Vatileaks 2.0Vatileaks 2.0 umschreibt den Skandal um finanzielle Machenschaften im Vatikanstaat, die von den Journalisten Emiliano Fittipaldi und Gianluigi Nuzzi in zwei Buchpublikationen im Jahr 2015 bekannt gemacht wurden. Die beiden Bücher beruhten vorrangig auf Geheimdokumenten der von Papst Franziskus eingesetzten Wirtschaftsprüfungskommission COSEA.[1][2][3] Anfang November 2015 kam es zur Verhaftung des früheren COSEA-Mitgliedes und Prälaten Lucio Ángel Vallejo Balda und in der Folge zu einem Prozess gegen ihn, gegen die beiden Journalisten, gegen das einzige weibliche COSEA-Mitglied, Francesca Immacolata Chaouqui, sowie gegen den COSEA-Mitarbeiter Nicola Maio. Der Tatvorwurf lautet unter anderem „Verbreitung vertraulicher Informationen und Dokumente“. Begriffsbildung, KontextDer Begriff Vatileaks wurde durch den Pressesprecher des Vatikans, Federico Lombardi, in Anlehnung an Wikileaks geprägt[4] und umfasste Vorgänge, welche die Art und Weise des Bekanntmachens von vertraulichen Dokumenten beschreiben, die 2011 und 2012 vom Schreibtisch des damaligen Papstes Benedikt XVI. aus dem Vatikan an die Öffentlichkeit gelangten. Im Juni 2013 wurde mit Artikel 116 bis ein neuer Tatbestand in das Strafgesetzbuch des Vatikanstaates eingefügt, der die Verbreitung vertraulicher Informationen und Dokumente unter Strafe stellt.[5] Am 18. Juni 2015 wurde die zweite Enzyklika von Papst Franziskus zeitgleich in acht Sprachen vorgelegt: “Laudato si’” (deutsch: „Gelobt seist du“), mit dem Untertitel Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Das Werk befasst sich mit Umwelt- und Klimaschutz, den bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen. Laudato si’ wurde von seinem Autor als „dringender Appell, über die Zukunft des Planeten zu diskutieren“, gesehen und von der Weltöffentlichkeit auch so rezipiert.[6] Am 3. Oktober 2015 erfolgte das erste Outing eines Theologen des Vatikans, Krzysztof Charamsa, der ab 1997 in der Glaubenskongregation tätig war und an zwei päpstlichen Universitäten unterrichtete. Er kritisierte die Sexualmoral als „unmenschlich“. Jede Person habe ein Recht auf Liebe, und dieses Recht müsse von Gesellschaft und Gesetz geschützt werden. „Aber vor allem muss es auch die Kirche schützen: Das Christentum ist die Religion der Liebe.“[7] Dieses Bekenntnis der Ehrlichkeit stellte einen massiven Angriff auf das Konzept der Geheimhaltung in der Römischen Kurie dar, in der Homosexualität stets akzeptiert war, solange sie nicht öffentlich gemacht wurde. Von 4. bis 25. Oktober 2015 schließlich tagte die sogenannte Familiensynode zu Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute, als Nachfolgeveranstaltung der dritten außerordentlichen Bischofssynode vom 5. bis 19. Oktober 2014. Es kam zu heftigen Kontroversen zwischen Traditionalisten und Reformern sowie zu einem warnenden Brief von 13 konservativen Kardinälen an den Papst, welcher prompt den Weg in die Öffentlichkeit fand. Kardinal Gerhard Ludwig Müller sprach angesichts dessen bereits zu Beginn der Familiensynode „von einem neuen Vatileaks“. Wirtschaftsprüfungskommission COSEA„Kein Papst befaßte sich in den vergangenen hundert Jahren so intensiv mit Finanz- und Wirtschaftsfragen des Vatikans.“[8] Papst Franziskus setzte unmittelbar nach Amtsantritt folgende Schritte:
Am 18. Juli 2013 schließlich errichtete Papst Franziskus mit einem Chirograph eine neue Päpstliche Kommission für die Reform der Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten des Heiligen Stuhls (italienisch Commissione di studio sulle strutture economiche e amministrative della Santa Sede). Als Mitglieder der Kommission wurden sieben katholische Laien und ein spanischer Prälat im Dienst der Römischen Kurie berufen:[9]
