Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der MusikDie Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist ein Buch von Friedrich Nietzsche, das er Anfang 1872 veröffentlichte. Es war das erste bedeutende Werk Nietzsches, mit dem sich der damals 27-jährige Philologieprofessor zugleich von der wissenschaftlichen Philologie distanzierte.[1] Auf etwa 100 Buchseiten und in 25 knappen Kapiteln[2] entwickelt der Jungwissenschaftler aus seinen Studien des Griechentums, seiner Liebe zur Musik und der Wertschätzung Schopenhauers und Wagners sein kulturelles Weltbild. Er präsentiert seine Theorien von der Entstehung und dem Niedergang der griechischen Tragödie und darüber hinaus allgemeine kulturphilosophische und ästhetische Betrachtungen, die auch im 20. Jahrhundert rezipiert wurden.[1] In dem Buch „tut sich unübersehbar Wagnernähe kund“.[3] Es enthielt ein Vorwort an Richard Wagner, dem die Schrift auch gewidmet war und in dem Nietzsche damals den möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kunst und Kultur sah.[1] 1886 ließ Nietzsche eine zweite Ausgabe unter dem Titel Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus erscheinen, wobei dem Buch der „Versuch einer Selbstkritik“ vorangestellt wurde.[1] Das in der Nietzscheforschung übliche Sigel des Buches ist GT. EntstehungsgeschichteDas Buch ist eigentlich ein Kompilat von mehreren Entwürfen und Schriften, die Nietzsche ab 1869 zu Papier gebracht hatte, unter anderen die Titel: Das griechische Musikdrama; Sokrates und die griechische Tragödie; Die Dionysische Weltanschauung; Die Tragödie und die Freigeister, Die Geburt des tragischen Gedankens; – alles Aufsätze, die teilweise erst viel später im Nietzsche-Nachlass veröffentlicht wurden, im Sommer 1871 jedoch wesentliche Bestandteile seines Buches wurden. So legte Nietzsche nicht viel Wert auf die Anfertigung einer Gliederung, sondern hatte vor allem das Prinzip des „Gesamtkunstwerks“ im Auge. Der zweiten Ausgabe von 1886 gab Nietzsche ein Vorwort bei. Darin kritisiert er seinen früheren Schreibstil, aber nicht die Intention, denn er hatte mit diesem Buch eine entscheidende Weiche seines Lebens gestellt.[1] In seiner „Selbstkritik“ schrieb er 1886:
InhaltDer junge Nietzsche wollte mit seiner Darstellung die bis dahin übliche Sicht der „Klassiker“ (Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller), die Griechen seien ein heiteres und glückliches Volk gewesen, korrigieren. Er enthüllt dem Leser ein eher tragisches Lebensgefühl der Hellenen, die sich in einer Welt von dauernden Vernichtungskämpfen zur Erreichung egoistischer Ziele befanden und ihre helle Götterwelt nötig hatten, um die Düsternis und Mühsal des täglichen Daseins ertragen zu können. Ihren Ausdruck fanden sie in und mit ihren Künsten, wobei zwei ihrer olympischen Götter eine Schlüsselposition innehatten: Apollon und Dionysos. Die Grundlage des Werks sei eine fundamentalästhetische Philosophie, die Nietzsche als „ästhetische Wissenschaft“ beschreibt, welche die Ontologie und Epistemologie als erste Philosophie ablösen soll.[1] Nietzsche schreibt hierzu:
Das eigentümliche Vermögen, existentielle Erfahrungen in Phänomene der Kunst zu verwandeln, schafft eine Perspektive auf die Ausprägung von Religion und Wissenschaft als Gestaltung der Kunst aus der Optik des Lebens. Für weitere Untersuchungen ist die attische Tragödie von zentraler Bedeutung, die Nietzsche als Höhepunkt und exemplarischen daseinsbewältigenden Charakter der griechischen Kultur und Kunst sah.[1] Versuch einer SelbstkritikGanz durch seine Vorbilder Wagner und Schopenhauer beeinflusst, beschreibt der Altphilologe das menschliche Leben als einen Traum, aus dem nach einem „dionysischen Erwachen“ sich ein neuer Mensch offenbart:
Die Theorien und Ideen Nietzsches wurden verschieden aufgenommen; so waren Anhänger Wagners und Schopenhauers begeistert, wogegen weitere Fachkundige das Werk kritisierten.[1] In Anlehnung an die Kritik der Fachwelt schrieb Nietzsche:
