Die kahle SängerinDie kahle Sängerin (französischer Originaltitel La Cantatrice chauve) ist ein Theaterstück von Eugène Ionesco. Die Uraufführung fand am 11. Mai 1950 im Théâtre des Noctambules in Paris unter der Regie von Nicolas Bataille statt. Seit 1957 steht es täglich auf dem Spielplan des Théâtre de la Huchette, das Die kahle Sängerin zusammen mit Die Unterrichtsstunde bis heute mehr als 20.000 Mal gezeigt und für seine Doppelvorstellung den Molière Theaterpreis erhalten hat. In seinen verschiedenen Interpretationen gehört das Anti-Stück, so sein Untertitel, in Frankreich damit zu den am häufigsten aufgeführten Beispielen des Absurden Theaters. Auch im deutschen Sprachraum erfreut es sich großer Beliebtheit, besonders – nicht zuletzt seines geringen personellen Aufwands wegen – bei experimentierfreudigen Studenten-, Keller- und Zimmertheatern, die mit kleinen Ensembles auskommen müssen. Inhalt(Die Seitenzahlenangaben in den folgenden Abschnitten beziehen sich auf die dtv-Ausgabe.) Die spärliche Handlung der 11 Szenen des Stückes ist schnell erzählt: In der Nähe von London (30) sitzen Mr. und Mrs. Smith, ein gutbürgerliches britisches Ehepaar, abends am heimischen Kaminfeuer, lesen, schweigen, langweilen sich, versuchen es mit etwas small talk, hänseln und streiten sich um Bagatellen, versöhnen sich wieder. Sie wollen sich gerade ein kleines Nickerchen gönnen, als ihr Dienstmädchen Mary erscheint und zwei Gäste ankündigt, Mr. und Mrs. Martin. Der Feuerwehrhauptmann will gehen, wird aber, obwohl er inzwischen alle anödet, genötigt, noch eine letzte Geschichte zu erzählen: „Der Schnupfen“, ein völlig verwirrend kommentierter Familienstammbaum. Bevor er sie zur Klärung noch ein zweites Mal erzählen kann, betritt das Dienstmädchen Mary das Wohnzimmer und maßt sich an, ebenfalls eine Anekdote erzählen zu wollen. Die allgemeine Empörung legt sich erst, als sich Mary plötzlich dem Feuerwehrhauptmann an den Hals wirft und sich herausstellt, dass die beiden einst ineinander verliebt waren. Während Mary ihrer feurigen Jugendliebe zu Ehren ein wahrhaft feuriges Gedicht („Das Feuer“) abfeuert, wird sie unsanft vom Hausherrn „aus dem Zimmer gestoßen“ (31). – Der Feuerwehrhauptmann verabschiedet sich, nicht ohne sich beim Hinausgehen noch nach der „Kahlen Sängerin“ zu erkundigen. Allgemeines betretenes Schweigen. Dann Mrs. Smith: “Sie trägt immer noch die gleiche Frisur!” (32) DeutungIonesco war sehr erstaunt, dass die Zuschauer über sein Stück lachten. Dabei war es von ihm doch tragisch gemeint, als „la tragédie du langage“.[1] Seine Figuren überdecken mit ihrem Gerede nur die zwischen ihnen herrschende Gedankenlosigkeit und Langeweile. Sie sind Opfer ihrer Sprache, Gefangene im Alltagsgeschwätz, das ihre innere Leere und Einsamkeit dokumentiert und die Banalität und Oberflächlichkeit ihrer Welt offenbart. „Die Smiths, die Martins können nicht mehr miteinander reden, weil sie nicht mehr denken können; sie können nicht mehr denken, weil sie nichts mehr bewegen kann, weil sie keine Leidenschaften mehr empfinden; sie können nicht mehr sein, sie können irgend jemand, irgend etwas werden; da sie ihre eigene Identität verloren haben, sind sie immer nur die anderen […] sie sind vertauschbar.