Hagenbecks Völkerschau der „Feuerländer“ 1881/82Hagenbecks Völkerschau der „Feuerländer“ 1881/82 (auch: „Die Wilden von den Feuerlandsinseln“) war eine Völkerschau (im heutigen Sprachgebrauch auch Menschenzoo), bei der elf Kawesqar im Sommer 1881 nach Europa verschleppt und ab Ende August zuerst in Paris und anschließend in Berlin, Stuttgart, München, Nürnberg und Zürich zur Schau gestellt wurden. Veranstalter der Schau war Carl Hagenbeck (1844–1913) aus Hamburg. Seine „Völkerausstellungen“ sorgten seit 1875 für große Aufmerksamkeit und zogen Hunderttausende zahlender Besucher an. Wissenschaftler wie die Mediziner Rudolf Virchow und Theodor von Bischoff zeigten großes Interesse an der Völkerschau, galten die „Feuerländer“ doch im rassistischen Denken des 19. Jahrhunderts als „Urmenschen“ auf der untersten Stufe der „Rassenhierarchie“. Sie wurden als „Wilde“ und „Kannibalen“ stigmatisiert und deshalb besonders abschätzig beschrieben und behandelt. Im Verlauf der Völkerschau starben sechs Mitglieder der Gruppe an verschiedenen Infektionskrankheiten, weshalb Hagenbeck die Schau im März 1882 vorzeitig beendete. Auf der Rückreise nach Chile verstarb eine weitere Person. Herkunft der KawesqarDie Kawesqar sind ein indigenes Volk im Süden Chiles. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten sie als Wassernomaden in der Insellandschaft des südwestlichen Patagoniens. Das Siedlungsgebiet der Kawesqar erstreckte sich an der Pazifikküste über 800 km vom Golf von Penas bis zum Canal Cockburn auf Höhe der Magellanstraße. Ihre Zahl wird für das Ende des 18. Jahrhunderts auf etwa 4000 geschätzt. Im Zuge der Invasion und Besiedlung des südlichen Chiles seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die meisten Kawesqar teils durch eingeschleppte Infektionskrankheiten, teils durch gewaltsame Eroberungen getötet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden noch etwa 500 und 1971 nur noch 47 Kawesqar gezählt. Bei der Volkszählung im Jahr 2002 ließen sich etwa 2600 Chilenen als Kawesqar registrieren.[1] VorgeschichteBereits 1878 gab es einen ersten Versuch des Hamburger Tierhändlers Carl Hagenbeck, eine Gruppe von sechs „Feuerländern“ nach Europa zu holen. Hagenbeck hatte 1874 in St. Pauli seinen ersten „Thiergarten“ eröffnet und führte dort seit September 1875 Völkerschauen durch, die sich aufgrund der hohen Besucherzahlen als lukratives Geschäft erwiesen.[2] Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits sieben Völkerschauen veranstaltet (zwei mit Samen, drei mit Nubiern sowie jeweils eine mit Eskimos und Hindus[3]). Er versprach sich von den seinerzeit als „Kannibalen“ stigmatisierten „Feuerländern“ besonders hohe Besucherzahlen. Unterstützt in seinem Vorhaben wurde er dabei vom Mediziner und Anatomen Rudolf Virchow, der maßgeblich auf Hagenbeck eingewirkt hatte, „Urmenschen“ von der Südspitze Südamerikas in Berlin untersuchen und vermessen zu können.[4] Am 7. März 1878 traf ein Kutter mit einer Familie von sechs Kawesqar, die auf Betreiben Hagenbecks und im Auftrag des deutschen Einwanderers Johann Wilhelm Wahlen von einem Seehundjäger entführt worden waren, in der Hafenstadt Punta Arenas ein.[4] Wahlen wandte sich an den dortigen chilenischen Gouverneur Carlos Wood Arrelano. Er wolle die Familie der Kawesqar im Auftrag der von Virchow geleiteten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte ins Deutsche Reich ausführen. Der Gouverneur verweigerte die Ausreise, „da dieses Vorgehen meines Erachtens gegen die Staatsverfassung verstößt, da die Feuerländer, um die es hier geht, aus ihrer Heimat herausgerissen würden, ohne dass es möglich wäre, ihnen den Zweck und die Dauer ihrer Reise zu erklären.