KaragöztheaterKaragöz (türkisch „Schwarzauge“ nach der Hauptfigur) ist die Bezeichnung für das türkische Schattenspiel, bei dem eine Figur aus farbiger Tierhaut (tasvir) hinter einem weißen Vorhang bei starkem Gegenlicht hin und her bewegt wird. Im Unterschied zum eher harmlosen deutschen Kasperletheater waren die Karagöz-Stücke stark satirisch, verspotteten hemmungslos Glauben und Obrigkeit und waren bis ins 19. Jahrhundert ausgesprochen derb, mit zahlreichen sexuellen Anspielungen und Zoten, was europäische Reisende einigermaßen schockierte. FigurenKaragöz ist ein lebensfroher, einfacher, aber witzig-gerissener Mann aus dem Volk. Er ist eine ungehobelte, sinnenfreudige Figur, die aus Geldmangel häufig Aufgaben übernehmen muss, denen sie nicht gewachsen ist (z. B. Briefeschreiben für andere). Er ist ewig auf der Suche nach sexuellen Kontakten (meist vergeblich) und bei dieser Suche nicht wählerisch (Hacivat: „War sie hübsch?“ Karagöz: „Ehrlich gesagt, ich habe sie gar nicht richtig gesehen. Aber was soll’s? Es ist eine Frau.“[1]). Er kommt regelmäßig in Schwierigkeiten, wenn er sich von seinem Nachbarn Hacivat für dessen windige Geschäfte einspannen lässt. Hacivat, der Nachbar von Karagöz, ist ein halbwegs wohlhabender Vertreter des Istanbuler Bürgertums, der sich durch gehobene Floskeln einen Anschein von Bildung gibt. Im Großen Wörterbuch für Türkisch des Türk Dil Kurumu (Institut für die türkische Sprache) wird er folgendermaßen beschrieben:
– Büyük Türkçe Sözlük des Türk Dil Kurumu[2] Eine weitere regelmäßig auftretende Figur ist Zenne („Frau“), meist eine freizügig gekleidete Dame, neu in der Nachbarschaft und Gegenstand des erotischen Interesses von Karagöz und Hacivat. Neben diesen Hauptfiguren treten im Karagöztheater weitere Charaktere auf. Bei diesen handelt es sich um Repräsentanten der Istanbuler Gesellschaft und der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen des Osmanischen Reiches, aber auch um Randgruppenvertreter sowie Fabelwesen. Je gegensätzlicher die dargestellten Charaktere der einzelnen Figuren sind, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich im Schattenspiel für Komik, Ironie und Satire. Mitunter auch als eine sozialkritisch geprägte Theatergattung ist das Schattenspiel ein Spiegel der spätosmanischen Gesellschaft. Vor allem auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation wird der multikulturelle Kontext thematisiert. Weitere Figuren:
Struktur und TechnikTraditionell wurde das Schattenspiel während des Fastenmonats Ramadan und bei Beschneidungsfesten aufgeführt. Die Aufführungen fanden in Kaffeehäusern, in Privatwohnungen wohlhabender Bürger, aber auch am Sultanshof statt. Karagözspieler (karagözcü, hayyâlbâz) boten früher für jeden Tag im Ramadan dem Publikum ein anderes Stück dar und spielten somit 30 unterschiedliche Stücke, wobei teilweise improvisiert wurde. Erst ab dem 19. Jahrhundert sind schriftliche Fassungen überliefert. Zur Überlieferung gehören vor allem die von Hellmut Ritter übersetzten Texte und die Sammlung von Cevdet Kudret. Ein Karagöz-Stück besteht traditionell aus einer Einleitung (giriş), zu der eine von Hacivat vorgetragene mystisch-prätentiöse Ghazel (perde gazeli) gehört, einem Dialog (muhavere), der Haupthandlung (fasıl) und einem Epilog (bitiş). Die Stücke stehen in keiner Beziehung zueinander. Die Spielszene (göstermelik) ist meist der Platz vor den Häusern der Protagonisten Karagöz und Hacivat zu beiden Seiten, sinnbildlich für die Istanbuler Nachbarschaft (mahalle). Die Spielfiguren bestehen aus gefärbtem, durchscheinendem Rinder- oder Kamelleder, sind in sich beweglich und meist 20–40 Zentimeter hoch. Sie werden gegen ein mit Öllampen oder Kerzen erleuchtetes Gewebe gedrückt und mit einem oder zwei Stöcken bewegt, wobei die Stöcke senkrecht zur Leinwand gehalten werden, sodass ihr Schatten möglichst wenig zu sehen ist. Die Schattenspielfiguren werden meist von einem einzigen Karagözspieler geführt. Er spricht die Stimmen der verschiedenen Figuren, singt auch Lieder und sorgt für Begleitgeräusche. Zu einer vollständigen Schattenspielgruppe gehören noch zwei Musikanten, die Rahmentrommel