Peloneustes
Peloneustes ist eine Gattung ausgestorbener Meeresreptilien aus der Gruppe der Pliosaurier (Pliosauroidea) innerhalb der Plesiosaurier (Plesiosauria). Die einzige heute noch anerkannte Art der monotypischen Gattung ist Peloneustes philarchus (Seeley, 1869) aus der Oxford-Clay-Formation von England. ForschungsgeschichteErste Fossilfunde von Peloneustes wurden Mitte des 19. Jahrhunderts vom Geologen Henry Porter in einer nicht näher bezeichneten Tongrube der Oxford-Clay-Formation bei Peterborough in der Grafschaft Cambridgeshire in England geborgen. Adam Sedgwick erwarb die fossilen Überreste 1866 für das damalige „Woodwardian Museum“ (heute Sedgwick Museum of Earth Sciences – CAMSM) der University of Cambridge, wo sie noch heute unter der Inventarnummer CAMSM J.46913 aufbewahrt werden.[1] Die offizielle Erstbeschreibung des Holotypus CAMSM J.46913 erfolgte 1869 durch Harry Govier Seeley unter der Bezeichnung Plesiosaurus philarchus,[2][3] wobei diese Beschreibung kaum mehr als eine Auflistung der erhaltenen Skelettelemente umfasste.[1] Weiteres Belegmaterial aus der, damals noch in Privatbesitz befindlichen, Sammlung des Amateur-Paläontologen Alfred Nicholson Leeds veranlasste Richard Lydekker 1888 dazu die Art in die, bereits 1841 durch Hermann von Meyer aufgestellte und heute als nomen dubium verworfene, Gattung Thaumatosaurus zu stellen.[3][4] Kurz darauf revidierte Lydekker jedoch seine Einschätzung und stellte das bis dahin bekannte Belegmaterial in eine eigene Gattung Peloneustes. Gleichzeitig erweiterte er die Gattung um eine zweite Art aus der Kimmeridge-Clay-Formation, wobei er Belegmaterial, welches Seeley bereits 1869 als Plesiosaurus sterrodeirus bezeichnet hatte mit einem 1871 von John Phillips als Pleiosaurus aequalis beschriebenen Oberschenkelknochen kombinierte.[5] In einer weiteren Arbeit aus demselben Jahr legte Lydekker für diese zweite Art die Bezeichnung Peloneustes aequalis fest und ignorierte damit die ältere Bezeichnung Seeleys.[6] 1890 stellte Lydekker ein weiteres durch Seeley aufgestelltes Taxon (Pliosaurus evansi) in die Gattung Peloneustes.[7] Seeley lehnte seinerseits diese Gliederung ab und sah 1892 keinen Grund Peloneustes als eigenständige Gruppe von der Gattung Pliosaurus abzugrenzen.[8] Die gesamte frühe Forschungsgeschichte der Gattung Peloneustes gilt als bezeichnend für den Konflikt zwischen Seeley und Lydekker, die es beide kategorisch ablehnten die Gattungs- und Artbezeichnungen des jeweils anderen anzuerkennen.[3] Im Mai 1890 verkaufte Leeds seine ganze bis dahin aufgebaute Sammlung an das British Museum (Natural History) (BMNH; heute NHMUK). Rund fünf Tonnen Fossilien (inklusive Verpackungsmaterial) wurden zwischen 1890 und 1893 in vier Chargen an das Museum geliefert. Leeds hatte jedoch keineswegs vor seine Sammlungstätigkeit aufzugeben, sondern begann umgehend mit dem Aufbau einer zweiten Sammlung, wobei es dem BMNH gelang für sich ein Vorkaufsrecht auf besonders spektakuläre Funde zu erwirken. Im Gegenzug vermittelte das Museum 1897 einen für Leeds vorteilhaften Kontakt zu dem in Bonn ansässigen Fossilienhändler Bernhard Stürtz, der von Leeds weitere Fossilien für kontinentaleuropäische Museen erwarb.[11] Auf diese Weise gelangten je ein nahezu vollständiges Skelett von Peloneustes philarchus an das BMNH und an die Paläontologische Sammlung der Universität Tübingen, wo sie jeweils 1910–1913 durch Charles William Andrews (London)[9][10] und 1913 durch Hermann Linder (Tübingen)[12] beschrieben wurden. Linder stellte im Rahmen seiner Beschreibung auf Basis eines weiteren aus der Oxford-Clay-Formation stammenden Unterkiefers das Taxon Peloneustes philarchus var. spatyrhynchus auf.[12] Zudem bekräftigte er die Zuordnung von zwei Rückenwirbeln aus dem „Wealden“ von Norddeutschland, die 1905 durch Ernst Koken als Plesiosaurus kanzleri beziehungsweise Plesiosaurus (?Peloneustes) kanzleri beschrieben worden waren,[13] zur Gattung Peloneustes.