Pseudo-ErklärungDer Ausdruck Pseudo-Erklärung (von gr. pseud(o) ψεύδειν/ψεύδεσθαι; ψεύδειν/ψεύδεσθαι) bezeichnet in der Wissenschaftstheorie Abfolgen von Sätzen, die augenscheinlich die Struktur und Funktion von wissenschaftlichen Erklärungen aufweisen, die Ansprüche an wissenschaftliche Erklärungen aber dennoch nicht erfüllen. Der Begriff der Pseudo-Erklärung dient dazu, im Rahmen einer Metatheorie oder Methodologie bestimmte Erklärungsversuche als unwissenschaftlich oder überhaupt ungültig zu kennzeichnen.[1] Die Auswahl der Ansprüche an wissenschaftliche Erklärungen hängt dabei von der zugrunde gelegten Theorie wissenschaftlicher Erklärung ab. Scheinerklärungen sind nicht nur logisch fehlerhafte Erklärungsversuche, sondern auch solche, in denen die logische Struktur des Arguments unübersichtlich oder verdeckt ist oder die deduktive Schlussform unzulänglich angewandt wird. Logische MängelEin Erklärungsversuch, der auf logisch mangelhafter Schlussfolgerung beruht, ist in jedem Fall eine Pseudoerklärung. In der Ableitung des zu erklärenden Phänomens (Explanandum) aus den erklärenden Tatsachen (Explanans) darf keine Inkonsistenz auftreten und keine Lücke bestehen. Das Explanans muss zudem eine vom Explanandum unabhängige Begründung besitzen, da sonst ein Zirkelschluss oder eine petitio principii vorliegen, bzw. die Begründung einen material ungültigen Schluss (vgl. Fehlschluss) darstellt.[2] Daher ist es zumindest problematisch, wenn die Erklärung einen ad hoc gebildeten Begriff verwendet.[3] Keine Erklärungen sind u. a.: Beschreibungen oder Narrationen (da Gesetzesaussagen fehlen); die bloße Anwendung von Begriffen, von Klassifikationsschemata oder Typologien. Ebenfalls unzureichend ist die Verwendung von Analogien. Selbst Orientierungshypothesen sind zu unspezifisch, als dass mit ihrer Hilfe eine Tatsache erklärt werden könnte.[4] Wissenschaftliche Erklärung als normatives KonzeptDie Auswahl der Ansprüche an wissenschaftliche Erklärungen hängt, wie gesagt, von der zugrunde gelegten Theorie wissenschaftlicher Erklärung ab. Das deduktiv-nomologische Modell ist ein klassisches Modell wissenschaftlicher Erklärung. Es sieht vor, dass eine beobachtbare Tatsache als Einzelfall eines wahren, allgemeinen Gesetzes und bestimmten Randbedingungen (beide zusammen bilden das Explanans) logisch abgeleitet wird (Hempel-Oppenheim-Schema). Gemäß diesem Schema wäre die Erklärung eines Auftretens von Blitz und Donner durch eine Entscheidung des Gottes Zeus klar eine Pseudo-Erklärung, da „Es ist der Wille des Zeus, dass es jetzt blitzt“ kein allgemeines Gesetz ist.[5] Allerdings werden auch alternative Modelle wissenschaftlicher Erklärung erwogen und es wird hinterfragt, ob z. B. willentliche Handlungen von Personen durch dieses Modell oder Modifikationen davon erklärbar sind, oder nicht in seinen Anwendungsbereich gehören. Nach Popper soll eine nomologische Hypothese, damit sie bewährt als ein Kausalgesetz akzeptiert werden kann, möglichst viele unabhängige Prüfungen erfolgreich bestanden haben. Eine Aussage, die zu wenig empirische Fälle ausschließt (weil sie zu wenig empirischen Gehalt aufweist), nennt Karl Popper eine Ad-hoc-Aussage.[6] Der Begriff „Pseudo-Erklärung“ bei Hans Reichenbach richtet sich gegen die spekulative Philosophie, an deren Stelle eine wissenschaftliche treten soll.[7] Unschärfe des Begriffs der Pseudo-ErklärungWas wissenschaftlich eine befriedigende Erklärung darstellt und/oder was zulässige Beobachtungsdaten sind und nach welchen Kriterien darüber zu entscheiden sei, wird je nach metatheoretischer Position innerhalb der Wissenschaftstheorie, Methodologie oder Erkenntnistheorie sehr unterschiedlich bestimmt.[8] Dies gilt insbesondere, wenn man wie in der Unterscheidung von nomothetischer und idiographischer Forschung zwischen systematisch erklärenden Wissenschaften einerseits und historisch beschreibenden andererseits grundsätzlich eine Trennungslinie zu ziehen gedenkt. Eine Erklärung „scheinbar“ zu nennen, setzt voraus, dass man weiß, wie eine „richtige“ Erklärung auszusehen hat. Dies genau zu bestimmen, setzt aber eine bestimmte Metatheorie voraus, die festsetzt, was als „richtige Erklärung“ bezeichnet werden darf. Der Nachweis eines logischen Fehlers setzt außerdem eine befriedigende und auch als solche anerkannte logische Rekonstruktion eines Erklärungsversuches voraus. Wenn ein theoretischer Text durch ein Axiomensystem formalisiert wird, ist nicht immer leicht zu bestimmen, was davon eine nomologische Hypothese oder was davon eine Definition (also eine analytische Aussage) darstellt.[9] Ein jeder Erklärungsversuch kann demnach in unterschiedlichster Weise formalisiert werden. Und wenn eine bestimmte Formalisierung inkonsistent ist, sagt dies noch nichts aus über die logische Wahrheit von anderen möglichen Versionen. Es ist auch denkbar, dass theoretische Begriffe, die an und für sich nicht beobachtbar und/oder messbar sind, sowie Fiktionen (also genau genommen empirisch falsche Aussagen) in den empirischen Wissenschaften durchaus eine für die Erkenntnis fruchtbare Rolle spielen.