Eine Spektralsequenz[1][2] oder Spektralfolge[3] ist ein Grenzwertprozess zur Berechnung von Homologiegruppen im mathematischen Teilgebiet der homologischen Algebra.
Nach J. F. Adams sind Spektralsequenzen wie exakte Sequenzen, nur komplizierter. Wie für exakte Sequenzen gelte auch für Spektralsequenzen: sie bieten keine Erfolgsgarantie, sind aber trotzdem in den Händen der Fachleute häufig ein effektives Werkzeug.[4]
Die Grundidee geht auf eine 1946 von Leray veröffentlichte Forschungsankündigung zur kohomologischen Untersuchung einer Garbe zurück. Bereits 1947 hatte Koszul – mit Hilfe eines Hinweises von Cartan – das Spektralsequenz-Kalkül in der heutigen Form abstrahiert, so dass auch Leray in der vollständigen Version seiner Arbeit Koszuls Formalismus verwendete.[5]
Es sei eine abelsche Kategorie, beispielsweise die Kategorie der Moduln über einem Ring, und es sei eine nicht-negative ganze Zahl. Eine kohomologische Spektralsequenz ist eine Sequenz von Objekten mit Endomorphismen , sodass für jedes gilt:
Die Isomorphismen werden oft weggelassen und man schreibt
Ein Objekt wird auch als die r-te Seite oder der r-te Term bezeichnet, ein Endomorphismus wird Randoperator oder Differential genannt.
Bigraduierte Spektralsequenz
In der 'Realität' treten Spektralsequenzen meist in der Kategorie der bigraduierten Moduln über einem Ring R auf, das heißt jede Seite ist ein bigraduierter R-Modul
In diesem Fall ist eine kohomologische Spektralsequenz also eine Sequenz von bigraduierten R-Moduln und für jeden Modul die direkte Summe von Endomorphismen vom Bigrad , sodass für jedes gilt:
,
.
Die hier verwendete Notation heißt Komplementärgrad. Manche Autoren schreiben stattdessen , wobei der totale Grad ist.
In der nicht-graduierten Situation ist irrelevant, im bigraduierten Fall ist meist null, eins oder zwei.
Homologische Spektralsequenz
Meist sind die Objekte Kettenkomplexe, die mit aufsteigender (wie oben) oder absteigender Indizierung auftreten können. Im zweiten Fall erhält man, indem man durch und durch (Bigrad (-r,r-1)) ersetzt, analog die Definition einer homologische Spektralsequenz.
Spektralsequenz eines Kettenkomplexes
Das grundlegendste Beispiel (im nicht-graduierten Fall) ist die abelsche Kategorie der Kettenkomplexe. Ein Objekt hat ein natürliches Differential, den Randoperator. Für ist die 0-te Seite der Komplex selbst. Um das zweite Axiom der Definition zu erfüllen, muss das nächste Objekt die Homologie des Kettenkomplexes sein, . Da das einzige natürliche Differential auf diesem Komplex die Nullabbildung ist, ist erneut die Homologie des Komplexes usw., das heißt für alle und die Sequenz stabilisiert auf der ersten Seite.
Um mehr Informationen aus einer Spektralsequenz zu bekommen, benötigen wir mehr Struktur auf den Objekten.
Visualisierung
Die Definition der Spektralsequenz ist sehr abstrakt, wir wollen die bigraduierte Situation visualisieren. Man kann sich das Objekt als die r-te Seite eines karierten Buches vorstellen, an jedem Gitterpunkt ist ein Objekt Zwischen einigen Objekten gibt es Verbindungslinien, die Differentiale. Auf die (r+1)-te Seite umzublättern bedeutet, Homologie zu bilden. Das heißt, die (r+1)-te Seite ist ein Subquotient der r-ten Seite. Die Differentiale ändern ihre Richtung bei jedem Umblättern.
Die roten Pfeile demonstrieren eine sogenannte Erster-Quadrant-Spektralsequenz, bei der nur die Objekte im ersten Quadranten nicht-null sind. Der Bild- oder der Urbildbereich aller Differentiale wird mit wachsendem r zum Nullobjekt, siehe Beispiel unten.
Eigenschaften
Kategorische Eigenschaften
Die kohomologischen Spektralsequenzen bilden eine Kategorie. Ein Morphismus ist hierbei eine Familie von Abbildungen , die mit den Differentialen und den Isomorphismen aus der Definition vertauschen: und . Im bigraduierten Fall sollen die Abbildungen außerdem die Graduierung respektieren:
Multiplikative Struktur
Die Kohomologiegruppe wird mit dem Cup-Produkt zu einem Ring. Wir wollen daher auch auf der Spektralsequenz eine multiplikative Struktur definieren.
Eine Spektralsequenz heißt multiplikativ oder Spektralring, falls gilt: (i) jede Seite ist eine bigraduierte Algebra, wobei die Differentiale Antiderivationen von Grad 1 sind, d. h. (ii) die Multiplikation auf ist durch diejenige auf induziert.
