Als Transitional Justice (Transition – Übergang) werden Prozesse, Praktiken und Organisationsformen[1] bezeichnet, die darauf abzielen, Verbrechen einer gewaltsamen Vergangenheit eines Gemeinwesens nach einem gesellschaftspolitischen Umbruch (z. B. Bürgerkrieg, politischem Wandel, Sturz der Vorgängerregierung) aufzuarbeiten, den Prozess des Überganges von einer Diktatur in eine Demokratie oder vom Krieg zum Frieden zu unterstützen.
Dabei kann zwischen den Interessen des Staates und den Interessen der Zivilgesellschaft ein erheblicher Unterschied bestehen, welcher den Transitionsprozess zusätzlich belastet.
Der Begriff Transitional Justice hat sich erst gegen Ende der 1990er-Jahre in Forschung und Praxis durchgesetzt und wurde als eigenständiges Forschungsfeld anerkannt. Der Begriff wurde in der Form von Neil Kritz in Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes (1995) gebraucht und vorgeprägt.[2]
Eine eindeutige und anerkannte Begriffsdefinition von Transitional Justice ist bislang jedoch nicht vorhanden.
Begriffsabgrenzung
Ob und inwieweit der Begriff Transitional Justice von der kollektiven Vergangenheitsbewältigung[3] bzw. Vergangenheitsaufarbeitung[4] unterschieden werden kann, ist bislang noch nicht geklärt.
Ziele
Transitional Justice hat zum Ziel, unbekannte und bekannte Verbrechen einer vorherigen gewaltsamen Vergangenheit eines Gemeinwesens publik zu machen und die gesellschaftlichen Diskussion einzuleiten und Lösungen zu finden, um zum Beispiel:
dem Vergessen entgegenzuwirken,
bisher geheime oder nur wenigen Personen bekannte Vorgänge offenzulegen,
Verantwortlichkeit festzulegen,
Opfer anzuerkennen.
Transitional Justice als Prozess verstanden hat nicht zum Ziel, eine Siegerjustiz (Vergeltung der Sieger gegenüber den Besiegten) zu ermöglichen, sondern will ein langfristiges Aussöhnen erreichen. Hierzu gehören in der Regel auch und insbesondere die gesellschaftliche (Re-)Integration der Täter und deren Helfershelfer.
Rechtliche Grundlage der Transitional Justice
Im Bereich des Völkerrechts besteht für die Staaten die Verpflichtung aus der UN-Charta und verschiedenen internationalen Abkommen, den eigenen Staatsbürgern die grundlegenden Menschenrechte in jeder Lage des Gemeinwesens zu gewährleisten.
Im Bereich des nationalen Staats- und Verfassungsrechts haben die Staaten die grundsätzliche Verpflichtung, die Staatsbürger zu schützen. Diese Verpflichtung ergibt sich bereits aus dem Zweck des Staates an sich.
Instrumente der Transitional Justice
Zur Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit eines Gemeinwesens werden zum Beispiel juristische und gesellschaftspolitische (außergerichtliche) Instrumente, Verfahren und Mechanismen eingesetzt. Jede Übergangssituation ist einzigartig und erfordert unterschiedliche Konzepte und Gewichtungen.
Juristische Instrumente
Juristische Instrumente der Transitional Justice können zum Beispiel sein:
Entwaffnung, Demobilisierung, Waffenstillstand etc.
Stärkung der staatlichen Hoheitsgewalt und Verhinderung weiterer Verbrechen
Institutionelle Reformen (meist insbesondere der inneren Verwaltung, des Sicherheitssektors und des Militärs)
Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Prozess der Transitional Justice
Bereitstellung der technischen, materiellen und finanziellen Unterstützung aller notwendigen Prozesse zur Aufarbeitung und Aussöhnung
Festlegung eines „Transitionszeitraums“ bzw. „Transitionsstichtags“ (siehe auch: Schlussstrichgesetz)
Schutz von (kritischen) Medien und Menschenrechtsorganisationen
öffentliche gerichtliche Strafprozesse gegen die Verantwortlichen (siehe auch: Völkerstrafrecht)
Rückgabe von Eigentum und Rückgängigmachung ungerechtfertigter Vermögensverschiebungen durch Restitution
Gesellschaftspolitische Instrumente
Gesellschaftspolitische (nicht-juristische) Instrumente der Transitional Justice können zum Beispiel sein:
Wille zur dauerhaften Veränderung, Diskussion, Aussöhnung etc.