Die Kommission sollte gewissermaßen Inventur im Vatikan machen und Vorschläge für Verbesserungen, höhere Effizienz und Einsparungen erarbeiten. In der Anweisung des Papstes hieß es, dass die Kommission Zugang „zu allen Dokumenten, Daten und Informationen“ der Vatikanbank Istituto per le Opere di Religione (IOR), aller Bilanzen, jeglicher Behörde und Einrichtung des Vatikans und dem beweglichen und unbeweglichen Besitz des Heiligen Stuhls weltweit haben sollte. Das Amtsgeheimnis wurde für die Untersuchung aufgehoben. Die Internetplattform Katholisches gab unmittelbar nach der Bestellung der Kommission zu bedenken, dass diese Insider-Informationen „pures Gold“ wert seien, die sieben externen Kommissionsmitglieder am Ende mehr wüssten als jeder im Vatikan und äußerte auch Zweifel an der Eignung der Ernannten. Bereits acht Tage nach der Bestellung von Francesca Immacolata Chaouqui verwies die Plattform auf ihre Beziehung zum Aufdeckungsjournalisten Gianluigi Nuzzi und zur Aufdeckungsplattform Dagospia, gegründet von Roberto D’Agostino.[10] Zwei BuchpublikationenZeitgleich erschienen am 5. November 2015 die Bücher Avarizia von Fittipaldi und Via Crucis von Nuzzi, sie beinhalten eine Reihe von finanziellen Missständen innerhalb des Vatikanstaates und seiner Institutionen. Via CrucisJörg Bremer kritisierte in der FAZ das Buch Nuzzis als „Alten Wein in einem neuen Schlauch“. Er skizziere Kardinal George Pell – „wohl aus Dankbarkeit für seine Dienste“ als Informant Nuzzis – als Reformer, während Fittipaldi denselben Kardinal als „Blockierer“ von Papst Franziskus’ Reformbestrebungen charakterisiere.[11] Zusammenfassung der MissständeUnter anderem wurden – laut Kathpress und weiteren Rezensenten – folgende Vorwürfe veröffentlicht, die sich insbesondere gegen die Kardinäle der Römischen Kurie richteten:
Der Papst wurde von der Kritik ausdrücklich ausgenommen, er bewohnt nach wie vor ein knapp 50 Quadratmeter großes Zimmer im Gästehaus Santa Marta. Verhaftungen und VerhöreAm 2. November 2015 berichtete Il Corriere della Sera von der Verhaftung des früheren Sekretärs der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhles, des spanischen Prälaten Lucio Ángel Vallejo Balda, und seiner Protégée Francesca Immacolata Chaouqui.[12] Der Prozess im VatikanAuf Grundlage des erst 2013 implementierten Strafrechtsparagraphen Artikel 116 bis begann am 24. November 2015 vor dem Gerichtshof des Vatikanstaates der Prozess gegen Francesca Immacolata Chaouqui, Emiliano Fittipaldi, Nicola Maio, Gianluigi Nuzzi und gegen Prälat Lucio Ángel Vallejo Balda.[13] Zusammensetzung des TribunalsDas Richterkollegium besteht aus drei Richtern: Giuseppe Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto (Presidente del Collegio), Piero Antonio Bonnet und Paolo Papanti-Pelletier. Als Ersatzrichter fungiert Venerando Marano. – Als Vertreter der Anklage fungiert Gian Pietro Milano (Promotore di Giudizia).[14] AnklagepunkteAlle fünf Angeklagten müssen sich der Unterschlagung und Verbreitung vertraulicher Dokumente lt. der §§ 63 und 116-bis des vatikanischen Strafrechts verantworten. Die Angeklagten Chaouqui, Maio und Vallejo Balsa wurden zusätzlich auch wegen des Delikts Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 248 angeklagt, ein Paragraph, der aufgrund der Affaire Vatileaks 1.0 neu gefasst wurde, obwohl bei der damaligen Affaire nur ein Täter allein – Paolo Gabriele, Majordomus des damaligen Papstes – angeklagt und verurteilt wurde. Zeitlicher AblaufDie schnelle Anberaumung des Prozesses ergab Spekulationen der Presse, der Vatikan wolle die unangenehme Causa mit einem schnellen Verfahren vor dem 8. Dezember 2015 beenden. Zu diesem Datum beginnt das von Papst Franziskus ausgerufene außerordentliche Heilige Jahr – als Jubiläum der Barmherzigkeit zum 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils. Bereits die ersten zwei Gerichtstermine widerlegten den Eindruck eines Schnellverfahrens:
Schlammschlacht zwischen zwei AngeklagtenNach Eröffnung des Prozesses kam es zu einer medialen Schlammschlacht zwischen den Angeklagten Francesca Immacolata Chaouqui und Lucio Ángel Vallejo Balda. Er gestand angeblich während der vatikanischen Verhöre eine Affäre mit ihr, sie bestritt dies heftig und bezichtigte ihn, kein Interesse an Frauen zu haben. Selbst seriöse Medien stilisierten Chaouqui als „Mata Hari des Kirchenstaats“, Lady Curia und „Papessa“, berichteten über angebliche Versuche, die Brüder Paolo Berlusconi und Silvio Berlusconi zu erpressen. Die Verhörprotokolle waren der Tageszeitung la Repubblica zugespielt und von dieser erstveröffentlicht worden.[17][18][19] UrteilsspruchAm 7. Juli 2016 verurteilte die Kammer Chaouqui zu zehn Monaten Freiheitsstrafe zur Bewährung und Balda zu 18 Monaten Freiheitsstrafe, die drei übrigen Angeklagten wurden freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte bei Fittipaldi ebenfalls auf Freispruch plädiert und für die übrigen vier Angeklagten Haftstrafen beantragt.[20][21] Kritik am Papst, Eingeständnis des PapstesDer langjährige Vatikanist Sandro Magister, dem im Juni 2015 die Akkreditierung entzogen worden war, kritisierte das Gerichtsverfahren, welches „weder durch Reue, Klugheit noch Barmherzigkeit glänzt“. Er führt weiter aus: Es glänze nicht durch Reue, hatte doch der Papst selbst die beiden Hauptangeklagten in die Kommission berufen, „obwohl das Staatssekretariat vor der Unzuverlässigkeit der beiden gewarnt hatte“. Es glänze nicht durch Klugheit, weil durch die Anklage gegen die beiden Journalisten und Buchautoren „eine bizarre Neuauflage eines Index verbotener Bücher“ betrieben werde. Und es glänze noch weniger durch Barmherzigkeit, da durch die Rotlicht-Episoden, die aus den Untersuchungsakten den Medien zugespielt wurden, nicht nur der Prälat und die PR-Dame an den Pranger gestellt würden – beide seien „ohnehin schon hyperaktiv […], sich gegenseitig zu schaden“ –, sondern auch Chaouquis Familienangehörige, die mit der Sache nichts zu tun haben.[22] Auf seiner Rückreise aus Afrika wurde Papst Franziskus von Journalisten unter anderem betreffend die Bestellung von Chaouqui und Vallejo Banda befragt. Er antwortete unmissverständlich: „Ich denke, das war ein Fehler.“ Er verwies auf seine Bemühungen, „die Korruption zu bekämpfen und die Dinge, die nicht funktionieren“. Und er erinnerte an die Worte seines Vorgängers: „Dreizehn Tage vor dem Tod von Johannes Paul II., während der Via Crucis, sprach Kardinal Ratzinger vom Schmutz in der Kirche. Er war der Erste, der das anklagte. Dann starb Johannes Paul, und Ratzinger, der Dekan war, sprach in der Missa Pro eligendo Pontifice über das Gleiche. Wir haben ihn wegen dieser Freiheit gewählt, die Dinge auszusprechen.“[23] Er beendete seine Ausführungen mit einem Bonmot: „Ich danke Gott, daß es Lucrezia Borgia nicht mehr gibt!“ Eine Reihe von Medien zeigten daraufhin den Papst bei der Beichte im Petersdom. Die Aufnahmen stammten allerdings bereits aus der Karwoche 2014. Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
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