Konvergenz
Zykel und Ränder
Es sei eine Spektralsequenz gegeben. Da sie aus Subquotienten besteht, induziert sie eine Sequenz von Subobjekten
mit , gegeben durch die folgende induktive Relation: setze , Sind und schon definiert, dann seien and die eindeutig bestimmten Objekte mit der Eigenschaft, dass und . Wir setzen und definieren den Grenzterm der Spektralsequenz als (falls er in der betrachteten Kategorie definiert ist).
Konvergenz
Eine Spektralsequenz konvergiert schwach, falls es ein graduiertes Objekt gibt mit einer Filtrierung für jedes , und für jedes einen Isomorphismus ; in Symbolen:
.
Wir sagen, sie konvergiert gegen , falls die Filterung Hausdorff ist, das heißt .
In der Praxis bezieht man sich auf den wichtigsten Term der Sequenz, welcher meist der erste oder der zweite ist, und schreibt oder .
Weitere Konvergenzbegriffe
Im englischsprachigen Raum liest man die Wendung "a spectral sequence abuts", falls für jedes Tupel ein existiert, sodass für alle gilt . Die Seite ist wieder der Grenzterm. Die Spektralsequenz ist regulär oder degeneriert bei , wenn verschwindet für alle .
Man sagt die Spektralsequenz kollabiert, falls insbesondere ein existiert, sodass die -te Seite auf eine Spalte oder eine Zeile konzentriert ist.
Allgemeine Konstruktionsmethoden
Es gibt viele Methoden, Spektralsequenzen zu konstruieren. Die folgenden sind die drei wichtigsten:
Die Spektralsequenz eines exakten Paares[6] (Konstruktion von William Massey);
Die Spektralsequenz eines filtrierten Kettenkomplexes;
Der Doppelkomplex-Zugang ist lediglich ein besonders wichtiger Spezialfall des Filtrierten-Kettenkomplex-Zugangs, und jeder filtrierte Kettenkomplex induziert auf natürliche Weise ein exaktes Paar. Alle bekannten Spektralsequenzen können mithilfe der ersten Methode konstruiert werden.
Exaktes Paar
Wir beginnen wieder mit einer abelschen Kategorie, wie zuvor meist die Kategorie der bigraduierten Moduln über einem Ring. Ein exaktes Paar ist ein Paar von Objekten , zusammen mit drei Homomorphismen , und , welche die folgenden Exaktheit-Eigenschaften erfüllen:
Bild = Kern ,
Bild = Kern ,
Bild = Kern .
Man schreibt kurz .
wird der erste Term der Spektralsequenz sein. Für die zweite Seite bilden wir das abgeleitete Paar:
die induzierte Abbildung
ist folgendermaßen definiert: jedes kann geschrieben werden als für ein . Setze als das Bild von in .
Es kann leicht nachgerechnet werden, dass das abgeleitete Paar wiederum ein exaktes Paar ist[7].
Setze also und . Die Sequenz ist eine Spektralsequenz.
Eine weitere wichtige Konstruktion ist die Spektralsequenz für einen filtrierten(Ko-)Kettenkomplex, da ein solcher auf natürliche Weise ein bigraduiertes Objekt induziert. Die Idee ist, die Kohomologie des filtrierten Komplexes mithilfe der Kohomologien der Objekte der Filtrierung zu berechnen.
Sei ein Kokettenkomplex, von Grad 1, mit einer absteigenden Filtrierung, wobei das Differential mit der Filtrierung kompatibel sei, d.h. , und zudem sei die Filtrierung erschöpfend und Hausdorff. Dann gibt es eine Spektralsequenz mit und . Ist die Filtrierung auf zudem nach oben und unten beschränkt für jedes i, dann gilt [8][9], d.h. die Spektralsequenz "abuts" (siehe Konvergenzbegriffe) gegen den p-ten graduierten Teil der ten Kohomologie.
Konstruktion
Um für die 0-te Seite der Spektralsequenz ein bigraduiertes Objekt zu konstruieren, betrachten wir das assoziierte graduierte Objekt:
mit
wobei ein natürliches bigraduiertes Differential auf induziert[10].
Für die nächste Seite nehmen wir nun die Homologie von bezüglich :
Die Filtrierung auf dem Kettenkomplex induziert eine Filtrierung auf der Homologie und wir können die assoziierte graduierte Kohomologie definieren:
mit
Hat nun die Filtrierung nur Länge 1, dann ist (also die Homologie des assoziierten graduierten Objektes) isomorph zur assoziierten graduierten Kohomologie [11]. Im Allgemeinen machen wir dabei aber einen Fehler, da das Differential Elemente in der Filtrierung nach oben schiebt. Wir fahren daher mit der Approximation fort und definieren:
Beachte, dass auch und auf diese Weise geschrieben werden können.
Das Differential auf der r-ten Seite ist dabei jeweils durch das ursprüngliche Differential induziert.