“[5] In den folgenden Monaten entwickelte sich eine diplomatische Auseinandersetzung zwischen deutschen und chilenischen Behörden um die Ausreise indigener Menschen. 1879 erreichte Virchow, dass Otto von Bismarck sich an die chilenische Regierung wandte, ihr „Mittheilung davon zu machen, daß den auf Vorführung von Rassentypen gerichteten Hagenbeck’schen Unternehmungen Seitens der deutschen Gelehrten ein hoher Werth beigemessen wird“.[6] Der chilenische Außenminister stimmte schließlich der Überführung indigener Menschen unter der Bedingung zu, dass sie der Reise nach Europa und der Teilnahme an Völkerschauen freiwillig zustimmen.[7] Im Frühjahr 1879 gelang es Hagenbeck erstmals, indigene Menschen aus Südamerika in Hamburg und Dresden zur Schau zu stellen. Hagenbeck konnte offenbar legal eine dreiköpfige Aonikenk-Familie aus Patagonien anwerben, deren Vater zumindest ansatzweise Spanisch sprach und dem Vorhaben zustimmte. Hagenbeck musste die Völkerschau aufgrund der depressiven Erkrankung des Vaters nach zwei Monaten frühzeitig abbrechen.[8] Verlauf der VölkerschauVerschleppung nach Europa1881 startete Hagenbeck nach dem gescheiterten Entführungsversuch von 1878 einen zweiten Anlauf, eine Gruppe von „Feuerländern“ ins Deutsche Reich zu holen. Er ließ in der Presse verlauten, Kapitän G. Schweers des Dampfschiffs Theben habe eine Gruppe von elf „Feuerländern“ in Südamerika in Seenot gerettet.[9] In der bislang ausführlichsten Darstellung über Hagenbecks Völkerschauen von Südamerikanern „Entführt, verspottet und gestorben“ von 1996 diskutiert Gabriele Eissenberger die Umstände der Verbringung der Kawesqar nach Europa und kommt aufgrund verschiedener Ungereimtheiten zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Rettung, sondern um eine bewusste Verschleppung oder Entführung gehandelt haben muss.[10] Hagenbeck habe seinen Agenten Johan Adrian Jacobsen beauftragt, die Kawesqar in Feuerland zu verschleppen und an Schweers zu übergeben. Jacobsen wiederum beauftragte einen Seehundjäger, der die Gruppe unter ungeklärten Umständen auf seinen Kutter nahm.[11] Die Übergabe der Kawesqar auf die Theben erfolgte am 10. Juli 1881 auf See. Die für die Völkerschau eingestellten Wärter waren bereits mitgereist. Schweers vermied Punta Arenas als Übergabeort offenbar ganz bewusst, um einen Kontakt mit den chilenischen Behörden zu umgehen. Weil niemand die Sprache der Kawesqar übersetzen konnte, schien es aussichtslos, eine legale Zustimmung für die Ausreise einzuholen. Stattdessen brachte Schweers sie direkt nach Hamburg als den „nächsten Hafen“ nach ihrer vermeintlichen Rettung.[11] Die Theben erreichte am 16. August Le Havre und am 19. August Hamburg, wo die Gruppe von Bord ging. Hagenbeck handelte mit dem dortigen chilenischen Konsul aus, dass die Gruppe zur „Erstattung der entstandenen Reisekosten“ ein Jahr in Europa ausgestellt werden dürfe.[9] Gruppe der elf KawesqarDie Gruppe der elf Kawesqar bestand aus vier Frauen, vier Männern und drei Kindern im Alter zwischen drei und vier Jahren. Sie führten keine eigenen, sondern die Namen, die sich Kapitän Schweers auf der Schiffsreise für sie ausgedacht hatte: „Herr und Frau ‚Capitano‘“ (beide etwa 40 Jahre alt), „Grete“ (etwa 20 Jahre), „Liese“ (etwa 18 Jahre), „Antonio“ (etwa 40 Jahre), „Henrico“ (etwa 18 Jahre), „Pedro“ (etwa 18 Jahre) und „Trine“ (gelegentlich auch „Lina“ genannt, etwa 20 Jahre alt). Zwei der Kinder wurden „Frosch“ und „Dickkopf“ genannt. Der Name des dritten, zweijährigen Kindes, das bereits in Paris verstarb, ist nicht bekannt. „Grete“ war offenbar die Mutter von „Dickkopf“ und „Antonio“ der Vater von „Henrico“. Ansonsten werden die verwandtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Gruppe in den Quellen teils ungenau und widersprüchlich angegeben.