Am SpiegelgrundAm Spiegelgrund war von 1940 bis 1945 eine Jugendfürsorgeanstalt auf dem Anstaltsgelände der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ (der heutigen Klinik Penzing) auf der Baumgartner Höhe in Wien. Diese teilte sich in ein Erziehungsheim und eine „Nervenheilanstalt für Kinder“, zu der auch eine sogenannte Kinderfachabteilung gehörte, in der kranke, behinderte und „nicht erziehbare“ Kinder und Jugendliche medizinischen Versuchen ausgesetzt und gequält wurden. Mindestens 789 von ihnen wurden ermordet.[1] Heute gilt der Name Am Spiegelgrund als Synonym für Verbrechen der nationalsozialistischen Medizin und „eine bedrohliche, demütigende, in vielen Fällen auch tödliche ‚Heil‘-Pädagogik“.[2] In der Zeit des NationalsozialismusAb dem Frühjahr 1938 wurde ein engmaschiges Netz an Einrichtungen zur Beobachtung, Erfassung, Bewertung, Korrektion und Selektion von Kindern und Jugendlichen, die oder deren Eltern nicht dem Menschenbild vom leistungsfähigen, anpassungsbereiten Volksgenossen entsprachen, aufgebaut. So wurden Ärzte und Hebammen reichsweit durch einen inoffiziellen Runderlass dazu aufgefordert, geistige und körperliche Auffälligkeiten bei Neugeborenen und Kindern an die Gesundheitsämter zu melden. Wie die gesamte NS-Schwesternschaft wurde auch das Personal der Wiener Fürsorge auf Hitler vereidigt und auf anthropologisch-rassistische und rassenhygienische Sichtweise eingestellt (zuvor handelten sie jedoch bereits im biologistischen Sinn, d. h., es war lediglich eine drastische Verschärfung der gewohnten Praxis). Es genügte schon, wenn ein Verwandter Alkoholiker war; denn Alkoholismus zählte zu den Erbkrankheiten, die „ausgemerzt“ werden sollten. Für die „erbbiologische Bestandsaufnahme“ wurden systematisch Daten all jener, die mit Gesundheits- oder Fürsorgeeinrichtungen in Kontakt kamen, in der „Erbkartei“ erfasst und damit „Sippenkarten“ erstellt. Neben Krankengeschichten wurden darin insbesondere auch Schulbewertungen, Arbeitgeberauskünfte und Strafregisterauszüge ausgewertet. Allein die über 100 Wiener Mutterberatungsstellen erfassten im Jahr 1941 in Wien 72 % der Neugeborenen noch im ersten Lebensjahr. Insgesamt wurden Karteien mit Daten von über 700.000 Wienern angelegt, dafür wurden eigens 70 Personen angestellt.[3][4] Aktion T4Die Einrichtung der Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund wurde erst möglich, nachdem etwa 3200 bzw. zwei Drittel der Patienten der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt im Zuge der Aktion T4 abtransportiert und die Pavillons dadurch geleert wurden. Die Patienten wurden, teilweise nach einem Zwischenstopp in den Anstalten Niedernhart bei Linz oder Ybbs an der Donau, in die Tötungsanstalt Hartheim überstellt und dort vergast. Umgekehrt war der Steinhof wahrscheinlich Zwischenstation für Patienten anderer Anstalten, wie z. B. dem Versorgungsheim Lainz.