[12] 1948 wurde die Gattung um eine weitere Art (Peloneustes irgisensis) aus dem Kimmeridgium des Wolga-Beckens ergänzt.[1][3] Eine, Mitte des 20. Jahrhunderts bereits dringend notwendig gewordene, Revision der Gattung wurde 1960 von Lambert Beverly Tarlo veröffentlicht. Tarlo identifizierte die Taxa Peloneustes evansi und Peloneustes philarchus var. spatyrhynchus als Synonyme von Peloneustes philarchus. Die von Seeley als Plesiosaurus sterrodeirus (Peloneustes sterrodeirus oder Peloneustes aequalis nach Lydekker) beschriebenen Fossilien wurden als Pliosaurus brachydeirus zugehörig erkannt. Das auf einem einzelnen Oberschenkelknochen basierende Taxon Pleiosaurus aequalis (Peloneustes aequalis nach Lydekker) wurde als nomen dubium verworfen. Plesiosaurus (?Peloneustes) kanzleri wurde als Vertreter der Elasmosauridae identifiziert.[1][3] In Bezug auf Peloneustes irgisensis war sich Tarlo unsicher, vermutete jedoch, dass das Taxon der Gattung Pliosaurus zuzuordnen sei.[3] Diese Einschätzung wurde im Jahr 2000 durch Glenn W. Storrs und Co-Autoren bestätigt.[14] Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wurden erneut Fossilfunde vorübergehend der Gattung Peloneustes zugeordnet. Ein vermeintlicher Fund aus dem Posidonienschiefer (Toarcium) von Holzmaden wurde später als Hauffiosaurus zanoni erstbeschrieben. Ein zweiter Fund aus dem Oxfordium von Kuba, der ursprünglich als nicht näher bestimmbare Art der Gattung Peloneustes (Peloneustes sp.) klassifiziert worden war, wurde 2009 als Gallardosaurus iturraldei beschrieben. Weitere, als Peloneustes sp. beschriebene Funde aus dem Callovium von Frankreich sowie dem Oxfordium von Polen und Russland, wurden in einer weiteren Revision durch Hilary F. Ketchum und Roger B. J. Benson 2011 als nicht der Gattung Peloneustes zuordenbar gewertet. Damit war Peloneustes wieder eine monotypische Gattung mit Peloneustes philarchus als einziger Art.[1] In einer weiteren, 2022 veröffentlichten Arbeit lehnten dieselben Autoren die vollständige Synonymisierung von Peloneustes evansi mit Peloneustes philarchus ab und werteten zumindest den Holotypus von Peloneustes evansi in der Form von „Peloneustes“ evansi als eigenständiges Taxon. Dabei wurde der unklaren systematischen Stellung, im Sinne einer „Offenen Nomenklatur“, durch das Ergänzen von Anführungszeichen um den Gattungsnamen Rechnung getragen.[15] Fossilbeleg und AlterszuordnungAlle Fossilfunde, die sich eindeutig Peloneustes philarchus zuordnen lassen, stammen aus dem Peterborough-Member der Oxford-Clay-Formation in den englischen Grafschaften Cambridgeshire und Bedfordshire. Peloneustes philarchus ist nicht der einzige Pliosaurier dieser Formation, zählt aber zu den häufigsten Arten. Es sind Überreste von mindestens 21 Individuen bekannt.[1] Von den insgesamt 12 bekannten Schädeln sind die meisten durch die Gebirgsauflast dorsoventral zerdrückt. Die einzige Ausnahme ist das Exemplar NHMUK R4058 mit einem dreidimensional gut erhaltenen Schädel.[1] Das Peterborough-Member der Oxford-Clay-Formation umfasst die Ammoniten-Zonen Sigaloceras calloviense (Subzone Sigaloceras enodatum) bis Peltoceras athleta (Subzone Kosmoceras phaeinum) der regionalen biostratigraphischen Gliederung. Dies entspricht chronostratigraphisch dem späten Untercallovium bis frühen Obercallovium.[1][15] Das gesamte Callovium entspricht einem Absolutalter von 166,1–163,5 Ma. MerkmalePeloneustes philarchus konnte eine Gesamtkörperlänge von 4–5 Meter erreichen.[16] Der Körperbau entsprach dem klassischen Muster „pliosauromorpher“ Plesiosaurier mit einem relativ großen Schädel, kurzem Hals, fassförmigem Rumpf und verhältnismäßig kurzem Schwanz. Alle vier Gliedmaßen waren zu flügelartigen Flossen umgebildet, wobei die hinteren Flossen typischerweise größer waren als die vorderen.