mit Schellen (daire) und Flöte spielen. Die Begleitmusik im Karagöztheater lässt sich nicht eindeutig der klassischen osmanischen Kunst- und Volksmusik zuordnen. Die verschiedenen Akzente werden mit Liedern eingeführt, die typisch für bestimmte Regionen sind. UrsprungKaragöz steht mit anderen asiatischen Schattenspieltraditionen bis hin zum chinesischen Schattentheater in Verbindung. Mit dem Wayang Kulit in Indonesien, dem Nang Yai in Thailand, dem Tolubommalata in Südindien und anderen Puppenspielen teilt das Karagöz in die Handlung eingebaute sexuelle Anzüglichkeiten und den politischen Humor, verbunden mit Kritik an den Herrschenden, der für Unterhaltungsformen der unteren und ländlichen Bevölkerungsschichten charakteristisch ist.[3] Über die Einführung in die Türkei gibt es verschiedene Meinungen: Eine davon ist, dass die Marionettenspiele kor kolçak und çadır hayal in Zentralasien Schattenspiele waren und von dort nach Anatolien gelangten. Nach einer anderen Ansicht kam das Schattenspiel zusammen mit den Schattenspielern in die Türkei, die Sultan Selim I. nach der Eroberung Ägyptens im Jahre 1517 mitgebracht hat. Möglicherweise kannten die zentralasiatischen Turkvölker seit dem 12. Jahrhundert Schattenspiele, in der Türkei sind sie erst seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar.[4] Das arabische Schattenspiel der ägyptischen Mamluken bestand aus großen Schattenfiguren, die mit denen des Karagöz wenig gemeinsam hatten. Gegenüber anderen Formen des Theaters, insbesondere auch dem Spiel mit dreidimensionalen Puppen, hatte das Karagöz insofern einen Vorteil, als es menschliche Wesen nur sehr mittelbar abbildet und damit in geringerem Maße gegen das islamische Bilderverbot verstößt. Nach dem österreichischen Osmanisten Andreas Tietze fällt der Aufstieg des Schattentheaters deshalb auch nicht zufällig in eine Zeit, als sich die Macht der Ulema und ihr Einfluss auf das öffentliche Leben verstärkten. RezeptionEuropäische Reisende, die im 18. und 19. Jahrhundert Karagöz-Darbietungen beiwohnten, zeigten sich regelmäßig schockiert. Der englische Reisende Charles White schrieb:
Und der französische Diplomat François Pouqueville ist nicht weniger angewidert:
Dass die Figuren in früheren Zeiten in sexueller Hinsicht sehr explizit waren, ist durch erhaltene Figuren aus dem 17. und 18. Jahrhundert belegt, die einen beweglichen, also eregierbaren Penis aufweisen. Dass die Figuren des Karagöz meist nur eine Bewegungsmöglichkeit besitzen, weist auf die Bedeutung dieser speziellen Funktion in jener Zeit hin. Gérard de Nerval berichtet 1843, dass in einem der Stücke Karagöz vorgibt, ein heiliger Mann zu sein, dann jedoch richtet sich sein enormer Penis auf wie ein Pfahl, den in der Folge Frauen verwenden, um Wäscheleinen zu befestigen, und Reiter kommen vorbei, die ihre Pferde daran festbinden.[8] Nach Beginn der Tanzimat-Reformen fielen die grotesken Elemente jedoch der Zensur zum Opfer, wie Théophile Gautier 1854 zufrieden berichten konnte. Dror Ze'evi meint allerdings, die Autoren und Spieler hätten sich offiziellen Maßnahmen vorgreifend vermutlich selbst zensiert.[9] Während des Osmanischen Reiches gelangte das Karagöztheater auch nach Griechenland, wo es bis heute unter dem Namen Karagiozis (Καραγκιόζης) populär ist. Die Hauptfigur Karagiozis des griechischen Volkstheaters verkörpert den einfachen, armen, bauernschlauen Griechen, der sich tapfer gegen die osmanische (als Fremdherrschaft empfundene) Obrigkeit behauptet. Die Entscheidung der UNESCO im September 2009, das Karagöz-Theater auf türkischen Vorschlag in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufzunehmen, löste in Griechenland verhaltenen Protest aus.[10][11] Als die Osmanen in den arabischen Ländern Nordafrikas herrschten, wurde Karagöz auch dort eingeführt. In Tunesien kamen neben anderen Nationalitäten Schwarzafrikaner unter den Puppenfiguren vor. Als Geräuschinstrumente dienten die Metallklappern chkachek (shaqshaq).[12] Siehe auchLiteratur
WeblinksCommons: Karagöztheater – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einzelnachweise
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