Es kann nun nachgerechnet werden, dass die entsprechende Homologie isomorph zu ist[12], das heißt ist eine Spektralsequenz.
Eine weitere Konstruktion ist die Spektralsequenz eines Doppelkomplexes, bestehend aus einem bigraduierten Objekt mit zwei Differentialen und , also . Die Differentiale sollen zudem antikommutieren,, d. h. . Der assoziierte einfache Komplex ist definiert durch
mit
Wir wollen und vergleichen, indem wir nun zwei Filtrierungen betrachten:
Betrachten wir eine Spektralsequenz, bei der verschwindet für alle kleiner als ein und für alle kleiner als ein . Für sprechen wir von einer Erster-Quadrant-Spektralsequenz. Bei dieser Sequenz gilt für alle , wenn und (im Englischen würde man also sagen, 'the spectral sequence abuts', siehe Konvergenzbegriffe). Beachte hierfür, dass entweder das Bild oder das Urbild der Randoperatoren in den genannten Fällen null ist.
Die Spektralsequenz muss allerdings nicht degenerieren, da nicht alle Differentiale gleichzeitig null sein müssen. Bildlich gesprochen stabilisiert sich die Spektralsequenz in einem wachsenden Viereck.
Ähnlich funktionieren auch die Fälle für .
Fünfterm exakte Sequenz
Sei eine bigraduierte Erster-Quadrant-Spektralsequenz. Dann ist die Sequenz
Grothendieck entdeckte eine Spektralsequenz, die die abgeleiteten Funktoren einer Verknüpfung von zwei Funktoren berechnet. Seien und zwei linksexakte Funktoren zwischen abelschen Kategorien, wobei und genügend viele injektive Objekte haben.
Es gelte außerdem: Ist ein injektives Objekt von , dann ist ein -azyklisches Objekt von . Dann gibt es eine Spektralfolge für jedes Objekt von .[17][18] Die entsprechende Aussage für linksabgeleitete Funktoren gilt ebenfalls.[18][19]
Diese Spektralsequenz in der Gruppenkohomologie wurde von 1953 von Hochschild und Serre entdeckt, nach Vorarbeiten von Lyndon. Sie kann als Anwendungsbeispiel der Grothendieck-Spektralsequenz hergeleitet werden. Sei eine Gruppe mit Normalteiler , und sei ein -Modul. Dann gibt es eine Spektralfolge .[20][21]
Atiyah-Hirzebruch-Spektralsequenz
Sei eine verallgemeinerte Kohomologietheorie und ein CW-Komplex. Dann gibt es eine bedingt konvergierende Spektralsequenz , wobei mit der topologischer Raum gemeint ist, der aus genau einem Punkt besteht.[22][23]Atiyah und Hirzebruch verwendeten diese Spektralsequenz im Fall der verallgemeinerten Kohomologietheorie K-Theorie.[24]Maunder benutzte Postnikow-Systeme, um eine Alternativkonstruktion der Atiyah-Hirzebruch-Spektralsequenz zu geben, die eine bessere Beschreibung der Differentiale ermöglicht.[25][26]
Serge Lang: Graduate Texts in Mathematics. Springer Verlag, 2002.
J. Michael Boardman: Homotopy Invariant Algebraic Structures: A Conference in Honor of J. Michael Boardman : AMS Special Session on Homotopy Theory, January 7-10, 1998. 1999.
↑Volker Puppe: Über Konvergenz von Spektralfolgen in der stabilen Homotopietheorie. In: manuscripta mathematica. Band6, Nr.4, 1972, ISSN0025-2611, S.327–358, doi:10.1007/BF01303687.
↑J. F. Adams: Algebraic Topology. a student's guide (= London Mathematical Society Lecture Note Series. Nr.4). Cambridge University Press, 1972, ISBN 0-521-08076-2, S. 13: „A spectral sequence is … like an exact sequence, but more complicated. … Like an exact sequence, it does not provide a guarantee that one can carry out any required calculation effectively, but the experts succeed with it more often than not.“
↑John McCleary: A User's Guide to Spectral Sequences (= Cambridge studies in advanced mathematics. Nr.58). 2. Auflage. Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-56759-9, Kap. 5–6.
↑John McCleary: A User's Guide to Spectral Sequences (= Cambridge studies in advanced mathematics. Nr.58). 2. Auflage. Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-56759-9, S. 496.
↑C. R. F. Maunder: The spectral sequence of an extraordinary cohomology theory. In: Mathematical Proceedings of the Cambridge Philosophical Society. Band59, Nr.3, Juli 1963, ISSN0305-0041, S.567–574.
↑Daniel Grady, Hisham Sati: Spectral sequences in smooth generalized cohomology. 11. Mai 2016, arxiv:1605.03444v1.
↑John McCleary: A User's Guide to Spectral Sequences (= Cambridge studies in advanced mathematics. Nr.58). 2. Auflage. Cambridge University Press, 2001, ISBN 0-521-56759-9, Kap. 7–8.