[5] Die Zwischenverlegungen dienten dazu, die Angehörigen der Patienten zu täuschen. Sowohl die Auswahl der Patienten (rein anhand der Patientendaten mit „+“ oder „-“, ohne die Menschen vorher gesehen zu haben) als auch die Organisation und Durchführung der Aktion erfolgten durch die von Werner Heyde zusammengestellte Kommission der Berliner T4-Zentrale. Die Anstalten selbst wurden nur informiert, dass es „aus Gründen der Reichsverteidigung“ erforderlich sei, „in nächster Zeit in großem Umfang Verlegungen von Anstaltsinsassen der Heil- und Pflegeanstalten vorzunehmen“. Der Anstaltsleiter, Alfred Mauczka, wusste nichts von den Mordplänen. Er protestierte jedoch direkt beim Abtransport gegen Transportpläne dieses Ausmaßes, da er Angst hatte, durch den Wegfall der Pfleglingsarbeiter könne der Anstaltsbetrieb nicht aufrechterhalten werden, der durch die Einberufung vieler Pfleger ohnehin schon am Rand des Zusammenbruchs stand. Nach einem Blick in die Krankengeschichten stellte der Transportleiter fest, dass die betreffenden Patienten sehr wohl arbeitsfähig waren. Die betreffenden Waggons wurden schließlich in Linz abgehängt und wieder zurückgeschickt. Dies erklärt wahrscheinlich, warum nur 0,2 Prozent der aus Steinhof Deportierten Alkoholiker waren. Zudem haben auch einige Anstaltsärzte versucht, Abtransporte durch Querverlegungen innerhalb der Anstalt zu verhindern oder so weit hinauszuzögern, dass die betreffenden Patienten von ihren Angehörigen in häusliche Pflege übernommen werden konnten, was in einigen Fällen gelungen ist. Am 23. Juli 1940 protestierte die Wiener Krankenschwester Anna Wödl, Mutter von Alfred Wödl, einem in der Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund ermordeten, behinderten Kind, vergeblich bei Herbert Linden gegen den Abtransport der Steinhof-Pfleglinge. Auch deren Angehörige regte sie zu Protestschreiben an, woraufhin in Berlin „Wäschekörbe voll Post“ eingingen. Demonstrationen vor der Anstalt gegen die Transporte wurden von Polizei und SS beendet. Nach einem weiteren Transport am 30. August 1940 kritisierte und verurteilte die illegale Grazer KPÖ um Herbert Eichholzer in einem Flugblatt die Transporte und Ermordungen der Steinhof-Pfleglinge.[6][7][8][9][10][11] Auch Hans Asperger, der bekannte österreichische Kinderarzt und Jugend-Autismus-Forscher, überantwortete Fälle der von ihm untersuchten Kinder dem Euthanasie-Programm Am Spiegelgrund, wobei seine zum Teil vernichtenden und überaus harten Evaluierungen direkt zur Ermordung der Kinder führten.[12] Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund und KinderfachabteilungMit 24. Juli 1940 nahm die „Wiener städtische Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“ in den Pavillons 1, 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15 und 17 mit insgesamt 640 Betten ihren Betrieb auf. Auf den Spiegelgrund „übersiedelten“ damit auch die heilpädagogische Abteilung des Zentralkinderheims und die darin seit 1934[13] untergebrachte „Schulkinder-Beobachtungsstation“. Pavillon 17 war für Kinder und Jugendliche, die, wie es beschönigend hieß, „zur Beobachtung auf ihre Erziehbarkeit da waren“.[10] Im offiziell als „Säuglingsstation“, inoffiziell als „Reichsausschussabteilung“ bezeichneten Pavillon 15 wurde eine Kinderfachabteilung eingerichtet, die die zweite ihrer Art im Deutschen Reich war. Administrativ unterstand die Jugendfürsorgeanstalt dem Referat „Ausmerzende Maßnahmen“ der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Hauptgesundheitsamtes in Wien, die Kinderfachabteilung hingegen dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin, der anhand der eingehenden Meldungen über Leben und Tod der Kinder entschied. Lautete die Anweisung „Behandlung“, bedeutete dies meist einen langsamen, qualvollen Tod des Kindes. Als administrativer Leiter der Fürsorgeanstalt wurde der Heilpädagoge Franz Winkelmayer eingesetzt, der bis 1922 die Erziehungsberatung im Roten Wien innehatte und sich bereits damals für ein „Sichten“ der Kinder aussprach.