Johannes Thiele war der Sohn eines Buchhändlers. Er studierte an der Universität Breslau zunächst Mathematik für das Lehramt und wechselte 1884 an der Friedrichs-Universität Halle zum Studienfach Chemie. Dort wurde er 1886 Assistent am chemischen Institut, 1890 wurde er bei Jacob Volhard mit einer analytischen Arbeit promoviert (Zur Scheidung und Bestimmung des Antimons)[1] und 1892 dort auch habilitiert (Ueber Nitro- und Amidoguanidin).[2][3] In Halle arbeitete er unter anderem über Hydrazine.
Im Kriegsjahr 1917 wurde er mit fünf weiteren Chemikern von Fritz Haber für Forschungen zum Gaseinsatz an der Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft herangezogen. Am 17. April 1918 verstarb er mit 52 Jahren an einer Herzerkrankung.
Im Jahr 1918 wurde die deutsche Universität Straßburg nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wieder französisch und seine ehemaligen Mitarbeiter mussten die Universität verlassen. Heinrich Wieland zögerte schon zuvor angesichts der sich abzeichnenden Niederlage, das Angebot vom 18. Juli 1918 auf die Nachfolge für J. Thiele anzunehmen.[4]
Werk
Thiele erforschte u. a. die Chemie diverser Stickstoffverbindungen und Oxidationsreaktionen organischer Verbindungen. Seine Arbeiten über die Eigenschaften konjugierter Doppelbindungen erregten großes Interesse. Die experimentellen Untersuchungen brachten ihn dazu, ein Modell zur Erklärung der 1,4-Addition an konjugierte Doppelbindungen zu entwickeln, die Theorie (besser Hypothese) der Partialvalenzen (Thielesche Theorie, 1899). Dies geschah auf Anregung von Adolf von Baeyer in München, wo Thiele die von Baeyer entdeckte, aber damals theoretisch unerklärliche Reduktion von Muconsäure zu Dihydrosäure erklärte.
Bei Studien über Reaktionen des Cyclopentadiens entdeckte Thiele eine neue Verbindungsklasse, die Fulvene. Eine Umwandlung von Chinonen in Benzolderivate trägt seinen Namen: Thiele-Winter-Reaktion.[5]
Er arbeitete an der Synthese von Azomethan (1909), Nitroharnstoff, Nitramid, Semicarbazid und Fulvenen. Thiele gehörte 1911 zu den ersten, die für Diazomethan – abweichend von der damals vorherrschenden Meinung einer Ringstruktur – eine lineare Struktur postulierten.[6] Diese Struktur konnte erst 1963 endgültig bewiesen werden.
Reine und technische Chemie. Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers am 27. Januar 1904 in der Aula der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg.
Über den Verlauf chemischer Reaktionen. Rede gehalten am Stiftungsfest der Kaiser Wilhelms-Universität am 30. April 1910 von dem derzeitigen Rektor, Dr. Johannes Thiele. Strassburg 1911.
Literatur (chronologisch)
Emil Knoevenagel: Thiele’s Theorie der Partialvalenzen im Lichte der Stereochemie. In: Justus Liebigs Annalen der Chemie. Band 311–312, Leipzig 1900, S. 241–255.
Ferdinand Heinrich: Thieles Hypothese von den Partialvalenzen. In: Theorien der organischen Chemie. Friedrich Vieweg & Sohn Verlag, Braunschweig 1912, S. 34–82.
H. Wichelhaus: Sitzung vom 13. Mai. 1918. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. Band51, Nr.1, 1918, S.878–882, doi:10.1002/cber.191805101107 (Nachruf).
Wilhelm Prandtl: Die Geschichte des chemischen Laboratoriums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. München 1952, S. 87.
W. R. Pötsch, A. Fischer, W. Müller, H. Cassebaum: Lexikon bedeutender Chemiker. 1. Auflage, S. 420, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, Leipzig 1988, S. 420.
↑Johannes Thiele: Zur Scheidung und Bestimmung des Antimons. In: Justus Liebig’s Annalen der Chemie. Band263, Nr.3. C. F. Winter, Leipzig und Heidelberg 1891, S.361–376, doi:10.1002/jlac.18912630312.
↑Johannes Thiele: Ueber Nitro- und Amidoguanidin. In: A. Kekulé, E. Erlenmeyer, J. Volhard (Hrsg.): Justus Liebig's Annalen der Chemie. Band270, Nr.1–2. C. F. Winter, Leipzig und Heidelberg 1892, S.1–63, doi:10.1002/jlac.18922700102.
↑Johannes Thiele: Über Nitro- und Amidoguanidin. In: Chemisches Centralblatt. Vollständiges Repetitorium für… Band63, Nr.10. Leopold Voss, Hamburg und Leipzig 6. September 1892, Organische Chemie, S.402–403 (online im Internet Archive [abgerufen am 2. März 2016]).
↑H. Krauch, W. Kunz: Reaktionen der Organischen Chemie. 5. Aufl. (bearbeitet von W. Kunz und E. Nonnenmacher), S. 270, Hüthig, Heidelberg 1976.
↑Johannes Thiele: Über die Konstitution der aliphatischen Diazoverbindungen und der Stickstoffwasserstoffsäure. Eingegangen am 1. August 1911. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. Band44, 3, Juli–Dezember, 1911, S.2522–2525, doi:10.1002/cber.19110440376.
↑Johannes Thiele: Ein neuer Apparat zur Schmelzpunktsbestimmung. Eingegangen am 27. Februar 1907. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. Band40, 1, Januar–Februar, 1907, ISSN0365-9496, S.996–997, doi:10.1002/cber.190704001148.
↑Alexander Senning: Elsevier's Dictionary of Chemoetymology The Whys and Whences of Chemical Nomenclature and Terminology. Elsevier, 2006, ISBN 978-0-08-048881-3, S.45 (google.de).