Martini stammte aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war Koch, seine Brüder wurden Anstreicher. Er brach die Schule ab und begann mit 13 Jahren eine Handwerkslehre. Er ließ sich zum Goldschmied und Keramiker ausbilden. 1906 und 1907 arbeitete er in der Werkstatt des Bildhauers Antonio Carlini (1859–1945) in Treviso. 1908 besuchte er die Scuola libera del nudo, einen von der Kunstakademie Venedig angebotenen Lehrgang, der keine Schulabschlüsse verlangt (daher libera – frei) und seinen Schülern aufgibt, nach der Natur zu formen (daher nudo – Akt). Sein Lehrer war Urbano Nono (1849–1925). Martini lernte an der Akademie die Arbeiten von Medardo Rosso kennen, der vergleichbare Kurse (corsi di nudo e di plastica) an der Accademia di Brera in Mailand absolviert hatte und dessen Keramikbüsten (z. B. Bambino ebreo, Bimbo malato, Ecce puer) Martini beeinflussten. 1909 traf er den Maler Gino Rossi, mit dem er lebenslang befreundet blieb, und beteiligte sich zusammen mit ihm an Ausstellungen in der Ca’ Pesaro, einem Palazzo in Venedig, der seit 1902 moderne Kunst präsentiert (Galleria internazionale d'arte moderna). Im Jahr darauf ging Martini nach München, finanziell unterstützt von einem Museumsdirektor und einem Industriellen. Dort studierte er bei Adolf von Hildebrand, der ihm die klassische „römische“ Form nahelegte, die sich beispielsweise im Verlorenen Sohn ausdrückt, Martinis Meisterwerk.[1] In München wurde er auch mit expressionistischen Werken der 1905 gegründeten Künstlergruppe Brücke bekannt. 1911 zog Martini weiter nach Paris. Dort studierte er die Plastiken Aristide Maillols[2] und präsentierte eigene Arbeiten im Salon d’Automne 1912, zusammen mit Gino Rossi, Giorgio de Chirico und Amedeo Modigliani.
Martini nahm 1914 an der (1911 gegründeten) Secessione Romana in Rom teil. 1916 diente er bei einem Artillerie-Regiment, das in Vittorio Veneto stationiert war. Er wurde nach Vado Ligure versetzt und arbeitete dort als Gießer in einer Rüstungsfabrik. 1920 stellte er in der L'Esposizione dei dissidenti di Ca'Pesaro aus (einer Ausstellung in der Galleria Geri Boralevi in Venedig, die sich vom Programm der Ca'Pesaro abkehrte). Anfang 1921 zog er nach Vado Ligure, in das Haus der Eltern seiner Frau Brigida Pessano, wo er acht Jahre blieb. In Vado Ligure erhielt er seinen ersten öffentlichen Auftrag, ein Denkmal für die Gefallenen der Stadt. 1921 schloss er sich der Künstlergruppe Valori Plastici (Werte des Figürlichen) an, die sich nach der von Mario Broglio 1918 in Rom gegründeten Kunstzeitschrift benannte. Die Gruppe befürwortete eine Abkehr vom Futurismus (den einige ihrer Mitglieder selbst gegründet oder gefördert hatten) und verlangte eine Rückkehr zum Gegenständlichen, zur klassischen Strenge. Als Beispiele zu dieser Rückkehr können Martinis Busto di fanciulla und Busto di ragazzo dienen, eine Mädchen- und eine Knabenbüste, die an Werke der Frührenaissance erinnern. Zur Gruppe Valori Plastici zählten u. a. Carlo Carrà, Giorgio de Chirico und sein Bruder Andrea de Chirico (alias Alberto Savinio). Ihr Einfluss reichte über Italien hinaus. So wurde z. B. auch Karl Hofer von ihr beeinflusst. 1921 war Martini mit mehreren Werken in der Ausstellung Das junge Italien vertreten. Sie wurde von der Nationalgalerie (Berlin) organisiert und im Kronprinzenpalais (Berlin) präsentiert (später in Hannover und Hamburg).[3]
Im Museo Nazionale Etrusco di Villa Giulia in Rom studierte Martini die Technik der etruskischen Terrakotta-Skulpturen.[4] Martini beteiligte sich 1925 an der Terza Biennale Romana und ein Jahr später erstmals an der Biennale di Venezia. 1926 schloss er sich der Bewegung Novecento Italiano an (Das italienische 20. Jahrhundert). In der Zeit seines Rom-Aufenthaltes lernte er im Künstlerdorf Anticoli Corrado den amerikanischen Maler und Bildhauer Maurice Sterne kennen. Dieser beauftragte Martini, dem es wirtschaftlich schlecht erging, ein den amerikanischen Pionieren gewidmetes Denkmal für Worcester (Massachusetts) zu entwerfen. Martini, der Sterne für einen Dilettanten hielt, übernahm den Auftrag gegen Bezahlung. Das Denkmal – Monumento ai pionieri d'America – wurde 1929 fertiggestellt.[5]
1929 erhielt Martini einen Lehrauftrag am Istituto d'Arte (auch Liceo Artistico), einer Lehreinrichtung in der Villa Reale di Monza, dem Schloss in Monza. Er blieb dort bis 1930. Im folgenden Jahr errang er den Ersten Preis für Bildhauerei auf der Prima Quadriennale di Roma. Im selben Jahr besuchte er die Ausgrabungsstätte in Pompeji. Der Einfluss dieses Besuchs macht sich in seinen Plastiken trinkender Menschen bemerkbar, denn sie ähneln den Gipsabdrücken der beim Vesuvausbruch Gestorbenen.