[1] Im März 1942 wurde die Anstalt in „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien Am Spiegelgrund“ umbenannt. Nachdem wenige Monate später die Hauptabteilung „Jugendwohlfahrt und Jugendpflege“ entstanden war, wurden dieser am 16. Juni 1942 „vorübergehend“ die Pavillons 1, 3, 5, 7, 9, 11 und 13 „zur Führung einer Erziehungsanstalt“ übergeben. Leiter der Erziehungsanstalt wurde mit 1. Juli 1942 Hans Krenek, der bis dahin pädagogischer Leiter war. Dieser führt im selben Jahr in einem Artikel aus:[14]
– Hans Krenek Die Pavillons 15 und 17 wurden mit 1. Juli 1942 dem Anstaltenamt als „Anstalt zur Aufnahme und Beobachtung von psychisch abwegigen Kindern und Jugendlichen jeder Art und Stufe“ unterstellt und mit 11. November 1942 in „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder“ umbenannt. Mit den häufigen Umbenennungen versuchte man eine Spezialklinik vorzutäuschen, in der kranke, behinderte, und vermeintlich erblich belastete Kinder und Jugendliche behandelt würden. Zwei Drittel der in die Kinderfachabteilung eingewiesenen Kinder befanden sich bereits zuvor in öffentlichen Pflegeeinrichtungen, nur ein Drittel kam direkt aus dem Elternhaus in die Anstalt. Vierzig Prozent wurden bereits mit negativen ärztlichen Gutachten wie „bildungsunfähig“, „geistig minderwertig“ etc. eingewiesen.[15] Von 24. Juli 1940 bis 23. Juli 1941 wurden insgesamt 1583 Kinder aus Wiener Erziehungsheimen auf den Spiegelgrund überstellt, für die weiteren Jahre gibt es dazu keine Angaben.[16] Das leitende Personal und die Patientenmorde
Zum Zweck der Einweisung unternahmen die Ärzte des Spiegelgrunds regelrechte Selektionsreisen. Erwin Jekelius berichtete im Sommer 1941 an das Anstaltenamt:[17]
Ausgewählt wurden die Kinder vor allem nach volkswirtschaftlichen Kriterien. Lautete die Diagnose „bildungsunfähig“, war also kein gesellschaftlicher Nutzen zu erwarten, bedeutete dies zumeist das Todesurteil. Von den Ärzten, statistisch allen voran Heinrich Gross, gefolgt von Marianne Türk, wurden mindestens 789 Kinder getötet: mittels Schlafmitteln („Luminal“), Wirksamkeitstests von Impfstoffen gegen Tuberkulose (für die die Kinder künstlich mit Tuberkulose-Erregern infiziert wurden), klinischen Untersuchungen wie der immer schmerzhaften und manchmal tödlichen Pneumencephalographie, durch Folter oder einfach, indem man sie verhungern ließ. Um das Bild nach außen zu wahren, tötete man die Kinder nicht sofort, sondern verschlechterte ihren Zustand nach und nach. Die Eltern, die bei der Einweisung eine Erklärung zur Übernahme der Kosten für Verpflegung und Untersuchungen unterschreiben mussten,[15] wurden zunächst über eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes informiert, danach schrieb man ihnen, das Kind wäre sanft hinübergeglitten, und stellte den Tod des Kindes als Erlösung dar.[4] Von den 789 verzeichneten Tötungen fanden 19 noch im Jahr 1940 statt, 94 im Jahr darauf. Im Jahr 1942 stieg die Zahl auf 101 und erreichte 1943 ihren Höhepunkt von 274 ermordeten Kindern. Das Jahr 1944 brachte 161 und 1945 bis Kriegsende immer noch 50 Kindern den gewaltsamen Tod.