[17][18] Der langgestreckte und niedrige Schädel ist mit rund 18 % der Gesamtkörperlänge fast ebenso lang wie der Hals (19 % der Gesamtkörperlänge).[1][18] 58–59 % der Gesamtschädellänge entfallen auf den Bereich vor den Orbitae („longirostrine Schädelmorphologie“).[1][15] Das Frontale hat sowohl Anteil am Rand der Orbita als auch der externen Nasenöffnung. Das Gaumenbein steht in Kontakt mit der inneren Nasenöffnung. Das Parasphenoid liegt mit einem messerförmigen Fortsatz an der ventralen Fläche des Gaumens frei. Der Oberkiefer trägt sechs Zahnpaare im Bereich der Prämaxilla und 30–31 weitere Zahnpaare im Bereich der Maxilla. Zwischen prämaxillaren und maxillaren Zähnen liegt ein schwach ausgeprägtes Diastema.[1] Die Symphyse zwischen den beiden zahntragenden Unterkieferknochen liegt dorsal auf einer schmalen, erhöhten Plattform (Autapomorphie der Gattung). Die Symphyse ist stark verlängert und nimmt etwa ein Drittel der gesamten Unterkieferlänge ein. Das Coronoid hat Anteil am Aufbau der Symphysenregion. Im Bereich der Unterkiefersymphyse liegen 13–15 Zahnpaare. Der gesamte Unterkiefer trägt 36–44 Zahnpaare. Die Alveolen 2–7 sind deutlich größer als jene der weiter hinten liegenden Zähne.[1] Bei einigen Exemplaren von Peloneustes philarchus ist der Unterkiefer im Bereich der Symphyse löffelförmig verbreitert, was Linder 1913 dazu veranlasst hat, die, heute nicht mehr anerkannte, Unterart Peloneustes philarchus var. spatyrhynchus aufzustellen.[3][12] Der Symphysenbereich des Unterkiefers erreicht dabei etwa an der Position der Zahnpaare 5–6 seine größte Breite. Der Grad der Ausprägung dieser Eigenheit scheint mit der Größe des jeweiligen Individuums zu korrelieren.[1] Die Zähne sind kreisförmig im Querschnitt, kegelförmig und distal nach hinten gekrümmt. Der Zahnschmelz ist allseitig mit schmalen, längsverlaufenden Graten versehen, die auf der konkaven Seite des Zahnes etwas dichter beieinander stehen als auf der konvexen Seite. Die Grate beginnen an der Basis des Zahnschmelzes und enden meist auf der Hälfte bis zu zwei Drittel des Weges zur Zahnspitze. Nur wenige Grate reichen bis zur Zahnspitze.[1] Der Hals wird von 21–22 Wirbeln aufgebaut.[10] Die Länge der Wirbelkörper übertrifft nur knapp die Hälfte ihrer Höhe und Breite. Auf der ventralen Seite der Halswirbelkörper ist ein deutlich ausgeprägter Kiel erkennbar.[3] Die Dornfortsätze der Halswirbel sind lateral abgeflacht.[1] Systematik
Das nebenstehende Kladogramm zeigt in stark vereinfachter Form das Ergebnis einer phylogenetischen Analyse der Pliosauridae, die 2023 im Rahmen der Erstbeschreibung von Lorrainosaurus keileni (Brachaucheninae) erstellt wurde.[19] Peloneustes zeigt sich in dieser Analyse innerhalb der Gruppe der Thalassophonea mit Eardasaurus in einer gemeinsamen Klade, die sich basal von den übrigen Vertretern der Thalassophonea abspaltet und eine Position als deren Schwestergruppe einnimmt. Die Gruppe der Thalassophonea wurde 2014 durch Benson und Druckenmiller aufgestellt[20] und unterscheidet sich durch die verhältnismäßig großen Schädel, kräftige Bezahnung, kurze Hälse und teilweise enorme Körpergröße von den basaleren Vertretern der Pliosauridae, wie etwa Arminisaurus, mit Gesamtkörperlängen von maximal 4 m, längeren Hälsen und relativ kleinen Schädeln mit filigraneren Zähnen.[19] Die ursprünglich als möglicher Vertreter der Gattung Peloneustes interpretierte Gattung Hauffiosaurus findet sich ebenfalls unter diesen basalen Vertretern der Pliosauridae. Gallardosaurus iturraldei, zunächst als Peloneustes sp. bezeichnet und später als Schwestertaxon zu Peloneustes interpretiert,[21] zeigt sich in dieser Analyse zwar als Vertreter der Thalassophonea, aber in einer Position weit abseits der Klade Peloneustes + Eardasaurus.[19] Das Taxon „Pliosaurus“ andrewsi liegt in dieser, und vielen anderen phylogenetischen Analysen, abseits der anderen Vertreter der Gattung Pliosaurus. Der Gattungsname wird deshalb, im Sinne einer „Offenen Nomenklatur“, unter Anführungszeichen gesetzt.