Kapitel 1–6Ausdruck fanden die Griechen in ihren Künsten, wobei zwei ihrer olympischen Götter eine Schlüsselposition innehatten: Apollon und Dionysos.[1] Nietzsche sieht zwei wichtige Pole im griechischen Leben, das Dionysische und das Apollinische, nicht als Kunstvermögen eines fixen und abstrakten Gegensatzes, eher als produktive Interaktion eines Vermögens, das bereits als Duplizität beginnt. Das Dionysische, Rauschhafte und Naturhafte (Expressionistische) ist der bis zur Zügellosigkeit sich zeigende Urwille, wie er sich auch in der Musik ausdrückt. Das Apollinische ist die gestaltende (klassische) Kraft der Harmonie und der schönen Künste. Maßvoll begrenzt ist das Apollinische stellvertretend für durch Strukturen etablierte und stabilisierte Erfahrungs- und Gestaltungsprozesse.[1] Im Zusammenwirken der beiden Antipoden erkennt Nietzsche die menschliche Lebenssituation an sich:
Dem gegenüber ist nicht etwa das Dionysische als ein ins Amorphe und Grenzenlose führender Übergang, sondern ein ekstatisches, aus dieser Form ausgehendes Moment, das entgrenzend auf entsprechende Modi der Erfahrung wirkt und Möglichkeiten neuer unbekannter Ausdrucksformen bietet.[1] Statt Helden (in Masken) sei nun „das Volk“ auf die Bühne gekommen, statt ritueller „Feier“ habe es Komödien zur Unterhaltung gegeben. Und ähnlich wie zuvor Richard Wagner in seinen Zürcher Kunstschriften Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und Drama geißelt Nietzsche die Entartung der einst edlen griechischen Kunst und Kultur bis hin zu den vergeblichen Wiederbelebungsversuchen in der Renaissance, die nur zu einer „opernhaften Imitation“ der griechischen Tragödien geführte habe, und beklagt – ähnlich wie Schopenhauer – die Verarmung der abendländischen Kunst durch eine rein wissenschaftlich bestimmte Weltsicht:
Kapitel 7–10Eingebettet in die spekulative Gesamtbilanz deutet Nietzsche die griechische Tragödie als eine aus einer apollinischen Zivilisierung entstandene Kultur gewaltsamen titanischen Ursprungs. Trotz Einführung des lebensnotwendigen olympischen Pantheons als apollinische Kultur sowie der Schrecken ihres Daseins gelang es ihnen, ihre Kultur ein weiteres Mal gegen die Bedrohung des Chaos der dionysischen Erfahrung auszusetzen. Der unbekannte Dionysoskult prägte dank seiner integrativen Revolution den markanten Charakter der griechischen Kultur. Eine klassische textorientierte Dramentheorie, die seit Aristoteles gängig war, widersprach einer das Tragische als spezifizierten Einfall rekonstruierenden Interpretationsästhetik. Nietzsche rehabilitiert die klassische griechische Tragödie mit präzisierter Perspektive auf multimediale Handlungen mit dem dionysischen Chor im Schwerpunkt, wodurch Dionysos’ Leiden über Symbolik und Ekstase rituell reproduziert wird. Über die Grenzen der Synästhesie hinaus verzückt das Publikum analog durch die tragische Aufgabe des Individuums. Nietzsche nennt diese Versinnlichung des eigenen Selbstverständnisses „dionysische Weisheit“. Der Chor mit Musik, Tanz, Mimik und Gestik vertritt den Einbruch der Natur. Nun erwirkt das mediale Gegenstück die Wiedergewinnung der apollinischen Kultur. Die Handlung und die Sprache einer dramatischen Inszenierung vergegenwärtigen die Loslösung des dionysischen und apollinischen Zustandes. Für Nietzsche herrscht hier das Phänomen der Tragik.[1] Kapitel 11–17Sokrates’ logischer Optimismus, gekoppelt mit mythenschaffender Kompetenz und dem Untergang der Tragödie sowie den irrtümlich von Sokrates inspirierten Werken des Euripides, bildet den Tenor dieser Kapitel. Euripides’ Produktionen sind vernunftgeleitete, nachahmungsorientierte und psychologisierte Funktionen (ästhetischer Sokratismus). Verwendet wird die Theorie des kritisch historischen Geistes an Stelle der affektiven Teilnahme und Symbolen der Mystik, der aufgrund der Distanzierungsleistungen markante Eigenschaften genommen werden. In Europa, so Nietzsche, bestünde eine Veränderung der Kulturformen. Die ursprüngliche Symbolik ästhetischen Bewusstseins weiche der geistorientierten Verdinglichung, was einen Rückgang ritueller Praxis zur Selbsterfahrung gegenüber dem neuen Schwerpunkt, der Konfrontation mit Texten, verursache (alexandrinische Kanonisierung).