[17] Nach ihrem Tod wurden den Kindern in der Pathologie von Barbara Uiberrak Gehirne und Rückenmarksstränge entnommen und für spätere Forschungen aufbewahrt. Mittels der Sippenforschung wurde versucht, ebenfalls „belastete“ Verwandte als neue Opfer ausfindig zu machen. Im Fall der Wirksamkeitstests der Tuberkulose-Impfstoffe wurden die Kinder an der Universitätsklinik unter der Leitung von Elmar Türk mit den Erregern infiziert und in der Kinderfachabteilung getötet. In diesen Fällen wurden die Kinderleichen von Barbara Uiberrak und Elmar Türk gemeinsam in der Prosektur am Steinhof obduziert und untersucht. Uiberrak will, obwohl jede Leiche von ihr persönlich seziert wurde, nie Hinweise auf unnatürliche Todesursachen festgestellt haben. Weiters meinte sie in ihrer Zeugenaussage vor dem Volksgericht Wien im Jahr 1946:
Uiberrak war es vermutlich auch, die Heinrich Gross auch zu Zeiten, als er selbst keine Anstellung am Steinhof hatte, Zugang zu den Präparaten verschaffte – etwa für seine 1952 erschienene Arbeit „Zur Morphologie des Schädels bei der Akrozephalosyndaktylie“. Uiberrak war bis in die 1960er Jahre für den gesamten Steinhofer Komplex als Pathologin zuständig.[4] Zeitzeugenberichte und die Beziehungen zwischen Erziehungsheim und NervenklinikDie Ärzte der Nervenklinik (Pavillons 15 und 17), insbesondere Heinrich Gross, wurden auch regelmäßig im Erziehungsheim tätig. Kinder wurden von der einen Einrichtung in die andere und selten auch wieder zurück verlegt. Dies geht sowohl aus Krankengeschichten wie auch aus Zeitzeugenberichten hervor, etwa dem von Alois Kaufmann:[2]
– Alois Kaufmann Die Pavillons 15 und 17 wurden auch „erzieherisch“ benutzt, um den Willen der Kinder des Kinderheimes zu brechen, wenn sie den Anforderungen der NS-Erziehung nicht entsprachen oder gar rebellierten. Alois Kaufmann zeigt das anschaulich:[2]
– Alois Kaufmann Beschimpfungen, Drohungen, Demütigungen, Schläge und Quälereien standen im Erziehungsheim auf der Tagesordnung. Medizinische Strafmaßnahmen fanden auch im als Strafgruppe bezeichneten Pavillon 11, teilweise während zweiwöchiger Einzelhaft, statt. Fluchtversuche oder Widersetzlichkeiten wurden mit verschiedenen Injektionen bestraft, genannt sind etwa eine sogenannte „Schwefelkur“, die zwei Wochen anhaltende, heftige Schmerzen in den Beinen verursachte, sodass eine Flucht unmöglich war,[18] und die "Speibinjektion" mit dem Wirkstoff Apomorphin.[19] Der Überlebende Johann Gross machte diese Speibinjektionen wegen seiner Fluchtversuche mehrmals mit.[20]
– Johann Gross Weitere Disziplinierungsmittel waren Elektroschocks[21] oder die „Wickelkur“, wobei der Zögling in nasse Leintücher wie eine Mumie eingewickelt auf einer Ambulanzliege festgebunden wurde – so lange, bis die Leintücher von der Körperwärme getrocknet waren. Friedrich Zawrel beschrieb die „Kaltwasserkur“:[22]
– Friedrich Zawrel Auch das Sterben im Pavillon 15 blieb vielen Kindern des Erziehungsheimes nicht verborgen, wodurch auf ihnen immer eine traumatisierende Todesbedrohung lastete. Über den für das Buch von Alois Kaufmann namensgebenden „Totenwagen“ berichten die Zeitzeugen übereinstimmend, dass er ihnen unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Johann Gross begegnete ihm auf dem Weg zur Schule (die sich in Pavillon 13 befand):