[15][19] PalökologieDie überwiegend pelitischen Sedimente der Oxford-Clay-Formation wurden in einem flachen Epikontinentalmeer, das im Mitteljura Teile Europas bedeckte, abgelagert. Die Paläobreite des Ablagerungsraumes wird mit etwa 35° Nord angegeben. Nach Süden hin bestand eine Verbindung zum Tethys-Ozean und nach Norden existierten auch Verbindungen zu borealen Gewässern.[22] Sedimentologische und paläontologische Befunde (häufige Funde fossiler Treibhölzer und vereinzelt eingespülte Kadaver landlebender Wirbeltiere) belegen die Existenz nahegelegener größerer Landmassen.[23] Das Peterborough-Member, in der älteren Literatur auch als „Unterer Oxford-Clay“ bezeichnet,[23] bildet die liegendsten Anteile der Oxford-Clay-Formation und unterscheidet sich von den hangenderen Schichtgliedern (Stewartby-Member, Weymouth-Member) insbesondere durch seinen hohen Gehalt an organischem Kohlenstoff.[24] Die TOC-Werte der einzelnen Horizonte variieren und liegen meist bei 4–10 %,[25] können in einigen Fällen aber auch bis zu 16,1 % erreichen.[26] Die Wassertiefe im Ablagerungsraum des Peterborough-Members wird auf maximal 50 m geschätzt. Stabile Sauerstoffisotope (δ18O-Werte) schalenbildender Weichtiere des Peterborough-Members, wie etwa der Ammoniten-Gattung Kosmoceras, weisen auf eine mittlere Meeresoberflächentemperatur von 19–21 °C hin.[22][25] Diese Eckdaten entsprechen im Wesentlichen den rezenten Bedingungen im Golf von Tunis.[22] Am Meeresgrund herrschten wechselnde Bedingungen. Die TOC-reichsten Sedimente wurden in Zeiten mit geringer Sauerstoffsättigung abgelagert. Unter weniger hypoxischen Bedingungen bildeten sich Sedimente mit geringeren TOC-Gehalten.[27] Fossile Treibhölzer und anderer Detritus von Landpflanzen sind im Peterborough-Member zwar keine Seltenheit,[23][28] die Hauptmasse des organischen Kohlenstoffs stammt jedoch von marinem Phytoplankton.[27] In den oberen, gut durchlüfteten Bereichen der Wassersäule herrschten dauerhaft ideale Bedingungen für große Mengen an Primärproduzenten, dem Nannofossil-Befund nach hauptsächlich Vertreter der Coccolithophorida und Dinoflagellaten. Diese bildeten die Grundlage für eine komplexe Nahrungskette mit hoher Artenvielfalt. Neben zahlreichen Wirbellosen sind aus dem Peterborough-Member rund 50 Taxa von Fischen, darunter etwa der riesenhafte, vermutlich planktivore Knochenfisch Leedsichthys problematicus, und mehrere Meeresreptilien bekannt.[25] Alleine die Gruppe der Pliosaurier ist, neben Peloneustes philarchus, noch mit mindestens fünf weiteren Gattungen (Eardasaurus, Liopleurodon, „Pliosaurus“ andrewsi, Marmornectes und Simolestes) vertreten.[15][25][29] Die meisten Vertreter der Thalassophonea, wie etwa Liopleurodon, werden als carnivore Spitzenprädatoren interpretiert, die auf das Erlegen großer Beutetiere spezialisiert waren. Die Bezahnung und die schlanke, longirostrine Schädelmorphologie von Peloneustes philarchus gleichen jedoch eher jener von basalen Vertretern der Pliosaurier, wie etwa Hauffiosaurus, oder den, nur entfernt verwandten, piscivoren Polycotylidae, so dass für Peloneustes ebenfalls eine Spezialisierung auf eher kleinere, schnellschwimmende Beute vermutet werden kann.[25][30] Andrews hatte bereits 1910 und 1913 zwischen den Rippen des Peloneustes zugeschriebenen Exemplars BMNH R3317 eine Konkretion beschrieben und als fossilen Mageninhalt interpretiert. Die Konkretion enthielt, neben Gastrolithen, zahlreiche Fanghäkchen von den Armen Zehnarmiger Tintenfische.[10][31] Einige Autoren halten dementsprechend für Peloneustes auch eine teutophage, auf Kalmare spezialisierte, Ernährungsweise für möglich.[25] WeblinksCommons: Peloneustes – Sammlung von Bildern
Einzelnachweise
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