1932 wurde Martini ein eigener Saal auf der Biennale in Venedig zugestanden. Der Künstler hatte den Gipfel seiner Karriere erreicht. 1939 begann er zu malen. Seine Gemälde wurden 1941 in der Mailänder Galleria Barbaroux ausgestellt. 1942 erhielt er einen Ruf als Lehrer an die Kunstakademie Venedig. Martini blieb bis zum Ende des Faschismus ein beim Regime beliebter Künstler, der in Kunst-Kommissionen berufen wurde (1937 bis 1939 in Mailand) und öffentliche Aufträge erhielt, z. B. die Bronzestatue der Minerva (1935) vor dem Hauptgebäude der Sapienza, der Universität Roms, das Marmor-Relief Giustizia corporativa (1937) am Mailänder Justizpalast und die Marmor-Gruppe I benefattori – gruppo degli Sforza (1939)[6] am Mailänder Krankenhaus Ospedale Niguarda (benannt nach einem Stadtbezirk). Weitere Kolossalbildnisse, die den Faschismus hofierten, sind teils verschollen, teils nur noch in Entwürfen oder fragmentarisch erhalten, so der Ercole, ein Herkules aus Bronze, der den Faschismus verkörpert und aussieht, als wäre er ein antikes Fundstück.
Auf den Trümmern, die der Faschismus hinterlassen hatte, und im Gefühl, missbraucht worden zu sein, veröffentlichte Martini 1945 die Schrift La scultura, lingua morta (Die Bildhauerei, eine tote Sprache). So schreibt er beispielsweise: „La scultura è un'arte da negri e senza pace“ (die Bildhauerei ist eine schwarze Kunst[7] und ohne Frieden). Trotz der Bitternis über die eigene Kunst schuf er gegen Ende seines Lebens eine Marmor-Plastik, die zu den bekannten seines Œuvres gerechnet wird, den Palinuro[8], eine Hommage an den Partisanenführer Primo Visentin, genannt „Masaccio“, der kurz vor Kriegsende in Loria (Venetien) unter nicht geklärten Umständen ums Leben kam.
Martini gilt als wichtiger, wenn nicht der wichtigste Bildhauer Italiens in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Er arbeitete mit vielen Werkstoffen (Ton, Holz, Gips, Stein, speziell Marmor, Bronze, Silber) und entfernte sich nie weit von seinem Programm, dem Figürlichen, obwohl er auch abstrakt modellieren konnte, wie seine atmosfera di una testa (Kopfstimmung) von 1944 bezeugt. Er übte großen Einfluss auf italienische Bildhauer aus, z. B. Marino Marini, Emilio Greco, Marcello Mascherini und Pericle Fazzini.