– Johann Gross NachkriegszeitDie Begutachtungen und Selektionen im Erziehungsheim und in der Nervenheilanstalt für Kinder wurden bis nach Kriegsende fortgeführt. Am 30. Juni 1945 wurde die Nervenklinik für Kinder aufgelöst. Mit 1. Juli 1945 wurde das gesamte Personal von der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof „in Stand und Gebühr“ übernommen. Der Leiter des Erziehungsheimes, Hans Krenek, übte seine Funktion bis 10. August 1945 aus. 1950 übersiedelte die Heilpädagogische Beobachtungsstation vom Spiegelgrund in das nahe gelegene Schloss Wilhelminenberg. Man könne davon ausgehen, so die „Wilhelminenberg-Kommission“, dass Kinder, die 1950 in das Heim am Wilhelminenberg übersiedelten, jene von der Station am Spiegelgrund kurz zuvor ausgegangene Bedrohung noch als gesellschaftliches Trauma mitbrachten. Mit den Kindern wurden auch Erzieherinnen mitübernommen und diverse Gegenstände aus der Zeit des NSDAP-Regimes in das Heim am Wilhelminenberg übersiedelt. So mussten die Kinder noch jahrelang mit Decken, die die Aufschrift „Spiegelgrund“ trugen, schlafen.[10][13] Forschungen an den OpfernHeinrich Gross setzte seine Forschungen an den Kinderhirnen fort und publizierte zwischen 1954 und 1978 34 Arbeiten, deren Schwerpunkt weiterhin „angeborene und frühzeitig erworbene hochgradige Schwachsinnszustände“ waren. Teilweise entstanden diese Veröffentlichungen gemeinsam mit Franz Seitelberger, Barbara Uiberrak, Elfriede Kaltenbäck (einer Mitarbeiterin Gross' im Neurohistologischen Laboratorium, später im Ludwig-Boltzmann-Institut), Hans Hoff und anderen. Auf die NS-Zeit hinweisende Lebens- und Sterbedaten wurden im Allgemeinen vermieden, als Herkunft des „Materials“ wurde die Prosektur des Steinhof angegeben. Die Arbeiten lassen sich in drei Gruppen einteilen:
Zudem gab Gross in den 1950er Jahren Leichenteile von rund zwanzig Spiegelgrund-Opfern an das Neurologische Institut der Universität Wien weiter, welche die Grundlage für mindestens zwei Publikationen bildeten. Neben anderen finden sich unter den Autoren wiederum Franz Seitelberger und Hans Hoff. Dieselben Präparate wurden im Weiteren an das Max-Planck-Institut für Hirnforschung weitergegeben, das zu der Zeit unter der Leitung von Julius Hallervorden stand. Weitere zwei Arbeiten wurden 1954 publiziert. 1957 wurde Gross Primarius der 2. Psychiatrischen Abteilung sowie des Neurohistologischen Laboratoriums am Steinhof, in welchem sich die seit 1954 histologisch untersuchten und mit neuen Protokollnummern versehenen Gehirne befanden. Ab 1968 hatte er die Leitung des neu gegründeten und in den Räumen des Neurohistologischen Laboratoriums am Steinhof untergebrachten „Ludwig Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems“ inne, dessen Aufgabe er folgendermaßen beschrieb:
Darüber hinaus bestand die Einmaligkeit der Sammlung auch darin, dass Missbildungen bereits in einem Stadium untersucht werden konnten, die unter normalen Umständen – ohne Euthanasie – erst viel später oder gar nicht zum Tod der Patienten geführt hätten. 1981 wurde das „LBI zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems“ mit dem „LBI für klinische Neurobiologie“ unter diesem Namen zusammengelegt. Die Leitung teilte sich Gross ab diesem Zeitpunkt mit dem Universitätsprofessor Kurt Jellinger.[4] BestattungenErst im April 2002 wurden sterbliche Überreste wie Gehirne und Nervenstränge von 789 Opfern auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Vorausgegangen war die Erfassung der Spiegelgrund-Opfer. Leiter des DÖW-Projektes war Wolfgang Neugebauer.[23] Er hatte bereits mehrere Publikationen über Euthanasie in Österreich verfasst.[24]