[1] Kapitel 18–25Die Kapitel 18 bis 25 behandeln die Verdrängung der kulturgeschichtlichen in die Gegenwartsdeutung. Die Oper, als Gegenstück der alexandrinischen Kultur, bildet eine Ästhetik von Wort und Tonkunst, die Nietzsche visionär in Wagners Tragödien und in mythischen Weisheiten wiederauferstanden sieht. Die Kunst ist der unabdingbare Trost vor der Tragik, die Kant und Schopenhauer mit ihren Leistungen im Gebiet der Vernunft und des Willens erarbeitet haben. Naive Tonmalereien der deutschen Musik, wie Bach und Beethoven sie in ihren Werken verwendeten, werden in Wagners Opern überwunden. Bühnen-Mythos, die Verbildlichung symphonischer Gewalt sowie den Schutz vor ihr bringt die dionysische Musik als das „Ureine“ des Willens wieder hervor (Tristan und Isolde). Musik und tragischer Mythos seien in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und voneinander untrennbar. In den Musikdramen Wagners sei dies verwirklicht und die wahre Kultur wiedergeboren, als eine aus dem Griechentum entstandene neue deutsche Kultur.[1]
Der Niedergang dieser ursprünglichen Kultur sei von Sokrates und Euripides eingeleitet worden. Sie hätten durch intellektuelle „Kultivierung“ der Tragödien die Weichen zu einer aufklärerischen, rationalen Philosophie gestellt und seien Vorreiter des „Wissenschaftsmenschen“ und somit zu Totengräbern der alten Künste geworden.[1] Es sei die dionysische Musik, die „erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die unvergleichliche Welt der Harmonie“, durch die der Mensch zur höchsten Steigerung seiner Fähigkeiten gereizt wird, so dass zuvor „Nieempfundenes sich zur Äußerung drängt“. Aus den rituellen Chortänzen und Kultliedern seien die Dithyramben und Tragödien entstanden, erläutert Nietzsche und schlussfolgert, dass somit auch die Musik ihren Ursprung in den griechischen Tragödien habe (oder umgekehrt). In Anlehnung an Schopenhauer bezeichnet er die Musik als den metaphysischen Ausdruck zum „Willen zum Leben“ und den eigentlichen Nährboden, auf dem nicht nur die Tragödien wuchsen, sondern die gesamte griechische Kultur.[1] WirkungsgeschichteMit der Geburt der Tragödie brach Nietzsche mit traditionellen altphilologischen Vorstellungen. Seine philologischen Fachkollegen schwiegen das Buch zunächst tot. Selbst Friedrich Ritschl, der Nietzsche als Philologen väterlich gefördert hatte, sandte erst nach Nietzsches drängender Nachfrage einen Brief, in dem er ihm seine grundsätzlichen Einwände mitteilte. Im privaten Kreis äußerte er sich schärfer, notierte in seinem Tagebuch Nietzsches „Größenwahnsinn“ und schrieb Wilhelm Vischer-Bilfinger:
Ähnlich dürften die meisten Philologen empfunden haben. Der erste und einzige, der die Schrift auch öffentlich tadelte, war der am Anfang seiner Karriere stehende Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff mit seiner im Mai 1872 erschienenen Streitschrift Zukunftsphilologie!:
Es ergab sich eine öffentliche Kontroverse, in der Erwin Rohde mit einer Gegenschrift Afterphilologie und Richard Wagner mit einem offenen Brief Nietzsche verteidigten. Mit einer darauf folgenden Replik Wilamowitz-Moellendorffs im Februar 1873 endete der Streit ohne Einigung. In seinen Memoiren schrieb er viel später, dass seine Schrift zwar anmaßend und knabenhaft gewesen sei, er jedoch darin recht behalten habe, dass Nietzsche nicht auf einen philologischen Lehrstuhl gehöre, sondern „Prophet […] für eine irreligiöse Religion und eine unphilosophische Philosophie“ geworden sei. Die wenigen, wohl vom aufsehenerregenden Streit veranlassten Rezensionen der Geburt fielen durchweg kritisch aus. Nietzsche verlor seine Reputation als Philologe, was sich im Einbruch der Studentenzahl bei ihm niederschlug. Für die Philologie war er „wissenschaftlich tot“. Dagegen wurde das Buch von einigen Künstlern positiv aufgenommen. Richard und Cosima Wagner waren begeistert, ebenso Hans von Bülow und, mit einigen Vorbehalten, Franz Liszt. In Künstler- und Intellektuellenkreisen hatte Nietzsches Schrift zunehmend Erfolg. Bald verselbstständigten sich allerdings die Begriffe „apollinisch“ und „dionysisch“ und wurden gebraucht wie „klassizistisch“ und „expressionistisch“. Damit ging der Wechselbezug zwischen den beiden Trieben verloren, der Nietzsche so wichtig war. Rolf Hochhuth wirft Nietzsches Darstellung vor, Wagners Projekt zuliebe die Rolle der Musik bei der Entstehung der antiken Tragödie überbetont und die Rolle der Tagespolitik trotz besseren Wissens übersehen zu haben, wie sie etwa im Fall von Milet des Phrynichos oder in den Persern des Aischylos deutlich dominiert.[11] Ausgaben
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