[10] Man spricht in diesem Zusammenhang von „Begriffsinstrumenten“, etwa bei der fiktiven Kraft in der Physik, bei Dispositionen oder beim Idealtyp nach Max Weber in der Soziologie. Neuerdings wird die Erkenntnisabsicht von verschiedenen Autoren reduziert auf „Erklärungen im Prinzip“ oder durch einen „kausalen Mechanismus“.[11] Es ist auch bei manchen Forschungsmethoden, wie etwa der Simulationsmethode, umstritten, ob bzw. unter welchen Bedingungen hierdurch eine „echte“ Erklärung erzielt werden kann.[12] Funktionalistische ErklärungenOb funktionalistische Erklärungen wissenschaftlich im Strengen Sinn sein können, ist eine umstrittene Frage. Eine „funktionalistische Erklärung“ leitet gemäß Ernest Nagel die Existenz eines Systemelementes daraus ab, dass x für das Funktionieren des Systems S notwendig sei. Indessen stößt man beim logischen Rekonstruieren des zugrunde liegenden Erklärungsschemas[13] bei Funktionalisten auf die Verwendung undefiniert gelassener zentraler Bezugsbegriffe, wie etwa „Überleben der Gesellschaft“ o. ä. Derlei Argumentation läuft unter der Vorgabe des Hempel-Oppenheim-Schemas auf das Benutzen einer verdeckten Tautologie (covert tautology[14]) hinaus. Wenn unter „strukturell-funktionale Methode“ verstanden wird, beliebige, zum untersuchten Objekt gehörende Beziehungen zu erklären, indem man den Platz dieses Objekts innerhalb der Wechselwirkungsbeziehungen des übergeordneten Systems bestimmt,[15] so ist gefordert, diese Systembeziehungen (etwa in einem Modell) so zu spezifizieren, dass sie nachprüfbar werden. Beispiele für ScheinerklärungenBeispiel für einen Ad-hoc-BegriffMolière bringt in einem seiner Lustspiele[16] ein berühmt gewordenes Beispiel, womit er die Unwissenschaftlichkeit der damaligen Medizinerausbildung anprangert:[17]
Da die „Einschläferungskraft“, die Opium angeblich besitzt, sich nur daran zeigt, dass die Einnahme von Opium einschläfert, also auf keine Tatsache verweist, die unabhängig vom Explanandum feststellbar wäre, beruht die angebliche Erklärung auf einer petitio principii. Beispiel: InstinktFrüher wurde in der Psychologie jegliche Art von menschlichen Aktivitäten dadurch zu erklären gesucht, dass diese einer inneren Ursache folgen, welche eben zu diesen Handlungen antreibe. Instinkt-Theorien ziehen dafür angeborene Mechanismen heran: Der Jäger jagt, weil er einem Jagdinstinkt folgt. Trieb-Theorien behaupten Energien, die der Spezies Mensch eigen seien und zu entsprechenden Handlungen führten: Der Sammler sammelt, weil er einem Sammeltrieb folgt. Derlei „Erklärungen“ beschreiben das zu erklärende Verhalten lediglich mit anderen Worten; darüber hinaus leisten sie nichts.[20] Latente BedürfnisseIn der Wirtschaftswissenschaft wird die These von der Konsumentensouveränität häufig mit dem Argument verteidigt, dass ein von Unternehmen neu geschaffenes Angebot bislang „latente“ Bedürfnisse der Verbraucher befriedige. Die Erklärung ist in dieser Form empirisch nicht nachprüfbar.[21] Denn bevor die Verbraucher nicht das betreffende Produkt gekauft haben, lassen sich diese verborgenen Bedürfnisse nicht feststellen. Die von der betreffenden Theorie behaupteten ursächlichen Bedingungen müssen logisch und empirisch-operational unabhängig von der zu erklärenden Handlung ermittelt werden können. Wird die zu erklärende Handlung als Indikator für ihre eigene Ursache genommen, dreht sich die Argumentation im Kreise.[22] Beispiel: Funktionalistische SchichtungstheorieIn der Soziologie erklärt die funktionalistische Schichtungstheorie die Tatsache, dass die Mitglieder der Oberschicht ein höheres Einkommen beziehen damit, dass diese eine entsprechend wichtigere Funktion für die Gesellschaft erfüllen. Wie wichtig eine Funktion für die Gesellschaft ist, wird indes dadurch ermittelt, wie hoch das Einkommen ist, das dieselben „Leistungsträger“ beziehen. Damit liegt ein Zirkelschluss vor.[23] Beispiel: Erwartungen in der KonjunkturtheorieNach Joseph A. Schumpeter führt die explizite oder implizite Verwendung von Erwartungen oder „Antizipationen“ der Wirtschaftssubjekte als exogene Variable in einem Konjunkturmodell zu einer Pseudo-Erklärung. Denn derlei psychische Faktoren seien Teil des Wirkungsmechanismus des Wirtschaftsprozesses, welcher insgesamt im Konjunkturmodell abgebildet werden sollte, und damit endogene Variable. Es sei deswegen methodologisch nicht zulässig, diese psychischen Tatbestände als Ursachen zur Erklärung des Modellgeschehens heranzuziehen.[24] Nach Oskar Morgenstern kommt der mehr oder minder vollkommenen Voraussicht der Wirtschaftssubjekte in der Konjunkturtheorie eine erhebliche, „bis jetzt noch keineswegs geklärte Rolle“ zu.[25] Einzelbelege
WeblinksLiteratur
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