als Wissenschaftstheoretiker einer kritischen Aufklärung verbunden. In diesem Sinne merkte er einmal zur Entstehung von Krisen an: „Dass das pathologische Verhältnis zwischen normativer und induktiver Erwartung, zwischen Utopie und Empirie, als konstitutiv für zahlreiche Krisen anzusehen ist, auch für solche in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung.“[2] Der Sozialphilosoph Acham bringt in die Ideologiekritik die Perspektive des „Nichtgesagten“ ein: „Derartiges ist charakteristisch für Ideologien in ihrer negativen Bedeutung: nämlich der Umstand, dass ideologisches Denken hinter der bereits möglich gewordenen Einsicht zurückbleibt, also einen denkgeschichtlichen Regress darstellt. Ideologien sind unzutreffende Meinungen und Aussagen, an deren Entstehung, Verbreitung und Aufrechterhaltung sich gesellschaftliche Interessen knüpfen. Wesentlich bei solchen Aussagen ist nicht zuletzt das Ungesagte, Verschwiegene; daher ist es in der Praxis der Ideologiekritik oft wichtiger, darauf zu achten, was jemand angesichts einer bestimmten Fragestellung nicht sagt, als darauf, was er sagt.“ Zu heutigen Intellektuellen und Wissenschaftlern meint er in ideologiekritischer Absicht: „Sie stellen sich etwa als ‚Experten‘ oder Anwälte in eigener Sache im ‚Krieg gegen den Terror‘ oder gegen die ‚Kreuzritter‘ auf die Seite der true believers, wobei sie dann – je nach Zugehörigkeit zum politisch-weltanschaulichen Lager – beispielsweise die vorgeschützten Kriegsgründe für die Invasion im Irak 2003 oder die islamischen Selbstmordattentate oder die übersteigerte Reaktion Israels auf palästinensische Aktionen rechtstheoretisch, politologisch, geostrategisch, religionssoziologisch oder sonstwie nicht nur zu verstehen, sondern auch zu rechtfertigen bemüht sind. Nicht selten ist auch das Bestreben am Werk, wissenschaftliche Diskussionen durch einen ihnen übergeordneten Moralismus, durch den Diskurs über ‚gut‘ und ‚böse‘ zu beschränken oder zu kanalisieren. Diese Prioritätensetzung selbst ist oft mehr eine Sache der Macht als eine solche der moralischen Stärke.“[3] Die Publikationen betrafen anfangs vor allem Themen der Geschichts-, Kultur- und Sozialphilosophie sowie der Wissenschaftstheorie, während in den letzten Jahren Befunde und Grundlagenprobleme der Wissenschaftsgeschichte der Humanwissenschaften im Vordergrund standen. Häufig handelt es sich dabei um die Befassung mit gewissen durch den Historismus initiierten, mitunter aporetisch anmutenden Fragestellungen im Lichte der jüngeren Erkenntnis- und Wissenschaftslehre: mit den Beziehungen von Wandel und Dauer, Geschichte und Theorie, Kultur und Natur, Verstehen und Erklären, Partikularismus und Universalismus, Genese und Geltung. Von Beginn an wandte sich Acham in seinen Veröffentlichungen aber auch der Darstellung und Analyse sozialer und kultureller Probleme der Gegenwartsgesellschaft zu. Als Fachvertreter der Theorie und Geschichte der Soziologie wiederum war er bestrebt, diese nicht aus Gründen eines zwar verständlichen, oft aber unangemessenen Anspruchs auf methodische Originalität und Exaktheit von den Theorien und Sacherörterungen der Philosophie und Psychologie, der Geschichts- sowie der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften abzugrenzen. Nach ihm ist eine solche Orientierung nicht für das häufig anzutreffende Dilemma verantwortlich zu machen, dass zwischen genauen, aber trivialen und wichtigen, aber unsicheren Forschungsresultaten zu wählen sei. Acham versteht die Kulturwissenschaften als einen Gegenstandsbereich, der alle Geistes- und Sozialwissenschaften umfasst, die sich mit Wertfragen beschäftigen. In der Europäischen Union, die mitsamt ihrer Großforschung zunehmend Gefahr laufe, sich als „Administrationsagentur ökonomischer Sachzwänge“ zu begreifen, drohe nicht nur die Situation der Kulturwissenschaften, sondern auch die aller kulturgeprägten Lebens- und Wirkungsbereiche prekär zu werden. „Wenn ihre [der EU] Vertreterinnen und Vertreter blind geworden sind für die kulturellen Grundlagen und die kulturellen Defizite der Ökonomie, ist es unter Umständen nicht nur um die Kulturwissenschaften schlecht bestellt.“[4] Als ein kritischer Europäer lehnt Acham zudem eurozentristische Verzerrungen ab, ohne aber deshalb die Denunziation universalisierbarer Leistungen des europäischen Denkens als suspekten Kosmopolitismus und Neokolonialismus zu billigen.[5] Veröffentlichungen (Auswahl)Acham ist Herausgeber der Buchreihe Klassische Studien zur Sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 10 Bände, Wien/Köln/Weimar 1982–1996, ferner Mitherausgeber der Buchreihen Schriften zur Kultursoziologie, 15 Bände, Berlin 1984–1994, Studien zur Moderne, Band 3–24, Wien 1998–2008, sowie Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum-Jahrbuch für Universalgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2005 ff. Zudem war er Mitherausgeber philosophischer und historisch-sozialwissenschaftlicher Zeitschriften, so z. B. von Geschichte und Gegenwart, und ist seit 1980 Mitherausgeber der Zeitschrift Archiv für Kulturgeschichte. Dazu kommen über 250 Zeitschriftenaufsätze, Artikel und Beiträge in Sammelwerken.
Anerkennungen
Weblinks
Einzelnachweise
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