[12] Stationen der VölkerschauDie Völkerschau der „Feuerländer“ machte zwischen August 1881 und März 1882 in sechs Städten Station, wobei die Ausstellungsorte variierten: In Paris, Berlin und Stuttgart wurde die Gruppe in Zoogehegen ausgestellt, in München, Nürnberg und Zürich jahreszeitlich bedingt in Innenräumen. Während der Völkerschau wurden die Kawesqar von einer Gruppe von Wärtern bewacht, die von Carl Terne aus Dresden angeführt wurde.[9] Terne hielt während der Schauen zahlreiche Vorträge, lancierte Pressemeldungen und organisierte Sondertermine für Prominente oder Wissenschaftler.[13] In Berlin und München wurde die Gruppe auch während öffentlicher wissenschaftlicher Vorträge vorgeführt (siehe den Abschnitt Wissenschaftliche Untersuchungen an den „Feuerländern“). ParisErste Station der siebenmonatigen Tournee war in Paris der Jardin d’Acclimatation, eine Mischung aus Zoo und Vergnügungspark, dessen Direktor Albert Geoffroy Saint-Hilaire eng mit Hagenbeck zusammenarbeitete. Die Zahl der Zuschauer zwischen Ende August und Mitte Oktober gab Hagenbeck mit einer halben Million und die Einnahmen mit 150.000 Franc an.[14] Unter den Besuchern habe sich auch Charles Darwin befunden.[15] Die Kawesqar wurden dort in einem umzäunten Gehege vor einer kargen Kulisse mit einer einfachen Hütte zur Schau gestellt.[16] Hagenbeck verzichtete auf jegliche Inszenierung durch besondere Kulissen oder Tiere, um so den Eindruck vermeintlicher Primitivität der „Feuerländer“ zu verstärken.[17] Wie Heinrich Leutemann berichtete, mussten „den Leuten erst Badehosen verabreicht werden, da sie mit ihren Fellmänteln, der alleinigen Bekleidung, nicht vorzeigefähig waren“.[18] In Paris verstarb das Kind mit unbekanntem Namen, wobei die Todesursache nicht überliefert ist.[19] BerlinVon Paris fuhren die „Feuerländer“ im Güterwaggon nach Berlin[19], wo sie vom 20. Oktober bis zum 5. Dezember im (1896 abgerissenen) Straußenhaus des Zoologischen Gartens zur Schau gestellt wurden.[20] Unter der Woche besuchten vor allem Schulklassen die Völkerschau, an den Wochenenden herrschte ein großer Besucherandrang.[21] Das Gedränge vor dem Gehege der Feuerländer war so groß, dass die Umzäunung durchbrochen wurde und Sitzbänke zusammenbrachen.[22] Aufgrund des großen Besucherandrangs sind auch Ausschreitungen überliefert:
Aus Berlin sind auch Zeitungsberichte überliefert, die deutlich machen, dass sich die Kawesqar über das Publikum lustig zu machen versuchten: „Große Heiterkeit rief vorgestern der alte Antonio hervor. Seine Nase zierte ein eleganter Klemmer, weiße Glacéhandschuhe verhüllten seine braunen Hände; so ausgeputzt stolzierte er, selbst vom Capitano mit neidischen Blicken betrachtet, einher“.[24] Aufgrund der hohen Besucherzahlen erwies sich die Völkerschau für den Zoo als großer finanzieller Erfolg; so heißt es im Vorstandsprotokoll vom 8. Januar 1882, an den Mehreinnahmen des Zoos im Geschäftsjahr 1881 habe „die Ausstellung der Feuerländer den erheblichsten Antheil“.[25] Fünf der erwachsenen Kawesqar erkrankten während des Aufenthalts in Berlin an Atemwegserkrankungen. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass die Gruppe im beheizten Straußenhaus übernachtete, sich morgens aber in einem zeitweilig zugefrorenen See badete und sich dann tagsüber „nur mit Guanakofellen bekleidet“[26] im Freien aufhielt. StuttgartIn Stuttgart machte die Schau vom 8. bis zum 30. Dezember in Nill’s Zoologischem Garten Station.[27] Die Presse berichtete, dass für sie ein Weihnachtsbaum aufgestellt wurde, mit „gerupften und ungerupften Hühnern behängt, die von den Pescheräh's in ihrer gewohnten Weise halbverbrannt und halbgeröstet verzehrt wurden“.[28] Der Württembergische König Karl und weiteren Mitgliedern des königlichen Hofes stattete der Gruppe einen Besuch ab und überreichte einige Geschenke.