Neue FundeWolfgang Lamsa[25] vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes[26] berichtete, dass man nach der Bestattung auf weitere 70 Gehirne gestoßen war. Deren Herkunft konnte man aufgrund der fehlenden Dokumente nicht zuordnen. Lamsa erklärt, dass es vermutlich keine Opfer der Spiegelgrund-Stätte seien, und dass ohne Zuordnung nicht bestattet werden könne: „Darauf hoffen wir aber, damit wir diese Gehirne letztendlich bestatten können“. GedenkortMit Bestattung der Überreste der unfreiwilligen Forschungsobjekte des Spiegelgrunds wurde 2002 eine Dauerausstellung zur nationalsozialistischen Medizin in Wien am ehemaligen Spiegelgrund am Steinhof, der heutigen Klinik Penzing, eingerichtet und Gedenktage abgehalten. Seit November 2003 erinnert ein Mahnmal in Form von Lichtstelen an die Ermordeten.[27] Die Gestaltung beruht auf einem Konzept von Tanja Walter, damals Schülerin der Höheren Graphischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt Wien 14.[28] Für jedes in der Anstalt ausgelöschte Leben wurde dabei eine Lichtsäule aufgestellt, deren strenge Anordnung spiegelt die Situation der Kinder und Jugendlichen wider. Auseinandersetzung2000 wurde der Dokumentarfilm Spiegelgrund von Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber bei der Diagonale-Festival des Österreichischen Films uraufgeführt. Zahlreiche internationale Festivaleinladungen folgten, der Film wurde in mehreren Kinos gezeigt. Er löste eine intensive Diskussion über den beschämenden Umgang des offiziellen (Nachkriegs‑)Österreichs mit Opfern der NS-Kinder- und Jugendfürsorge sowie der NS-Euthanasie aus.[29] 2005 inszenierte der Theaterregisseur Johann Kresnik das Schicksal der Kinder im Spiegelgrund am Wiener Volkstheater. Waltraud Häupl dokumentierte 2006 in ihrem Buch, dass Patienten krank gemacht wurden, um natürliche Todesursachen wie etwa Lungenentzündung oder Darmentzündung attestieren zu können. Sie berichtet von Überdosierungen mittels Barbituraten, vor allem mit Phenobarbital. Diese Medikamente bewirkten das „Einschläfern“, also den Tod der Patienten. Häupl legt dar, dass Gehirne und andere Körperteile in Gläsern konserviert wurden und für wissenschaftliche Forschungen und Publikationen benutzt wurden, auch nach Kriegsende. Viele Dokumente hatte man vernichtet. Häupl dokumentiert in ihrer Publikation 788 Opfer namentlich. Nikolaus Habjan brachte am 23. März 2012 im Wiener Schubert Theater das Puppentheaterstück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ unter der Regie von Simon Meusburger auf die Bühne. Das Stück wurde in intensiver Zusammenarbeit mit Friedrich Zawrel, einem Überlebenden vom Spiegelgrund, von Habjan und Meusburger geschrieben. 2015 erschien der dokumentarische Roman "Die Erwählten" (schwedische Erstausgabe unter dem Titel "De utvalda", 2014) von Steve Sem-Sandberg auf Deutsch, der sich mit der an die Biographie von Friedrich Zawrel angelehnten Geschichte des fiktiven Adrian Ziegler mit der Euthanasie im Spiegelgrund auseinandersetzt. Weitere Personen, z. B. Ärzte und Krankenschwestern, tragen im Roman ihre realen Namen. HeuteHeute befindet sich im Gebäudekomplex des Otto-Wagner-Spitals die Klinik Penzing. Siehe auch
Literatur
Weitere Literaturhinweise im Hauptartikel: Aktion T4#Literatur WeblinksCommons: Spiegelgrund – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Quellen
|