Werke (Auswahl)
La prostituta (auch la puttana – die Nutte), Terrakotta, 1909–1913[9], Galleria d'Arte Moderna Ca'Pesaro, Venedig
Il figliol prodigo (der verlorene Sohn), Bronze (über 2 m), 1926, Collezione Ottolenghi, Acqui Terme
Trilogia dei re, bestehend aus den Teilen La principessa, San Giorgio e il drago und Lo sposalizio dei principi (Fürstenhochzeit), Majolika und Terrakotta, 1926 / 1927
La Nena (die Tochter des Künstlers), Terrakotta, 1928, Bronze, 1930, privat
Testa di Madonna (Madonnenkopf), Holz, 1928, privat
La Pisana[11], Stein (ca. 1,5 m), 1929, Collezione Ottolenghi, Acqui Terme
Madre folle (wahnsinnige Mutter), Terrakotta, 1929, privat
La madre (die Mutter), Holz (über 2 m), 1930, GAM, Turin
Donna al sole (Frau beim Sonnenbad), Bronze[12], 1930, MART, Rovereto
Adamo ed Eva, Stein, 1931, Museo Civico, Treviso
Il sogno (Der Traum), Terrakotta (2 m), 1931, Collezione Ottolenghi, Acqui Terme
Tobiolo (Tobias mit einem Fisch)[13], Bronze (1,25 m), 1934, Collezione Ottolenghi, Acqui Terme
Aviatore (Flieger), Terrakotta, 1931, privat
La lupa ferita (die verletzte Wölfin), Bronze, 1931, privat
L'Attesa (die Erwartung – eine nackte Frau, die aus dem Fenster schaut, von hinten gesehen), Terrakotta, 1931, privat[14]
Torso di un giovane uomo (Torso eines jungen Mannes), Terrakotta, 1931, Tate Gallery, London
Chiaro di luna (Mondschein – auf einem Balkon zwei nach oben schauende Frauen), Terrakotta, 1932, Middelheim-Museum, Antwerpen
La cavalla che allatta (Stillende Stute), Terrakotta, 1943, Museo Civico, Vicenza
Scomposizione di toro (Zerlegung des Stiers), Bronze, 1944, Collezione Rimoldi, Cortina d’Ampezzo
Atmosfera di una testa (Kopfstimmung), Bronze, 1944, Museo del Paesaggio, Verbania
Ratto d'Europa (Raub der Europa), Silber, 1946, privat
Palinuro (vgl. Palinurus, zu Ehren des Partisanenführers Primo Visentin), Marmor (2,10 m), 1946, Universität Padua
Testa di ragazza (Kopf eines Mädchens), Terrakotta, 1947, privat
Literatur
50 Ans d'Art Moderne. Ausstellungskatalog der Exposition Universelle et Internationale de Bruxelles 1958 im Palais International des Beaux-Arts, Brüssel 1958
Gino Scarpa: Colloqui con Arturo Martini. Rizzoli, Mailand 1968.
Umberto Parricchi (Hrsg.): Un paese immaginario: Anticoli Corrado. Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato, Rom 1984.
Ausstellungskatalog des Städtischen Museums Treviso, Il giovane Arturo Martini, opere dal 1905 al 1921. De Luca Edizioni d'Arte, Rom 1989.
Mario De Michell, Claudia Gian Ferrari, Giovanni Comisso (Hrsg.): Le lettere di Arturo Martini. Edizioni Charta, Mailand und Florenz 1992.
Arturo Martini: Colloqui sulla scultura 1944–1945. Treviso, 1997.
Elena Pontiggia (Hrsg.): Arturo Martini: La scultura lingua morta e altri scritti. Abscondita, Mailand 2001.
↑Martini selbst hält den Verlorenen Sohn für ein wichtiges Werk, denn er schreibt in seinen Colloqui: Figliol prodigo … e l'argomento più importante della mia vita – der verlorene Sohn ist das bedeutendste Thema meines Lebens
↑Martinis Schwimmerin unter Wasser entstand ungefähr zwei Jahre nach Maillols Fluss, die Verwandtschaft beider Werke ist unverkennbar
↑Quelle: Claudia Gian Ferrari, Gli anni venti di Arturo Martini und Valori plastici e Novecento: le due facce della medaglia
↑die Wohltäter – eine Reverenz an die berühmte Mailänder Herzogsfamilie der Sforza
↑eine Anspielung auf den Faschismus und seine Schwarzhemden
↑benannt nach dem Steuermann Palinurus im 5. Gesang der Aeneis, der ins Meer gefallen war, sich an Land retten konnte, dort aber ermordet wurde
↑die Zeitspanne deutet auf mehrere Versionen desselben Werks
↑Martinis erster öffentlicher Auftrag: eine Pyramide und je eine Bronzefigur an jeder Seite (ein Hirte, ein Soldat und zwei Frauen, darunter eine schwangere)
↑bezieht sich auf die Frauenfigur in Ippolito Nievos Roman Le confessioni d'un italiano oder postum Le confessioni di un ottuagenario (in der deutschen Übersetzung Pisana oder die Bekenntnisse eines Achtzigjährigen)
↑nach dem apokryphen Buch Tobias, in dem erzählt wird, wie Tobias zusammen mit dem Erzengel Raphael nach Medien reist und sich unterwegs vor einem Fisch ängstigt
↑angeblich hat ein Arbeiter des Ateliers Ruggero Nicoli in Carrara auf Wunsch Martinis den Kopf der Marmorschwimmerin abgehauen, wodurch der Eindruck des in Wasser eintauchenden Leibes entstanden ist, Quelle: Giandomenico Semeraro, L'Uomo di marmo, Meiattini editore, Siena 2000