breite Verfestigung der staatlichen Hoheitsgewalt
Bildung von Opferorganisationen und/oder Menschenrechtsorganisationen
Achtung und Garantie der Menschenrechte (auch für die Täter)
Aufarbeitung der Konfliktursachen (z. B. in öffentlichen Räumen, in Kirchen und Schulen, unterstützt durch universitäre Forschungen)
Anerkennung aller Opfer, unabhängig von Herkunft, Religionszugehörigkeit, Ethnie, Stand, Sprache etc.
kollektives Erinnern (z. B. durch Gedenktage, Feiertage)
Erinnerungsräume schaffen (z. B. Museen, Mahnmale, Gedenkstätten etc.)
Re-Integration der Täter in das Gemeinwesen
Offenlegung und/oder Dokumentation der Verbrechen
Archivierung und Zugänglichmachung der belastenden Unterlagen
Entwicklung
Das Konzept der Transitional Justice entstand in den 1990er Jahren. Allerdings sehen sich die Aktivisten und Wissenschaftler, die sich für die Etablierung von Transitional-Justice-Maßnahmen einsetzen, in der Tradition der Nürnberger und Tokioter Prozesse und der vergleichsweise friedlichen Regimewechsel der 1970er-Jahre in Griechenland, Portugal und Spanien.[7]
Der Hauptimpuls für die Entwicklung des Konzepts der Transitional Justice kam von südamerikanischen Menschenrechtsaktivisten. In Südamerika kam es in den neunzehnhundertsiebziger und -achtziger Jahren zum Sturz zahlreicher diktatorischer Regime. Die Forderung, die „Wahrheit“ über die Menschenrechtsverletzungen unter den Diktaturen bekannt zu machen, gehörte zu den wichtigsten Anliegen der südamerikanischen Regimegegner. Besondere Bedeutung erlangte die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die der neugewählte Präsident Patricio Aylwin Mitte 1990 nach der Rückkehr zur Demokratie in Chile einsetzen ließ. Diese Kommission definierte erstmals „Wahrheit“ als Ziel, und damit verbunden das Ziel der „Versöhnung“. Mithilfe der Veröffentlichung einer „offiziellen Wahrheit“ über die Verbrechen während der Zeit der vorangegangenen Diktatur sollte die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager mit jeweils unterschiedlichen Deutungen der Vergangenheit überwunden werden. Die Idee, dass die Aufdeckung der „Wahrheit“ dazu beitragen könnte, eine Gesellschaft zu versöhnen, wurde zur Grundüberzeugung der Transitional-Justice-Bewegung. Seit Mitte der neunziger Jahre warb sie in zahlreichen sogenannten Postkonflikt-Gesellschaften (z. B. in Afrika[8], Asien[9] oder den Ostblockstaaten) für die Einsetzung von Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen. Begleitet wurden die Bemühungen der Transitional-Justice-Bewegung nunmehr von einer schnell wachsenden Zahl von Wissenschaftlern, die es sich zum Ziel setzten, anhand empirischer Studien das Konzept der Wahrheitskommission weiterzuentwickeln.[10]
Die UNO unterstützt diese Aufarbeitungsprozesse aktiv.[11]
Mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ist seit 2002 eine institutionelle Einrichtung geschaffen worden zur juristischen Unterstützung von Transitional Justice und der juristischen Aufarbeitung von Unrecht.
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.): Zivil statt militärisch. Erfahrungen mit ziviler, gewaltfreier Konfliktbearbeitung im Ausland. Bonn 2006, ISBN 3-88815-000-0 (Friedensdienst.de [PDF; 1000kB; abgerufen am 1. Juli 2016]).