“[2] Ionesco will kein Mitleid mit diesen Marionetten erwecken. Im Gegenteil, er attackiert ihre mangelnde Individualität, ihren automatenhaften Konformismus, ihre sich hinter leeren Sprachhülsen verschanzende Kleinbürgerlichkeit und führt sie ad absurdum. Was der Zuschauer als das Komische und Surreale an dem Stück empfindet, ist nach Ionesco im Grunde nur das durch nichts mehr verbrämte Reale, die Wirklichkeit der orientierungslosen Nachkriegsgesellschaft. „Die Menschen in Die kahle Sängerin haben keinen Hunger, keine Sehnsucht, deren sie sich bewusst wären; sie langweilen sich zu Tode. Sie fühlen das auch vage, deshalb erfolgt am Ende die Explosion – die aber völlig nutzlos ist, da sowohl die Charaktere als auch die Situationen statisch und vertauschbar sind und da alles dort endet, wo es begann.“[3] – Der Schluss des Stücks war allerdings ursprünglich ganz anders geplant (s. u. „Entstehungsgeschichte“). EntstehungsgeschichteDie Idee zu dem Stück kam Ionesco, als er Englisch nach der Assimil-Methode lernte, dazu deren bekanntes Lehrbuch L'anglais sans peine („Englisch ohne Mühe“) benutzte und sich über dessen tautologische Dialoge wunderte. Da wurde beispielsweise festgehalten, dass die Woche sieben Tage habe, dass der Fußboden unten, die Decke oben sei. Als die Lektionen anspruchsvoller wurden, tauchte ein Ehepaar auf, Mr. und Mrs. Smith, die sich gegenseitig darüber informierten, wie sie hießen, seit wann sie schon verheiratet waren, wie viele Kinder sie hatten, wo sie wohnten und dass sie ein Dienstmädchen namens Mary besaßen. Später stieß noch ein befreundetes zweites Ehepaar dazu, die Martins, mit denen man seine Erfahrungen austauschen und sich Weisheiten teilen konnte wie: „Auf dem Lande ist es ruhiger als in der Stadt.“[4] Ionesco übernahm die Namen der Figuren und viele ihrer Gemeinplätze und komponierte daraus ein Theaterstück, das die Klischees allmählich parodistischer werden und bis zum bloßen Gestammel entarten lässt. Zuerst wollte er seinem „Anti-Stück“ den Titel seines Lehrbuchs, L’anglais sans peine, geben, besann sich später jedoch und modifizierte ihn zu L’heure anglaise. Auch der Name Big Ben Follies stand vorübergehend zur Debatte. Als dann aber bei einer der Proben der Darsteller des Feuerwehrhauptmanns seinen Text vergessen hatte und statt institutrice blonde (blonde Dozentin) versehentlich cantatrice chauve (kahle Sängerin) sagte,[5] war der endgültige Titel geboren – nicht obwohl er nur ein Versprecher war und nicht obwohl eine kahle Sängerin bis dahin an keiner Stelle des Stückes erwähnt wurde, sondern gerade weil er nur ein Versprecher war und somit einer der zentralen Intentionen Ionescos entsprach, der Darstellung alltäglicher Missverständnisse und Truismen. Fast ebenso zufällig wie der Titel entstand auch der Schluss des Stückes. Ursprünglich sollten im Anschluss an den letzten Streit der beiden Ehepaare einige im Zuschauerraum platzierte Statisten mit Buh-Rufen und Protestgebrüll nach dem Theaterdirektor schreien, der dann mit mehreren bewaffneten Polizisten auftauchen würde, die das Publikum unter MG-Beschuss nehmen sollten, während der Direktor und der Polizeichef sich mit Handschlag beglückwünschten. Aber diese Lösung hätte zu viele zusätzliche Schauspieler verlangt und unnötige Mehrkosten verursacht. So schlug Ionesco eine billigere Version vor: Das Hausmädchen Mary sollte, sobald der Streit seinen Höhepunkt erreicht hatte, den Autor ankündigen, bei dessen Erscheinen die Schauspieler respektvoll zur Seite treten und klatschen sollten. Plötzlich würde dann der Autor an die Rampe treten und unvermittelt damit beginnen, das Publikum in groben Tönen zu beschimpfen. Wie Ionesco berichtet, wurde ein solcher Schluss jedoch als „zu polemisch“ verworfen.[6] Endlich beschloss man daher, auf einen Schluss ganz zu verzichten und am Ende wieder mit dem Anfang zu beginnen. Siehe auchLiteraturTextausgaben
Sekundärliteratur
Weblinks
Einzelnachweise
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