[29] MünchenIn München wurden die Kawesqar vom 1. Januar bis zum 3. Februar 1882 in einer geschlossenen Schaubude mit Besuchergalerien in der Zweibrückenstraße ausgestellt. In der Mitte des Raums befand sich die Bühne und eine Hütte aus Tannenzweigen, in der die Gruppe übernachtete. Außerdem wurden Waffen und Alltagsgegenstände im Eingangsbereich ausgestellt.[30] NürnbergAnschließend machte die Schau vom 4. bis zum 16. Februar in Nürnberg Station, wo sie in einem Gebäude im Rosenaupark zur Schau gestellt wurden.[31] ZürichDie letzte Station der Schau war ab dem 17. Februar in Zürich. Der Wirt des privat betriebenen Plattentheaters Josef Grüninger hatte eine Arena für die Völkerschau aufgebaut, in der „die Fremden sich niederlassen, vor aller Augen ein möglichst natürliches Leben führen“ sollten. Außerdem wollte er „‚die Wilden‘ ab und zu durch die Zuschauerreihen bugsieren, so dass alle im Saal sie von vorn und hinten betrachten und auch berühren könnten“.[32] Doch die Gruppe der Kawesqar war von den vorherigen Stationen der Tournee von Krankheiten gezeichnet und entkräftet. „Grete“ starb auf dem Weg nach Zürich, und „Henrico“ wurde mit starkem Fieber ins Krankenhaus gebracht. Trotz des Todesfalls wurden die anderen, auch „Gretes“ Kind „Dickkopf“, unverzüglich nach ihrer Ankunft auf die Bühne geschickt. Bei den Gruppenmitgliedern wurden sowohl Tuberkulose, Masern als auch Lungenentzündungen diagnostiziert. Der Zürcher Arzt Johannes Seitz, der aufgrund der schweren Erkrankungen den Veranstalter drängte, die Schau zu unterbrechen, stellte außerdem bei „Henrico“, „Liese“ und „Trine“ eine Syphilis-Infektion fest,[33] die sich „Trine“ vermutlich in München im sexuellen Kontakt zu den Wärtern zugezogen hatte.[34] Hagenbeck, der bereits seit dem 20. Februar über die Erkrankungen informiert war, ließ die Schau zunächst weiterlaufen, obwohl inzwischen offenkundig auch eine Ansteckungsgefahr für das Publikum bestand.[35] „Henrico“ starb am 28. Februar, „Liese“ am 11. März und „Frau Capitano“ und ihr Mann einen Tag später.[36] Die vier Leichen wurden in der Zürcher Anatomie von verschiedenen Professoren seziert. Die präparierten Geschlechtsorgane von „Liese“ wurden zu Professor Theodor von Bischoff nach München verschickt.[37] Rückreise der ÜberlebendenNach den Todesfällen brach Hagenbeck die Schau ab und ließ die fünf Überlebenden am 23. März nach Antwerpen bringen, von wo aus sie ihre Rückreise antreten sollten. Zuvor habe er sie noch „reich beschenkt“.[38] „Antonio“ starb während der Überfahrt, „Trine“ war bei der Ankunft schwer krank. Nur „Pedro“ und die beiden Kinder kehrten „leidlich gesund“ in ihre Heimat zurück.[35] Erst im Januar 1881 waren bei Hagenbecks Völkerschau der „Eskimos“ alle acht Inuit an Pocken gestorben. Nach den erneuten Todesfällen in Zürich schrieb er an Jacobsen: „Es sind mir […] innerhalb dieser letzten 3 Wochen 5 von meinen guten armen Feuerländern gestorben. […] Sie wissen, daß ich ein Menschenfreund bin […] und habe ich jetzt auch noch hin und wieder nicht allzu Erfreuliches in den Zeitungen darüber zu lesen, so daß ich mir fest vorgenommen habe, nie mehr Menschen-Ausstellungen zu arrangieren“.[35] Tatsächlich setzte er die Völkerschauen nur für wenige Monate aus. Zeitgenössische Wahrnehmung der „Feuerländer“ und Rezeption der VölkerschauCharakterisierung als „Urmenschen“Nach Anne Dreesbach rückte die Völkerschau der „Feuerländer“ deren „angenommene niedrige Kulturstufe in den Mittelpunkt“.[39] Charles Darwin hatte die Kawesqar bereits in den 1830er Jahren als „die erbärmlichsten und elendsten Geschöpfe, die ich je irgendwo gesehen habe“ und als „Kannibalen“ bezeichnet.[40] In seiner Biografie über Carl Hagenbeck schrieb Wilhelm Fischer 1896 über die Feuerländer, sie wären „Naturmenschen oder Wilde im vollsten Sinne des Worts“. Heinrich Leutemann bemerkte:
Der Historiker Helmut Zedelmaier stellt in seinem Aufsatz „Die ungeheure Neugierde der Zivilisierten“ von 2003 fest, dass sich im Verlauf der Tournee in der Wahrnehmung der „Feuerländer“ ein Wandel vollzog. Wurden sie in Berlin noch als „besonders primitives, hässliches, schmutziges und dummes Naturvolk vorgestellt“,[42] berichtete die Presse in München positiver über die Gruppe. Ihnen wurden Zivilisierungspotenziale zugeschrieben, sie wären „lernfähige ‚Wilde‘“.[42] Besonders die Kinder wären potenziell in der Lage, „in das europäische Leben hineinzuwachsen“.[43] Essgewohnheiten und vermeintlicher KannibalismusDas Hauptaugenmerk in den Presseberichten galt den Essgewohnheiten der Gruppe und ihrem vermeintlichen Kannibalismus. Das Stereotyp der fleischverzehrenden und dabei gierigen Feuerländer kommt auch auf den Werbeplakaten der Völkerschau zum Ausdruck. Das Stuttgarter Neue Tagblatt kündigte die Gruppe im Dezember 1881 an: „Die Feuerländer im Allgemeinen stehen auf der allerniedersten Kulturstufe und sind – sagen wir es gleich – von Haus aus und unbestritten Menschenfresser, Darwin sagt: durchaus Teufeln ähnlich.“[44] Im Oktober 1881 hatte zuvor die Norddeutsche Allgemeine Zeitung berichtet:
Ähnlich äußerte sich die Neue Zürcher Zeitung – obschon der Tod von „Grete“ gerade erst zehn Tage zurücklag der Großteil der Gruppe schwer erkrankt war:
Häufig wurden außerdem die Essgewohnheiten thematisiert. Die zweimal täglich beworbenen Mahlzeiten wurden auf den Werbeplakaten ausgewiesen und wurden als Höhepunkt der Völkerschau inszeniert. Das primitive Leben der Feuerländer drehe sich demnach ausschließlich „um die Nahrungsbeschaffung und die Nahrungsaufnahme“.[47] Bei den Mahlzeiten wurden ihnen große Mengen an Fleisch angeboten, deren Mengenangaben in der Presse offenbar übertrieben wurden:
Das Essverhalten wurde häufig mit dem von Tieren verglichen:
Reaktionen auf die TodesfälleDie Schweizer Presse zeigte sich anteilslos über die Todesfälle in Zürich: „Die armen Feuerländer sind alle krank geworden. Zwei oder drei sind gestorben. Der Unternehmer ist verpflichtet, die Leute wieder in die Heimat zurückzubringen, vielleicht enthebt ihn der Tod der Übrigen von dieser Pflicht“.[50] Und Der Landbote kommentierte:
Kritik an der VölkerschauKritik an der Zurschaustellung der Kawesqar gab es selten, wie etwa in diesem Kommentar der Zeitung Der Weinländer vom 4. März 1882:
Auch die Frage der unrechtmäßigen Verschleppung der Kawesqar beschäftigte die Öffentlichkeit. In der in Stuttgart erscheinenden „Deutschen Montags-Zeitung“ fragte der Autor G. Stamm:
Wissenschaftliche Untersuchungen an den „Feuerländern“An drei Stationen der Völkerschau – in Paris, Berlin und München – wurden biologisch-anthropologische Untersuchungen, insbesondere anatomische Vermessungen an den Feuerländern vorgenommen. In Paris suchten Mitglieder der dortigen Société d’anthropologie de Paris unter Leitung von Léonce Manouvrier die Gruppe insgesamt fünf Mal auf.[52] Der Anatom und Anthropologe Rudolf Virchow nahm in Berlin Untersuchungen an den Kawesqar vor und stellte sie am 14. November 1881 der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im Saal des Zoologischen Gartens als eine „Rasse“ auf der „untersten Stufe“ vor.[53] Über den vermeintlichen Kannibalismus äußerte er: „Wie weit ihre Neigung zur Anthropophagie geht, von der viel erzählt worden ist, muss ich dahin gestellt sein lassen“.[54] Während der Versammlung äußerte er den Satz: „Leider fehlt es gar sehr an Feuerland-Schädeln“.