Lec stammt aus einer großbürgerlichen Familie, die in Czortków in Galizien ansässig gewesen war. Sein Vater, Benno Letz de Tusch, war Bankdirektor. Die Mutter Adele, Tochter von Jan de Safrin, soll von sephardischen Juden abstammen. Die Schreibweise Letz entspricht den k.u.k. Urkunden. Als die russische Armee 1914 Ostgalizien eroberte, floh die Familie nach Wien.
1927 bis 1933 studierte Lec in LembergPolonistik und Jura mit einem Abschluss als „Magister juris“. Anschließend ging er nach Warschau, wo er als Lyriker und auch als Satiriker für verschiedene Blätter – Szpilki (=Nadeln), Sygnały, Lewar, Lewy Tor, Skamander und Czarno na Białem – schrieb, die zu einem Teil der linken intellektuellen Szene zuzuordnen sind. Sein erster Gedichtband Farben erschien 1933; 1935 folgte Zoo. Mit den 1936 in Warschau erschienenen Pathetischen Satiren fand er seinen Stil.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der deutschen und sowjetischen Eroberung Polens ging Lec wieder nach Lemberg. Dort arbeitete er für die sowjetische Propaganda. Hier wurde er nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1941 verhaftet und in das KonzentrationslagerTarnopol gebracht, aus dem er 1943 floh. In der Folgezeit schloss er sich den polnischen Partisanen an. Nach der Befreiung arbeitete Marcel Reich-Ranicki unter dem 35-jährigen Lec in einer Propaganda- und Übersetzungseinheit der polnischen Volksarmee[1]. Lec war Mitglied der kommunistischen Partei PPR und des kommunistischen Widerstands GL/AL.
1945 wirkte er bei der Neugründung der satirischen Zeitschrift Szpilki mit und gab 1946 Gedichte in dem Band Feldnotizbuch heraus. Im selben Jahr veröffentlichte er den Satireband Spaziergang eines Zynikers.
1949 bis 1950 lebte Lec als Presseattaché in Wien. Seiner Abberufung kam er durch eine Übersiedlung nach Israel zuvor, kehrte jedoch 1952 nach Warschau zurück. 1948 veröffentlichte er Das Leben ist ein Scherzgedicht, 1950 Neue Gedichte, die bereits 1949 teilweise in Wien unter dem Titel Über Brücken schreitend auf Deutsch erschienen waren. Die Gedichte aus seiner Zeit in Israel erschienen 1956 in der Jerusalemer Handschrift. Mit den polnischen Ereignissen im Oktober 1956, die zu einer Liberalisierung der stalinistischen Politik Polens führten, begann seine Karriere als polnischer Aphoristiker.
Inspiriert wurde Lec auch vor allem durch seine Übersetzungen von Gedichten von Goethe, Grillparzer, Lessing, Morgenstern und vor allem von Heine, aber auch Kraus und Ringelnatz. Neben den Unfrisierten Gedanken (1959) veröffentlichte er Aus tausendundeinem Scherzgedicht (1959), Ich spotte und fragte nach dem Weg (1959), An Abel und Kain (1961), Steckbrief (1963), Gedichte auf dem Sprung (1964). 1964 erschienen auch die Neuen unfrisierten Gedanken und 1966 Epigrammlese.
Lec starb am 7. Mai 1966 in Warschau. Er erhielt ein Staatsbegräbnis mit militärischen Ehren und wurde auf dem Militärfriedhof Powązki in Warschau beigesetzt.
In den 1970er Jahren, der Zeit der beginnenden freundlicheren Ostpolitik, wurden regelmäßig in der ZEIT eine Handvoll Aphorismen des damals schon verstorbenen Lec veröffentlicht. Seine Aphorismen, von denen allein in den verschiedenen Ausgaben der „Unfrisierten Gedanken“ – der Titel ist ein Zitat von Heinrich Heine – über 2.500 publiziert sind, werfen ein messerscharf kritisches, teils sehr sarkastisches Licht auf den damals stalinistisch geprägten polnischen Staat mit seinem beklemmenden Anspruch, das Denken kontrollieren zu wollen.
Aphorismen
Wenn ich ein zweites Mal geboren werde, lass ich mich gleich unter einem falschen Namen eintragen.[2]
Wenn es nichts zu lachen gibt, kommen Satiriker auf die Welt.[3]
Geh mit der Zeit, aber komme von Zeit zu Zeit zurück.
1959 Z tysiąca i jednej fraszki (Aus tausendundeinem Scherzgedicht)
1959 Kpię i pytam o drogę (Ich spotte und fragte nach dem Weg)
1961 Do Abla i Kaina (An Abel und Kain)
1963 List gończy (Steckbrief)
1964 Myśli nieuczesane nowe (Neue unfrisierte Gedanken)
1964 Poema gotowe do skoku (Gedichte auf dem Sprung)
Deutschsprachige Ausgaben
Über Brücken schreitend. Gedichte. Mit einem Vorwort von Franz Theodor Csokor. Zwei Berge, Wien 1950
Unfrisierte Gedanken. Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius. Bilder von Herbert Pothorn. Hanser, München 1959
Neue unfrisierte Gedanken. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Bilder von Daniel Mróz. Hanser, München 1964
Letzte unfrisierte Gedanken. Aphorismen. Herausgegeben und aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius. Mit fünf Zeichnungen von Heinz Edelmann. Hanser, München 1968
Spätlese unfrisierter Gedanken. Herausgegeben und aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius. Hanser, München 1976
Das große Buch der unfrisierten Gedanken. Aphorismen, Epigramme, Gedichte und Prosa. Hanser, München 1971
Alle unfrisierten Gedanken. Hanser, München 1982
Allerletzte unfrisierte Gedanken. Mit Zeichnungen von Zygmunt Januszewski. Hanser, München 1996
Steckbriefe. Epigramme, Prosa, Gedichte. Hanser, München 1986
Sämtliche unfrisierte Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1996. Neuausgabe: Sanssouci, München 2007, ISBN 3-8363-0058-3.
Liebet eure Feinde, vielleicht schadet das ihrem Ruf. Unfrisierte Gedanken zur Macht. Ausgewählt von Heiner Geißler, illustriert von Jiří Slíva. Sanssouci, München 2001, ISBN 3-7254-1221-9.
Literatur
Karl Dedecius: Letztes Geleit für Stanislaw Jerzy Lec. Hanser, München 1966
Peter Krupka: Der polnische Aphorismus. Die ›Unfrisierten Gedanken‹ von Stanisław Jerzy Lec und ihr Platz in der polnischen Aphoristik. Sagner (Slavistische Beiträge 104), München 1976
Pawel Bak: Die Metapher in der Übersetzung. Studien zum Transfer der Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec und der Gedichte von Wisława Szymborska. Lang (Danziger Beiträge zur Germanistik 20), Frankfurt 2007, ISBN 3-631-55757-4
Marta Kijowska: Die Tinte ist ein Zündstoff. Stanisław Jerzy Lec – der Meister des unfrisierten Denkens. Hanser, München 2009, ISBN 978-3-44623-275-4