Hagen Berndt, Bernd Rieche: Zivile, gewaltfreie Konflikttransformation. In: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (Hrsg.): Gewaltfrei streiten für einen gerechten Frieden. Plädoyer für zivile Konflikttransformation. Oberursel 2008, ISBN 978-3-88095-176-1, S. 21–38.
Susanne Buckley-Zistel: Transitional Justice als Weg zu Frieden und Sicherheit. Möglichkeiten und Grenzen. (SFB-Governance Arbeitspapier 15) (online) (Memento vom 25. Mai 2014 im Internet Archive)
Claudio Corradetti: Transitional Justice and the Idea of ‚Autonomy Patriotism‘ in South Tyrol. In: Georg Grote, Hannes Obermair, Günther Rautz (Hrsg.): „Un mondo senza stati è un mondo senza guerre“. Politisch motivierte Gewalt im regionalen Kontext (= Eurac book 60). Eurac.research, Bozen 2013, ISBN 978-88-88906-82-9, S.17–32.
Carmen González Enríquez, Alexandra Barahona de Brito, Paloma Aguilar Fernández (Hrsg.): The Politics of Memory. Transitional Justice in Democratizing Societies. Oxford 2001.
Andreas Heinemann-Grüder, Isabella Bauer (Hrsg.): Zivile Konfliktbearbeitung: Vom Anspruch zur Wirklichkeit. B. Budrich, 2013, ISBN 978-3-8474-0031-8.
Neil J. Kritz (Hrsg.): Transitional justice. How emerging democracies reckon with former regimes. United States Institute of Peace Press, Washington D.C. 1995, ISBN 978-1-878379-43-6.
Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried Garscha (Hrsg.): Gerechtigkeit nach Diktatur und Krieg: Transitional Justice 1945 bis heute; Strafverfahren und ihre Quellen. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. CLIO, Graz 2010, ISBN 978-3-902542-17-5.
Javier Mariezcurrena, Naomi Roht-Arriaza (Hrsg.): Transitional justice in the twenty-first century. Beyond truth versus justice. Cambridge University Press, Cambridge (Mass.) 2006, ISBN 978-0-521-86010-9.
Mihaela Mihai: Negative Emotions and Transitional Justice. Columbia University Press, New York 2016, ISBN 978-0-231-17650-7.
Christoph Safferling, Philipp Graebke, Florian Hansen, Sascha Hörmann: Das Monitoring-Projekt des Forschungs- und Dokumentationszentrums für Kriegsverbrecherprozesse (ICWC), Marburg. ZIS-online 07/2011, 564 (online; PDF; 126 kB)
Kathryn Sikkink in The justice cascade. How human rights prosecutions are changing world politics, Cambridge University Press, New York 2011, ISBN 978-1-107-02500-4.
Daniel Stahl: Bericht der chilenischen Wahrheitskommission, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2015, abgerufen am 11. Januar 2017.
Einzelnachweise
↑Anne K. Krüger in Transitional Justice auf Docupedia. Siehe auch Definition im UN-Report The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Countries. Report of the Secretary General – S/2004/616.
↑Siehe hierzu auch die Konferenz Justice in Times of Transition in Salzburg (1992). Organisiert von der Charta 77-Foundation (nun Foundation for a Civil Society). Zum Begriff siehe auch: UN-Dokument des UN-Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) E/1997/86 vom 27. Juni 1997.
↑Siehe z. B.: Helmut König in „Von der Diktatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung“ in Helmut König, Michael Kohlstruck, Andreas Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. S. 371–392.
↑Siehe z. B.: Theodor W. Adorno in Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M. 1971.
↑Mia Swart: Reparationen als Instrument der Transitionalen Gerechtigkeit: Was erklärt die Regeleinhaltung?Die Friedens-Warte 2011, S. 191–217.
↑Daniel Stahl: Bericht der chilenischen Wahrheitskommission. In: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2015, abgerufen am 11. Januar 2017.
↑Siehe z. B. die Wahrheitskommission in El Salvador 1992 (Comisión de la Verdad para El Salvador), die Ad hoc-Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien.
↑International Center for Transitional Justice [1].