[55] Virchow hatte seit den 1870er Jahren seinen Forschungsschwerpunkt auf die Anthropometrie verlagert und hierfür eine große Sammlung von Skeletten und Schädeln verschiedener „Rassetypen“ angelegt.[56] In München wurde die Gruppe bei einer Sitzung der dortigen Akademie der Wissenschaften im Liebig-Hörsaal auf das Podium gestellt, während verschiedene Experten Vorträge hielten. Der Zoologe Friedrich Ratzel äußerte sich zur kargen Landschaft Patagoniens: „Durch solche Zustände wird dann wohl der Kannibalismus erklärlich, haben ja doch auch schon hochzivilisierte Völker in Zeiten großer Hungernoth das Fleisch ihrer gestorbenen Mitmenschen verzehrt“.[57] Der an der Erforschung weiblicher Geschlechtsorgane interessierte Anatom Theodor von Bischoff berichtete über die Untersuchung der Frauen:
Theodor von Bischoff konnte erst nach dem Tod der Kawesqar-Frauen In Zürich seine zuvor an deren Widerstand gescheiterten Untersuchungen der weiblichen Geschlechtsorgane vornehmen, die ihm vom Zürcher Mediziner Rudolf Martin als Präparat zugesandt wurden.[59] Rudolf Martin untersuchte die fünf Leichen und Skelette der in Zürich verstorben „Feuerländer“ eingehend und „gründete auf ihren Überresten eine glänzende Karriere“[59]. Rückführung der Skelette 2010Auf Betreiben chilenischer Forschender und des Filmemachers Hans Mülchi wurden 2010 die Skelette der fünf in Zürich verstorbenen Kawesqar, die im dortigen Anthropologischen Institut lagerten, nach Chile überführt.[60] An der als Staatsakt gefeierten Rückführung nahm auch die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet teil. Die Särge wurden anschließend in der Heimat der Kawesqar an einem geheim gehaltenen Ort bestattet.[61] RezeptionForschungsstandDie Völkerschau der „Feuerländer“ hat zuerst Gabriele Eissenberger 1993 in ihrer Magisterarbeit[62] umfassend dargestellt, die 1996 unter dem Titel Entführt, verspottet und gestorben – Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos veröffentlicht wurde. Rea Brändle, Anne Dreesbach, Nigel Rothfels und Helmut Zedelmaier haben einige Ergänzungen beigetragen. Beurteilung der Völkerschau der „Feuerländer“ in der ForschungGabriele Eissenberger erklärt die Besonderheit der Völkerschau: „Die Patagonier und die Feuerländer waren in der Vorstellung der europäischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts unter den existierenden Menschengruppen das denkbar Fremdeste. […] Alle Schilderungen von Reisenden und Beschreibungen von Wissenschaftlern stimmten in der Beurteilung der Feuerländer überein, daß sie die am niedrigsten stehende Menschengattung seien“.[63] Helmut Zedelmaier stellte in seinem Aufsatz von 2003 fest, dass die Völkerschau der „Feuerländer“ in „vielem nicht typisch“ gewesen sei, dennoch mache gerade diese Schau die „radikale Weise, mit der das Publikum von ihnen Besitz ergriff, die Motive sowie die Mechanismen besonders deutlich, die die ausgestellten Ethnien zum Objekt der zivilisierten Neugierde machte“.[64] Ein wichtiger Grund hierfür sei die Sprachbarriere: „Die völlig unverständliche Sprache war eine ideale Projektionsfläche, die mit allem besetzt werden konnte, was an Wissen über exotische, wilde Völker zirkulierte“.[64] Ausstellung2023 gab es in Zürich eine Zusammenarbeit der gemeinnützigen Organisation Fundación Pueblo Kawésqar mit dem Völkerkundemuseum der Universität Zürich.[65] Eine Delegation der Kawesqar konzipierte die Ausstellung „Ko Aswál – The Next Day“ und nahm dabei auch Bezug auf die Völkerschau von 1882.[66] Dokumentarfilme
Siehe auch
Literatur
Zeitgenössische Literatur
WeblinksCommons: Völkerschau – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Feuerländer in Berlin – Quellen und Volltexte
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Einzelnachweise
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